Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Soziale Bewegung in der Bretagne (Teil 1)
D
urchmixte Gemengelage – mit starkem rechtem Einschlag

11-2013

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[ Teil 1 von 2. Dieser Teil beruht auf einem Artikel auf dem Stand vom 06.11.2013, damals erschienen bei Jungle World und (in ausführlicherer Fassung) bei Labournet.de. Er enthält einige der wichtigsten Hintergründe zum derzeitigen Geschehen. Den aktuellen Teil 2 – der auf neuestem Stand ist, aber weniger stark auf alle Hintergründe eingeht - gibt es in dieser Ausgabe.]

Stand: 06. November 13

Bewegungen, die von ihrer Form her besonders militant auftreten, sind deswegen nicht unbedingt inhaltlich radikal. Oft ist bekanntlich das Gegenteil der Fall. Ein besonders auffälliges Beispiel zeigt die soziale Bewegung, die seit einigen Tagen die westfranzösische Region Bretagne durchzieht. Sie fand ihren Ausdruck unter anderem in einer Demonstration von, je nach Angaben, zwischen 15.000 und 30.000 Menschen am vergangenen Samstag, den 02. November 13 in der westbretonischen Bezirkshauptstadt Quimper. Eine weitere Demonstration, die einen inhaltlichen Gegenpunkt setzen und auf größerer politischer Klarheit basieren sollte, zog gleichzeitig in Carhaix, am anderen Ende des Départements, rund ein Zehntel so viele Teilnehmer/innen an.

In Quimper wurde unterdessen zum Auftakt des Protestzugs versucht, die Präfektur zu besetzen, was durch die Polizei unter Einsatz von Tränengas verhindert wurde. Und in der Nacht vom Montag, den 04.11. zum Dienstag, den 05.11.13 wurde die Unterpräfektur von Morlaix, eine nachgeordnete Bezirksverwaltung, für einige Stunden besetzt. Durch protestierende Arbeiter, die um den Verlust ihrer Arbeitsplätze fürchten, aber mit Unterstützung durch ihren „Arbeitgeber“. Der Generaldirektor des Unternehmens Tilly-Sabco, Daniel Sauvaget, wurde unterdessen im Inneren des Verwaltungssitzes empfangen - und sprach im Fernsehen im Namen seiner Beschäftigten. Bevor die Besetzung auf seine Aufforderung hin wieder beendet wurde.

Aber auch das Demontieren oder Niederbrennen von bis zum Redaktionsschluss insgesamt vier Mautstellen, an denen die künftige „Ökosteuer“ (écotaxe) auf Waren transportierende LKWs erhoben werden soll, und etwa zehn Ablesevorrichtungen für den LKW-Verkehr steht mit den - politisch eher diffusen -Protesten im Zusammenhang. Die bislang letzte Mautstelle wurde am Sonntag, den 03. November 13 in Lanrodec, im Norden der Bretagne entlang der Straße von Saint-Brieuc nach Brest, durch das Abstellen von brennenden Autoreifen und Müllcontainern zerstört.

So dramatisch wie bei bewaffnet agierenden Bewegungen, die trotz eines progressiven Anspruchs zugleich autoritär und/oder inhaltlich regressiv sind, fällt das Problem nicht aus. Aber es ist schwerwiegend genug, mischen sich doch scheinbar in ein und derselben Protestbewegung soziale Antagonismen und prinzipiell weit auseinanderstrebende Anliegen.

Anlässe & Anliegen der Mobilisierung

Unmittelbare Gründe für die derzeitige Mobilisierung in der Bretagne, die in jüngerer Zeit zu den krisengeschüttelten Regionen zählt, sind einerseits die ursprünglich für Januar 14 geplante Einführung der Ökosteuer, und andererseits die drohenden massenhaften Entlassungen vor allem in der Lebensmittelindustrie. 8.000 Menschen drohen unmittelbar, ihre Jobs zu verlieren. Im Hintergrund steht jedoch eine andere, tieferliegende Ursache: die Krise des auf als „produktivistisch“ bezeichneten, also auf möglichst intensiven und Geld einbringenden Betrieb ausgelegten, jedoch in jeglicher Hinsicht kurzfristig konzipierten Agrarmodells.

Die Bretagne war bis dahin berüchtigt für die Nitratverschmutzung ihrer Gewässer aufgrund von Überdüngung und überintensiver Viehzucht. Doch sie exportierte „auf Teufel kaum raus“ – ins übrige Frankreich, in die EU, aber auch auf internationaler Ebene. Schweinefleisch niedriger Qualität, dessen Produktion durch die EU hochgradig subventioniert wurde und nur deswegen gewinnbringend erwirtschaftet werden konnte, oder Hühnerfleisch aus Massentierhaltung wurden massenhaft ausgeführt. Im französischsprachigen Afrika, wo die örtliche Hühnerfleischerzeugung mit diesem vermeintlichen, allerdings durch Subventionen erleichterten, Produktivitätsniveau nicht mithalten konnte und deswegen zahllose Bauern wegkonkurriert wurden, aber vor allem der Nahe und Mittlere Osten waren wichtige Absatzmärkte.

Nun hat jedoch die Europäische Union ihre Subventionen für die Ausfahrproduktion abgebaut, und seit Juli 13 die finanziellen EU-Beihilfen für Tiefkühlhühner abgeschafft. Eine Maßnahmen, die sich bereits seit 2005 angekündigt hatte und die im Jahr 2010 beschlossen wurde. Um den Drecksfraß – es geht nichts über einigermaßen gesunde Freilandhühner ...- wäre es EIGENTLICH nicht schade. Dies führt nun aber zu Existenzangst bei den Lohnabhängigen, die bislang dort beschäftigt waren. Aber auch zur Forderung nach neuen, dieses Mal staatlichen Subventionen zur Kompensation der ausfallenden EU-Zuschüsse seitens der Unternehmen. Vom Anspruch auf gesellschaftlich sinnvolle und längerfristig angelegte Produktion, wie es auch durch die Gewerkschaften gefordert wird, ist dieses Herangehen denkbar weit entfernt. Die Lohnabhängigen sind dabei, da durch das Arbeitsplatzargument erpressbar, die Geiseln der Unternehmen in der Agrarindustrie. Tilly-Sabco hatte angekündigt, ab Anfang 2014 den Export einzustellen und Beschäftigte auf die Straße zu setzen.

Ein anderes Unternehmen, das in der Zentralbretagne tiefgekühlten Lachs unter Aluminiumfolie abpackt und vertreibt – MarineHarvest, die Niederlassung eines norwegischen Konzerns -, kündigte zuvor ebenfalls über 400 Entlassungen an; vgl. http://www.lsa-conso.fr/ . Hier handelt es sich allerdings nicht um einen Krisenfall, sondern um ein profitables Unternehmen, es erwirtschaftete im ersten Halbjahr 2013 bereits 65 Millionen Gewinn (und im vergangenen Jahr 111 Millionen; vgl. http://www.letelegramme.fr). Dies führt zu massiven Widerständen vor Ort. (Vgl. zum gestrigen Tag: http://www.rtl.fr/ )

Dieses Thema stand zunächst im Vordergrund, als sich eine Protestmobilisierung in der westfranzösischen Region abzuzeichnen anfing. Es ist auch in ganz Frankreich hochaktuell. In ihrer Ausgabe vom Mittwoch, den 06. November 13 – welche am Dienstag Abend in Paris erschien – schreibt die Pariser Abendzeitung Le Monde auf der Titelseite: „1.000 Sozialpläne im laufenden Jahr“, also eintausend Massenentlassungen.

Erst später kam ein zweites Mobilisierungsthema hinzu, das nunmehr ziemlich andere Kreise in Bewegung versetzte und es ihnen erlaubte, dem Protest eine andere Richtung zu geben.

Ökosteuer

Hinzu kommt nun die ursprünglich für Januar 14 programmierte Einführung der Ökosteuer. Diese soll, nach dem Verursacherprinzip, besonders umweltschädliche Aktivitäten besteuern, wie etwa den Transport von Waren durch LKWs statt über die Bahn. Die Idee ist, dass die Verursacher von Umwelt- oder Klimaschäden und dadurch langfristig anfallenden Kosten zur Kasse gebeten werden. Ihr wird nun vorgeworfen, der Bretagne Konkurrenznachteile zu bescheren; aus geographischen Gründen, weil ihre Halbinselform die Transportwege ins übrige Frankreich und Europa verlängere, aber auch wegen des relativ schlechten Ausbaus des Bahnnetzes.

Die Idee für die Ökosteuer stammt vom Grenelle de l’environnement, einem Kongress zur Umweltpolitik, den die Rechtsregierung unter Präsident Nicolas Sarkozy im Herbst 2007 und der einen Konsens zwischen Industrie, Umweltverbänden und öffentlicher Hand stiften sollte. Bereits vor drei Jahren sollte die Steuer eingeführt werden, zum 01. Juli 2010, musste damals jedoch um mehrere Jahre verschoben werden: Ein Teil des konservativen Blocks fühlte seinen Leidensdruck durch „diesen ganzen neumodischen Kram, von Umweltpolitik bis Diskriminierungsbekämpfung“ wachsen und revoltierte deswegen gegen die Maßnahme. Sarkozy gab im März 2010 gegenüber den Abgeordneten des damaligen Regierungslagers nach und verschob die Einführung der Ökosteuer. (Vgl. Frankreich nach den Regionalparlamentswahlen )

PPP: Goldman Sachs bedankt sich

Aber auch konkrete Aspekte an ihr blieben umstritten. Einerseits war ausgerechnet den größten Verschmutzern in Gestalt bestimmter Industriezweige eine Ausgleichszahlung gewährt werden, während etwa auf das Auto angewiesene lohnabhängige Pendler mit vagen Versprechungen auf „Sozialausgleich“ vertröstet wurden.

Zum Anderen wurde – im Rahmen einer Public-Privat-Partnership - eine italienische Privatfirma namens Ecomouv’ mit der Einrichtung des Mautsystems beauftragt, die dabei extrem dicke Sonderprofite einfahren kann: 250 Millionen Euro Profit pro Jahr, also über ein Fünftel der Gesamteinnahmen. Ferner wurde ihr eine Zahlung von satten 800 Millionen Euro auch für den Fall, dass der Staat aus dem Projekt aussteigt, zugesichert. Hinter der Firma steht wiederum ein Konsortium mit der besonders umstrittenen Bank Goldman & Sachs, das dabei abkassiert. In Frankreich war es bis dahin seit der Revolution von 1789 offiziell undankbar, dass Privatfirmen mit dem Einsammeln von Steuern beauftragt werden, weil just die Missbräuche privater – damals feudaler – Steuereintreiber erheblich zum Ausbruch der bürgerlichen Revolution beitrugen.

Die außergewöhnlich günstigen finanziellen Bedingungen für die privaten Betreiber hat nun plötzlich, im Nachhinein, die französische politische Klasse in Aufregung versetzt. Auch ein Teil der Konservativen, unter deren Regierung dieser Vertrag damals ausgehandelt wurde, rücken nunmehr von ihm ab. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ und http://www.lemonde.fr/politique/ ) Zu den Konditionen für die Privatfirma Ecomouv’ und zu der Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass der Vertrag unter diesen Bedingungen geschlossen wurde, wird jetzt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt.

Symbolik zweckentfremdet

Auf die Revolten der frühen Bourgeoisie gegen Steuern unter der Monarchie bezieht sich nun auch die Symbolik eines Teils der Protestbewegung. Denn die unzufriedenen Bretonen demonstrieren zum Teil mit roten Zipfelmützen, die erstmals 1675 bei einem Anti-Steuer-Protest auftauchten, jedoch später als bonnet phrygien – oder deutsch „Jakobinermütze“ – unter der Revolution ab 1789 eine Rolle spielten.

Hinter dem bürgerlich-revolutionären Symbol von einest verbirgt sich aber eine politisch ziemlich fatale Mischung. Den Protest bündeln nämlich beileibe nicht (länger) in erster Linie die Gewerkschaften, auch wenn Teile von ihnen mitziehen, um gegen den drohenden Existenzverlust von Tausenden Lohnabhängigen aufzubegehren. Ton angebend sind nunmehr (daneben?) viele kleine und mittlere Unternehmer.

Diese gehen in einem Aufwasch gleichermaßen gegen die Ökosteuer – diese verteuere die Exporte aus der Bretagne und bestrafe dadurch Fuhrunternehmer und Agroindustrie -, gegen angeblich „zu hohe Arbeitskosten“, „zu viele bürokratische und arbeitsrechtliche Zwänge für die Unternehmen“ und für die Anhebung von Subventionen zu ihren Gunsten auf die Straße.

Als bindender Kitt zwischen beiden wirkt mitunter auch die inhaltlich schillernde Gewerkschaftsvereinigung FO (Force Ouvrière, ungefähr „Arbeiterkraft“). FO entstand ursprünglich 1947 als, je nachdem, antikommunistische-antistalinistische Abspaltung von der damals deutlich KP-dominierten CGT. Von Anfang an koexistierten höchst unterschiedliche politische Milieus im neuen Dachverband: Rechte (Gaullisten, ja mitunter Faschisten), Sozialdemokraten, eine bestimmte trotzkistische Strömung, eine bestimmte anarchosyndikalistische Tradition. Das Ganze hielt und hält nur zusammen, weil FO sich vordergründig stets darauf berief, „unpolitisch“ zu sein – um den Preis, auf klare gesellschaftspolitische und konzeptuelle Inhalte zu verzichten. Und dies, während sich seit Jahren ein mafiöse Eigeninteressen entwickelnder Apparat herausbildete. FO kombiniert deswegen seit längerem einen Verbalradikalismus, der die Vereinigung in manchen Augen oberflächlich als „radikale Gewerkschaft“ erscheinen lässt, mit einer Neigung zur Abwesenheit aus jeglicher „politischen“ Mobilisierung – gegen Rassismus etwa – und einer Bereitschaft dazu, in der Praxis auch ziemlich verkommene Abkommen mit dem Arbeitgeberlager zu unterzeichnen. Dieser Hang dazu, verbalen Pseudoradikalismus mit (gelinde ausgedrückt) klassenversöhnlerischen Tendenzen zu kombinieren, ist ein Einfallstor dafür, kruden Bündnissen Tür & Tor zu öffnen.

Neben ihren sozial- und wirtschaftspolitischen Anliegen appelliert die Protestbewegung aber auch das Gefühl einer Bedrohung für die „bretonische Identität“. Dabei handelt es sich traditionell um ein sensibles Thema; die Bretagne wurde dereinst durch eine Königinnen-Hochzeit an Frankreich angegliedert, aber ein Teil der Bevölkerung blieb dieser Angliederung oder ihren Folgen gegenüber immer widerspenstig. Damals zählte auch der Raum um Nantes (die jetzige Region Loire-Atlantique) zur Bretagne, Nantes ist sogar ihre historische Hauptstadt – diese Region wurde endgültig durch ein Dekret des Vichy-Regimes vom 30. Juni 1941, also naturgemäß auf höchst undemokratische Weise, administrativ aus der Bretagne ausgegliedert. Der Grimm über diese „historische Ungerechtigkeit“ wirkt bis heute nach. Zahlreich sind deswegen die Flaggen und Wimpel mit dem regionalen Emblem der Bretagne – schwarzen und weißen Streifen mit einem schwarzen Symbol, einem stilisierten Hermelinfell, das von einem Kreuz herunterhängt – in den Protestdemonstrationen.

Manche Protestierenden oder Unterstützer des Protests vermengen zudem Fragen wie die einer stärkeren Berücksichtigung der „Regionalsprachen“ (Bretonisch, Baskisch) – die durch die EU gefördert wird, jedoch durch den französischen Zentralstaat lange Zeit gebremst wurde – mit denen des sozialen Kampfs im engeren Sinne. Dies sorgt für eine „identitätspolitische“ Auflage des Protests, allerdings nicht direkt im französisch-nationalistischen Sinne, mit dem bretonische „Identitäts“suche erst in Einklang gebracht werden muss. (Im organisierten bretonischen Regionalismus – der manche Vereinigungen aufweist - findet man i.Ü. alles, von linken Strömungen bis zu rechtsextremen Identitätsverteidigern, freilich getrennt voneinander.)

Rechte Aktivbürger

Zu den diversen Schichten des Kleinbürgertums und des so genannten Mittelstands gesellen sich in der aktuellen Protestbewegung beträchtliche Teile der Konservativen, die von der politischen Verantwortung ihrer eigenen frühen Regierung für Beschlüsse etwa zur Ökosteuer nun nichts mehr wissen wollen. Aber auch rechte Bewegungsstrukturen wie die organisierten harten Kerne der Bewegung gegen die Homosexuellenehe vom Frühjahr, die nach wie vor aktiv sind und sich nun zum Teil andere Betätigungsfelder suchten – von der rechten Opposition gegen eine Intervention in Syrien bis zur Teilnahme am Massenprotest in der Bretagne. Nicht zuletzt mischen auch organisierte Rechtsextreme mit, die versuchen, das Wasser des Protests auf ihre Mühlen zu lenken. Bei der Demonstration in Quimper waren etwa einige Dutzend Anhänger des außerparlamentarischen neofaschistischen Bloc identitaire dabei, die ein großes Transparent mit der Aufschrift „François Hollande, Rücktritt!“ ausrollten. Sie bildeten eine Minderheit in der Demonstration, wurden jedoch auch nicht vertrieben.

Arbeiterbewegung gespalten

Linke unterschiedlicher Couleur, von Trotzkisten bis zu linken Grünen, und einige Gewerkschaften – etwa Seeleute und Mitarbeiter von Agrarunternehmen aus der CGT - nahmen zum Teil ebenfalls an der Demonstration teil, „um die Arbeiter nicht den Rechten in die Arme zu treiben“. Eine Teilnehmerin aus diesem Spektrum spricht jedoch gegenüber dem Verfasser dieser Zeilen von der „schlimmsten Demonstration in meinem Leben“. Das linke und gewerkschaftliche Spektrum war ferner gespalten: Mehrere Gewerkschaften, darunter die Mehrheit der CGT, die linke Basisgewerkschaft SUD-Solidaires und auch die linke Agrargewerkschaft Confédération paysanne, führten eine zeitgleiche getrennte Demonstration in Carhaix durch. Die Bezirkshauptstadt Quimper hat 65.000 Einwohner/innen, Carhaix ihrer 8.000.

Andere Teile der Linken und der Gewerkschaften kritisierten jedoch diese Separatdemonstration, die erheblich kleiner ausfiel, da sie politisch nicht verständlich sei und zudem viele von Jobverlust bedrohte Lohabhängigen „den Rechten und ihrer Demagogie überließen“. Ferner behaupteten diejenigen Linken, die gegen die Extra-Demo in Carhaix waren und in Quimper präsent sein (dort allerdings den Rechten „etwas entgegensetzen“) wollten, dass „die Gewerkschaftsbürokratien – zusammen mit Sozialdemokratie, Grünen und KP – durch ihre Kritik an der Quimper nur ihre bisherige Passivität überdecken wollten, die die rechten Hegemonieversuche über die Protestbewegung erst möglich machte“. – Und es wurde bemängelt, die CGT kritisiere „eine klassenübergreifende (interclassiste) // klassenversöhnlerische Demonstration in Quimper“, habe aber bislang selbst klassenversöhnlerische Abkommen mit dem örtlichen Arbeitgeberlager unterschrieben; so sieht es jedenfalls folgende Quelle: http://www.twitlonger.com/show/n_1rqubn9 Ferner wird angegeben, hinter der Mobilisierung nach Carhaix stehe auch der dortige Bürgermeister, Christian Troadec: ein parteiloser Linker, der tatsächlich eine gewisse Rolle in den Mobilisierungen spielt (am gestrigen Tag stellte der Regierung in Paris ein „Ultimatum“ für die definitive Abschaffung der Ökosteuer für die Region Bretagne). Und dem es lt. Auffassung der Kritiker/innen vor allem auch um seine Wiederwahl bei der Kommunalwahl im März 14 gehen soll.

Der Linkspolitiker und letztjährige Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, unflätige Sprüche zählen zu seinen Markenzeichen, wetterte gleichzeitig gegen „die Deppen“ (vgl. http://www.atlantico.fr/ ), die an der Demo in, Quimper teilnehmen und dadurch „den Rechten und Unternehmern auf den Leim gehen“. Und fügte höhnisch hinzu: „Die Sklaven demonstrieren für die Rechte ihrer Herren!“ (Vgl. http://www.lepoint.fr) Dies wurde von anderen Linken als taktisch ungeschickte Publikumsbeschimpfung erlebt (was für Mélenchon allerdings keine Neuigkeit wäre, am liebsten wütet er allerdings gegen Journalist/inn/en, die er allesamt als verkommene Pressefitzen betrachtet).

Innerhalb der Linken kam es über all dies zu einer wüsten Polemik (vgl. etwa http://www.politis.fr/) plus die Anmerkungen unter dem Artikel). Die Befürworter/innen einer Teilnahme an der Demonstration in Quimper argumentieren damit, allein das linke und gewerkschaftliche Lager besitze tatsächlich taugliche Konzepte für eine Zukunft der Lebensmittelindustrie in der Bretagne – eine Vergesellschaftung von konzentrierter Agrarproduktion und verarbeitender Industrie, und die Ausarbeitung sowohl umwelt- als auch verbraucher/innen/freundlicher Konzepte statt des bisherigen „Produktivismus“ – und brauche deswegen keine gegnerische Hegemonie hinzunehmen. Hätte die Linke vereint nach Quimper mobilisiert, behauptet jedenfalls diese Seite, dann wäre sie in der Lage gewesen, gegenüber den Rechten deutlich stärker dazustehen.
 

Die CGT mobilisiert nach Roanne in der Bretagne (Dienstag, 05.11.13)
Gegen anti-gewerkschaftliche Repression

An der Stelle ist noch ein kleiner Einschub nötig: Die CGT mobilisierte ihrerseits für den gestrigen Dienstag, den 05.11.13 in das bretonische Roanne. Dort fand ein Prozess gegen fünf ihrer Mitglieder statt. Ihnen wurde ursprünglich vorgeworfen, anlässlich der Proteste gegen die Renten„reform“ im Herbst 2010 Parolen an Wände gemalt zu haben. Da sie sich weigerten, eine Speichelprobe für einen DNA-Test abzugeben, wurden sie deswegen einer Strafverfolgung unterzogen – eine solche Weigerung gilt als Straftat, während die Gewerkschafter/innen grundsätzlich nicht einsehen, in ein und derselben Gendatei wie Sexualstraftäter eingespeichert zu werden. (Vgl. http://www.leparisien.fr) Im Falle einer Verurteilung droht den fünf Staatsbediensteten der Verlust ihrer Stelle.
Die CGT mobilisierte aus ganz Frankreich 250 Busse aus Roanne. Und sie wirft anderen Teilen der Protestbewegung der vergangenen Tage vor, dem gegenüber indifferent geblieben zu sein…


Front National

Auch der rechtsextreme Front National steht unterdessen bereit, um sich den Protestierenden als angebliche Alternative auf dem Wahlzettel anzubieten. Sein Vizevorsitzender, der 30 Jahre junge Technokrat Florian de Philippot, erklärte im Vorfeld seine „Unterstützung“ für die Demo in Quimper. (Seine, von manchen Medien angekündigte, persönliche Teilnahme wurde nicht bestätigt.) Bislang schnitt die rechtsextreme Partei bei Wahlen in der Bretagne in aller Regel unterdurchschnittlich ab, trotz der bretonischen Herkunft seines Gründervaters Jean-Marie Le Pen und der Präsenz seines Familiensitzes in La-Trinité-sur-Mer, in der Westbretagne. Aber nun könnte sich dies, so prognostizieren es jedenfalls einige Stimmen, ändern – und es bei den französischen Rathauswahlen im März 2014 in der Bretagne zu einer rechten Welle kommen.

Die Medien spielen dabei mit: Die sozialdemokratische Tageszeitung Libération stellte bspw. letzte Woche auf ihrer Portraitseite ein ausgewähltes Arbeiterehepaar vor, das von den Schlachthöfen der Firma Gad entlassen wurde und an den Protesten teilnimmt – und, so stellt bereits die Einleitung klar, nunmehr erwägt, „für den Front National zu stimmen“. (Vgl. http://www.liberation.fr ) Die angebliche Denkzettelfunktion des Votums für den FN spielt dabei eine Schlüsselrolle. Auch wenn die Partei in Wirklichkeit selbst keinerlei brauchbare Antworten auf das Problem zu liefern hat. Ihr Altpräsident und „Ehrenvorsitzender“ Jean-Marie Le Pen behauptete in den ersten Tagen des Protests, die Ursache des Problems zu kennen: Die Moslems seien schuld. Konsumierten diese doch bekanntlich kein Schweinefleisch, was ursächlich dafür sei, dass dessen Verzehr in Frankreich sträflich zurückgehe. Was zu beweisen war. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ )

Seine Tochter Marine Le Pen war etwas geschickter, indem sie auf einen wirtschaftspolitischen Katastrophendiskurs umschaltete und die Krise in der Bretagne mit dem Niedergang des französischen Bergbaus vor 30 Jahren verglich. Offiziell ist der Front National gegen internationalen Freihandel und dafür, dass Produktion und Konsum im gleichen Land – und möglichst ohne eingewanderte Arbeiter - stattfänden. Das Profitmodell in der Bretagne beruht zwar in Wirklichkeit auf dem exakten Gegenteil, einem stark auf internationalen Export ausgerichteten Produktivismus. Doch wen kümmern solche Widersprüche? Die rechtsextreme Argumentation, die auf der „Verteidigung der Identität der Bretagne“ beharrt, trifft scheinbar auf das Lebensgefühl vieler Menschen, die bei der Demo skandierten: „Arbeiten und wohnen bleiben in der Bretagne!“

Regierung

Die Regierung reagierte auf die Proteste, indem sie zu Anfang vergangener Woche die Ökosteuer „suspendierte“, also ihre Einführung aussetzte. Doch das wird nicht alle Protestierenden zufriedenstellen, von denen viele ihre definitive Abschaffung fordern. Unternehmer Sauvaget ging in der Nacht zum Dienstag mit dem Versprechen aus dem Verwaltungsgebäude heraus, der Staat prüfe seinen Forderungen nach finanziellen Zuwendungen. Und am Mittwoch trifft der Präfekt in Quimper mit Vertretern der Protestbewegung zusammen, um über einen „Zukunftsplan für die Bretagne“ zu beraten.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.