Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Soziale Bewegung in der Bretagne (Teil 2)
United Colors of diffuse Pampe

11-2013

trend
onlinezeitung

[ Ein vorausgehender Teil 1, den der Autor am 06. November d.J. verfasste und der noch stärker auf einige Hintergründe eingeht, steht direkt in dieser Ausgabe.]

Bei der aktuellen heterogenen Protestbewegung in Frankreich sind zwar soziale Ursachen (mit) anzutreffen, es überwiegt jedoch eine politisch Diffusität und die Dominanz kleinbürgerlichen Pseudo-Radikalismus. Daneben ist außerordentlich viel rechte Brut unterwegs: organisierte Faschisten, militante Gegner der Homosexuellen-Ehe und andere Aktivbürger. Insgesamt eine tüchtig zum Himmel, oder sonst wohin, stinkende Mischung. Zum Glück beginnt der sozial und gewerkschaftlich motivierte Protest sich jetzt vom Pack der militanten Mittelständler abzutrennen. Allerdings waren die spezifisch gewerkschaftlichen Demonstrationen in der Bretagne an diesem Samstag, den 23. November nur schwach besucht. Den vorläufigen Ausgang des Kräftemessens wird eine Woche später, am 30. November, der Erfolg oder Misserfolg der kleinbürgerlich-„steuerrebellischen“ Demonstration in derselben Region anzeigen...

Stand: 23. November 13

Die Front der Frondeure“ titelte am Mittwoch, den 13. November 13 die linksliberale französische Tageszeitung Libération auf ihrer Seite Eins. Die Bezeichnung für Aufsässige oder Aufständische leitet sich von einem historischen Ereignis ab, La Fronde, das sich in den Jahren 1648 bis 1653 abspielte. Es handelte sich um eine Adelsrevolte, in deren Verlauf die Aristokraten einerseits gegen eine Beschneidung ihrer Privilegien und ihrer politische Rolle durch eine stärker zentralisierte Monarchie, andererseits gegen ihnen auferlegte Steuern rebellierten. Nicht jede Revolte ist progressiv.

Wo so viele Fronten und Fronden sind, kann im derzeit herrschenden gesellschaftlichen Klima eine weitere „Front“ nicht weit sein. Und zwar in Gestalt der rechtsextremen Partei Front National. Deren Altvorsitzender und noch immer als „Ehrenpräsident“ amtierender Gründer, Jean-Marie Le Pen, trat am 10. November in einem jener Videos, die er fast täglich unter dem Titel „Bordtagebuch“ auf parteinahen Webseiten im Internet veröffentlicht, mit einer roten Strickmütze auf dem Kopf auf. (-> http://videos.tf1.fr/) Ein offenkundiger Versuch, an die Bewegung anzudocken, die sich in den letzten Wochen von der Bretagne aus auf andere Landesteile Frankreichs auszubreiten begann und unter der Bezeichnung bonnets rouges (rote Zipfelmützen) bekannt wurde.

Auch ihr Name knüpft an eine Revolte im 17. Jahrhundert an: 1675 fand ein Bauernaufstand in der Westbretagne statt, der sich gegen die Steuerbelastung richtete, mittels derer die Monarchie ihre Kriege in Europa finanzieren wollte; die Beteiligten trugen, je nach Landesteil, rote oder blaue Mützen. Er richtete sich aber auch gegen Feudalherren, die ihrerseits von der Steuerlast befreit waren. In seinem Verlauf wurde ein Geleitzug von König Ludwig XIV. militant angegriffen, die Teilnehmer an dem Ereignis wurden massakriert oder später hingerichtet.

Was damals gefährlich war, ist heute zur Folklore verkommen. Die roten Zipfelmützen der heutigen Zeit kamen ab dem 26. Oktober 13 in Mode, dem Tag, an dem erstmals eine Mautstelle zur Erhebung der neuen Ökosteuer für LKWs attackiert wurde. Die erste Fuhre von neunhundert Mützen wurde kostenlos verteilt, in den kommenden Wochen wurden sie jedoch für vier Euro das Stück verkauft. Ein bretonisches Unternehmen, Armor Lux, das sie zu geringen Produktionskosten in Irland herstellen lässt, zieht einen Extragewinn daraus.

Einen anderen historischen Bezug wählte unterdessen das konservativ-reaktionäre Wochenendmagazin Le Figaro Magazin, das sich (ganz im Unterschied zu seiner üblichen Haltung bei Streikbewegungen) völlig begeistert über die aktuelle Protestwelle zeigt und bei der Berichterstattung völlig aus dem Häuschen ist. „La grande jacquerie“ titelt das Figaro Magazine in seiner Ausgabe vom 15./16. November 13 (nicht online, vgl. dazu http://www.rfi.fr/ ). Unter Anspielung auf den Namen, der einer Bauernrevolte im Jahr 1358 gegeben wurde – nach ihrem Anführer, Jacques Bonhomme – und der seitdem als Synonym für Bauern- oder plebejische (aber nicht von organisierten Arbeiter/inne/n geprägte) Revolten benutzt wird.

Warnsignal der Präfekten

Die Bewegung hat sich seitdem verbreitet, und am Mittwoch, den 13. November wurde durch die Zeitung Le Figaro ein Warnschreiben bekannt, das die Präfekten – Vertreter des Zentralstaats in den Bezirken – bereits am 25. Oktober 13 an die Zentralregierung richteten. Also drei Tage nach dem ersten überregionalen Aktionstag gegen die neue Ökosteuer vom 26. Oktober d.J., der seinen Schwerpunkt in der Bretagne hatte. In dem Brief wird eine „zum Zerreißen angespannte“ Gesellschaft geschildert und vor eventuell bevorstehenden gesellschaftlichen Explosionen gewarnt. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ oder http://www.lemonde.fr)

Revolten gegen Besteuerung sind keineswegs immer sozial progressiv geprägt. Als Anti-Steuer-Parteien profilierte politische Formationen stehen oft sogar weit rechts, wie etwa die so genannten „Fortschrittsparteien“ in mehreren skandinavischen Ländern, deren norwegische Ausgabe soeben mit sieben Ministern in die Regierung einzog. Auch in Frankreich gibt es ein vergleichbares historisches Vorbild dafür, in Gestalt der Poujadisten, also der von Pierre Poujade geleiteten Bewegung in den 1950er Jahren. Die überwiegend kleinbürgerlich geprägte Mittelklassenbewegung gegen Steuern wies eine antisemitische Grundierung auf. Als jüngster Abgeordneter wurde im Januar 1956 ein 27jähriger Jungpolitiker – damals ein Altersrekord (im Sinne von: Jugendrekord) - für sie ins französische Parlament gewählt, ein gewisser Jean-Marie Le Pen.

Das französische Steuersystem weist flagrante Ungerechtigkeiten auf. Beispielsweise wird Mieterinnen und Mietern eine Wohnsteuer abverlangt, die in keinerlei Bezug zum Einkommen steht, sondern pauschal erhoben wird. Die durch die Sozialdemokratie in der Opposition Anfang 2012 scharf abgelehnte, und im Herbst 2012 durch die regierende Sozialdemokratie dann eingeführte Mehrwertsteuererhebung belastet Konsumierende ebenfalls ohne jegliche Einkommensproportionalität. Gegen die zum 01. Januar 14 anstehende Mehrwertsteuererhöhung gibt es ebenfalls, und in diesem Falle zu Recht, punktuelle Widerstände. Umweltschützer/innen wenden sich etwa, unter der Bezeichnung bonnets verts (grüne Zipfelmützen), gegen die aus diesem Grunde anstehende Preissteigerung in öffentlichen Transportmitteln. Besonders belastet werden spezifische Sektoren, an ihrer Spitze stehen die Reitschulen mit einer bevorstehenden Mehrwertsteuererhöhung um 13 %, und damit Preissteigerungen im zweistelligen Bereich. Dagegen finden punktuelle Proteste statt, in Djion nahm deswegen ein Pferd mitsamt Besitzer in der Straßenbahn Platz. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ ) Ebenso kommen Widerstände von Handwerkern, da Renovierungsarbeiten in Wohnung durch die Mehrwertsteuererhöhung ebenfalls stark verteuert werden, was mutmaßlich vor allem ein Anwachsen von „Schwarzarbeit“ zur Folge haben dürfte.

Streitobjekt Ökosteuer

Den diffusen Protest bündelte in den letzten Wochen am stärksten die geplante neue Ökosteuer und andere Steuern. Die écotaxe war im Jahr 2007 durch die damalige konservative Regierung beschlossen worden. Ihr Anliegen basiert darauf, dass man nach dem Verursacherprinzip umwelt- oder klimaschädliche Transportmittel und Produktionszweige stärker besteuert, um über Geld etwa für den Ausbau des Schienennetzes zu verfügen. Das ist nicht prinzipiell schlecht konzipiert, auch wenn die Ausführung teilweise seltsame Formen annahm, weil etwa die am stärksten verschmutzenden Industrien dank des „Arbeitsplätze-Arguments“ mit Ausnahmeregelungen belegt wurden. Für Lohnabhängige, die berufsbedingt pendeln müssen, soll es dagegen nur vage gehaltene „soziale Ausgleichszahlungen“ geben.

Ursprünglich sollte die Ökosteuer (vgl. zu ihrer Vorgeschichte: http://www.lemonde.fr ) zum 01. Juli 2010 in Kraft treten - musste jedoch aufgrund einer Revolte konservativer Parlamentarier, in deren Augen die damalige Rechtsregierung zu viel „Öko- und Minderheitenpolitik-Schnickschnack“ unter ihre Politik gemischt hatte, um mehrere Jahre verschoben werden (vgl. Frankreich nach den Regionalparlamentswahlen  ).

Am 01. Januar 14 sollte sie nun wirklich in Kraft treten. Bereits am 29. Oktober 13, infolge der allerersten manifesten Proteste (die ab dem 26.10. einzusetzen begannen), hat Premierminister Jean-Marc Ayrault ihre Einführung auf unbestimmte Zeit „vertagt“; (vgl. http://www.europe1.fr/) Die französische Gesamtbevölkerung war daraufhin zunächst gespalten: Am 09. November 13 erschien eine Umfrage, der zufolge 60 Prozent der Befragten angesichts der Aussetzung der Ökosteuer für eine Beendigung der Proteste waren; 40 Prozenten traten demnach für eine Fortsetzung der gegen sie gerichteten Proteste ein. (Vgl. http://www.lemonde.fr/) Natürlich kommt es bei Umfragen immer darauf an, wie die Frage gerade gestellt war, was oft einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis hat. Jedenfalls verhinderte die Aufschiebung der Ökosteuer nicht, dass sich zumindest auf regionaler Ebene in der Bretagne ein verhärteter Kern der Protestbewegung weiterhin herausbildete.

Inzwischen ist nun auch klar, dass die LKW-Ökosteuer so schnell nicht kommen wird: Am Montag Abend (18. November 13) kündigte Premierminister Jean-Marc Ayrault eine Überarbeitung der Steuerpläne an, und die écotaxe wird nicht vor 2015 kommen. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr ) Vielleicht auch noch erheblich später, denn Ayrault kündigte gleich eine Überarbeitung des gesamten Steuersystems an, und zwar bis zum Ende der Legislaturperiode (vorgesehen für 2017) – lt. Zahlen des Senders i-Télé vom 23. November d.J. befürworten dies im Prinzip 89 Prozent der Französinnen und Franzosen. Aber zugleich glauben demnach mindestens 70 Prozent, dass die Steuerreform, falls sie denn kommt, in Wirklichkeit„weder gerecht noch wirkungsvoll“ sein werde. Die Mehrheit glaubt also nicht an die proklamierten hehren Ziele. Viele Beobachter/innen nehmen an, durch die Ankündigung eines Reformprojekts, das sich bis 2017 hinzielen solle, habe Premierminister Ayrault sich nur eine politische Lebensversicherung über die nächsten Wochen hinaus ausstellen wollen. Sitzt der Mann doch auf einem Schleudersitz. Also, fest steht nur so viel: Vorläufig ist es Essig mit der Ökosteuer.

Ayrault kündigte ansonsten zwar eine „Überarbeitung des Steuersystems“ an, stellte jedoch zugleich sofort klar, es werde keinen Verzicht auf die zum 01.01.2014 geplante Mehrwertsteuererhöhung – und damit eine der mit Abstand übelsten Maßnahmen - geben. (Vgl. u.a. http://www.lemonde.fr/)

Bei den Widerständen gegen bestimmt Steuern, besonders dem gegen die Ökosteuer, geht es allerdings kaum um soziale Gerechtigkeit. Sondern schlicht um bürgerlichen Egoismus, nach dem Motto: Wozu soll ich bezahlen, was geht mich denn die Gesellschaft (oder die Umwelt) an? Hinzu kommt allerdings auch in tiefen Kreisen wahrgenommene Illegitimität der Besteuerung durch den Staat – angesichts der horrenden Kosten für Bankenrettung und vorgebliche Krisenbewältigung fragen sich viele, wozu die erhobenen Steuern eigentlich verwendet werden. Ferner weist die Regierung ein erhebliches Legitimitätsdefizit auf. Angesichts einer real als Mitte-Rechts-Politik zu bezeichnenden Wirtschaftspolitik hat die Sozi-Regierung, aber haben auch die ihr gegenüber oft sträflich passiv bleibenden Gewerkschaften ihre breite Basis verloren. Unter ihren bisherigen Anhänger/innen herrscht oft Frustration und Desorientierung vor. Dagegen kann die Regierung diesen Vertrauensverlust nicht im konservativen Lager wettmachen: Von Anfang an wurde ihr als „linkem Regime“ von Teilen der politischen Rechten her bestritten, überhaupt legitim den Staat führen zu können. Seien die Sozialisten doch Zerstörer von Staat, Werten und Nation. Diese Vorwürfe haben sich radikalisiert, seitdem die breite rechte Protestbewegung gegen die Homosexuellenehe in den ersten Jahresmonaten 2013 mit teilweise apokalyptischen Worten die „sozialistische Diktatur“ anklagte.

Es ist deswegen kein Zufall, dass die Protestbewegung, die bislang zu mehreren Dutzend Sabotageakten gegen Mautstellen für die künftige Ökosteuer1 – und inzwischen auch gegen über fünfzig Radaranlagen zur Geschwindigkeitsbemessung im Autoverkehr (vgl. http://actu.orange.fr/oder http://www.lemonde.fr/ sowie http://berthoalain.com/ )2 – führen, überwiegend rechts dominiert wird. Auch wenn neben organisierten Faschisten und anderem Pack auch schlichte Dumpfbacken daran beteiligt sind. Die Tageszeitung Libération zitiert etwa in ihrem oben zitierten Dossier über „Die Front der Frondeure“ ein Beispiel aus den Polizeiakten, bei dem „ein Vater und ein Sohn nach einer stark alkoholgetränkten Mahlzeit“ einfach eben mal beschlossen, loszuziehen und ein Radargerät zu zerstören. Die beiden Suffköppe waren nirgendwo organisiert. Es bleibt dabei, dass zwar grundsätzlich gilt: „Rebellion ist gerechtfertigt“ (frei nach dem Präsidenten Mao, dessen historische Bilanz und insbesondere Totenbilanz wir ansonsten nicht rechtfertigen möchten), aber eben nicht jede Rebellion unter diese Rechtfertigung fällt. Es gibt kein Menschenrecht auf Raserei im Straßenverkehr (und der motorisierte Individualverkehr muss ohnehin wg. Ressourcenvergeudung und Umweltzerstörung überwunden werden). Es gibt auch kein Menschenrecht darauf, einfach mal sein Mütchen an einer öffentlichen Einrichtung zu kühlen. Und im Zweifelsfalle gilt es bei einem solchen Vorgehen, die Radargeräte gegen den besoffenen oder rechtsgewirkten Mob zu verteidigen, notfalls mit dem Knüppel, und nicht umgekehrt.

Gesocks macht mobil

Der Front National versucht ebenso an sie anzuknüpfen, wie sie den organisierten harten Kernen aus der Protestbewegung gegen die Homosexuellenehe aus den ersten Jahresmonaten ein neues Betätigungsfeld bietet.

Am 11. November 13 wurde Präsident François Hollande an zwei Orten ausgebuht und ausgepfiffen, auf den Champs-Elysées in Paris und einige Stunden später in der Kleinstadt Oyonnax. Seine Auftritte standen in Verbindung mit einem Gedenk- und gesetzlichen Feiertag in Frankreich: Am 11.11. ist aus Andenken an das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 arbeitsfrei, denn an dem Tag wurde in einem Waggon in Compiègne der Waffenstillstand zwischen der Französischen Republik und dem damaligen Deutschen Reich abgeschlossen. Das historische Gedenken fällt heutzutage (mit gewachsenem zeitlichem Abstand zum Ersten Weltkrieg) normalerweise nicht weiter auf – außer dass an dem Tag arbeitsfrei ist –, aber aufgrund des bevorstehenden einhundertjährigen Jubiläums zum Kriegsbeginn (1914 -> 2014) fand es in diesem Jahr doch einige Beachtung. Von vornherein, denn durch die Pfiffe gegen den amtierenden Präsidenten wuchs die Aufmerksamkeit dann noch zusätzlich.

Der rechtslastige erste Kanal des französischen Fernsehens, TF1 – der Sender wurde 1987 durch den damaligen Premierminister Jacques Chirac privatisiert und steht im Eigentum von Nicolas Sarkozys Duzfreund, dem Konzernerben Martin Bouygues – hat den Eindruck unterdessen noch verstärkt: TF1 hat inzwischen zugegeben, die Abfolge von Bild und Ton leicht manipuliert zu haben. Durch eine Verschiebung der Tonsequenz um vier Sekunden gegenüber dem Ablauf der Bilder wird künstlich der Eindruck erweckt, das Pfeifkonzert sei besonders hell erklungen, als François Hollande aus dem Auto gestiegen sei. In Wirklichkeit erklangen die Pfiffe eher wenige Sekunden vor seinem Austritt aus dem Wagen und hatten ihren Höhepunkt bereits überschritten, als Hollande auf den Asphalt trat (und dann auch ein bisschen Beifall erklang). Der rechte Sender wurde also bei einer politischen Manipulation ertappt, auch wenn er behauptet, es handele sich um ein „technisches Versehen“.

Die Urheber der Störaktion kamen aus dem Umfeld des harten Kerns der Homosexuellen-Gegner einerseits, und aus dem Kreis der organisierten Neofaschisten andererseits. Zuvor war von ihrer Seite im Internet und bei Facebook für eine Aktion am 11. November um 11.11 Uhr geworben worden – nein nein, es bestand keine Verbindung zum rheinischen Karneval, nein. 73 Personen aus ihren Reihen wurden vorübergehend festgenommen; drei von ihnen wurden im Nachhinein der Justiz vorgeführt (vgl. http://www.lefigaro.fr/ ).

Unter ihnen befindet sich David Van Hemelryck (vgl. http://www.lefigaro.fr/ ), ein 33jähriger Jungunternehmer, der dadurch bekannt wurde, dass er den ganzen August über ein Segelflugzeug mit dem Transparent „Hollande, Rücktritt!“ über den Urlauberstränden am Atlantik steuerte. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ ) Er kommt aus dem harten Kern der Bewegung gegen die Homosexuellenehe, ebenso wie jene drei Personen, die am 09. November 13 den ersten Sabotageakt gegen eine Mautstelle für LKWs auf der Pariser Ringautobahn verübten (vgl. http://www.lefigaro.fr/).

Im Nachhinein erklärte der Front National (in Gestalt seiner Vorsitzenden Marine Le Pen) im Übrigen, man verurteile die Störaktionen durch „Hitzköpfe“, da man an einem nationalen Gedenktag nicht stören dürfe – beschwerte sich aber auch darüber, der Spitzenkandidat der eigenen Partei zur Pariser Rathauswahl und ein paar andere Parteigänger seien am 11. November ebenfalls festgenommen worden. Marine Le Pen sprach diesbezüglich sogar von „Methoden wie in totalitären Ländern“. Ihr Pariser Spitzenkandidat für die Pariser Rathauswahl vom März 2014 ist Wallerand de Saint-Just, seit 1987 Rechtsanwalt von Jean-Marie Le Pen. Er wurde am diesjährigen 11. November in der Nähe der Place Charles de Gaulle-Etoile (wo auch die Störaktion stattfand) mit einer Handvoll Getreuen in polizeilichen Gewahrsam genommen. Natüüüüürlich befand er sich jedoch reiiiiiin zufällig dort, na klar, selbstverständlich.

Verquickung sozialer Gegensätze

In sozialer Hinsicht dominieren Kleinunternehmer und militante Kleinbürger die Bewegung, auch wenn sich anfänglich in der Bretagne auch ein Arbeiterprotest unter die Rotmützen-Bewegung mischte. Dabei ging es darum, vor den drohenden Entlassungen in der bretonischen Lebensmittelindustrie zu warnen. Die Bewegung blieb jedoch am Gängelband der Arbeitgeber, die die drohende Not ihrer Beschäftigten ausnutzen, um vom Staat oder von der EU neue Subventionen für eine gesellschaftlich schädliche, umweltzerstörende Form der Agrarproduktion zu erpressen. Am 04. November 13 stürmten Arbeiter so ein Verwaltungsgebäude in Morlaix. Aber die Interviews im Fernsehen dazu gab „ihr“ Unternehmer, Daniel Sauvaget, und nachdem der Arbeitgeber bei der Verwaltung zum Gesprächstermin empfangen worden war und daraufhin die Sache abpfiff, gingen auch alle Besetzer eilends nach Hause. (Vgl. dazu auch den nebenstehenden Teil 1 dieses Artikels sowie http://berthoalain.com/und http://www.lemonde.fr/ )

Gäbe es eine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die halbwegs Mumm in den Knochen hätte und welcher nicht (mitsamt dem „real existierenden Sozialismus“) ihr historisches Projekt und gleich auch jegliche Orientierung abhanden gekommen wäre, würde sie völlig anders an die Sache herangehen. Dann würden sie als Erstes – wie es minoritäre linke Kräfte am Rande der aktuellen Protestbewegung auch real tun – eine Verstaatlichung, besser noch: Vergesellschaftung der industrialisierten Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion fordern. Um diese dann in den Dienst einer gesellschaftlich sinnvollen, unter Gesundheits- und ökologischen Gesichtspunkten verantwortlichen Produktion zu stellen. Dies ginge natürlich nur über die Enteignung der Unternehmergestalten, die bislang dort davon lebten, dass sie Dreck produzieren und auf Teufel komm raus ließen – und jetzt darüber jammern, dass sie für diese Exporte (und das damit einhergehende Kaputtkonkurrieren etwa von Landwirten in Westafrika) keine Subventionen mehr in den Hintern geblasen bekommen. Nicht zusammen mit ihnen, sondern, sei es im übertragenen oder notfalls auch im buchstäblichen Sinne, „über ihre Leichen“ würde ein gesellschaftlich sinnvolles Projekt möglich. Noch in den 1970er Jahren hätte etwa die CGT eine solche „Nationalisierung“ (Verstaatlichung oder Vergesellschaftung) zweifellos als Schlüsselelement in den Mittelpunkt jedes Konzepts gerückt. Heute sind von einem solchen Verständnis nur noch Spurenelemente in den dominierenden Gewerkschaften übrig.

Am Samstag, den 16. November d.J. blockierten dann LKW-Fuhrunternehmen vielerorts in Frankreich den Verkehr (vgl. http://www.lemonde.fr/ oder http://www.francetvinfo.fr/  ). Die altgediente Kommunistin Annick kommentiert dies jedoch mit den Worten: „Von wegen sozialer Protest! Mich erinnert diese Aktion eher an den Streik der Fuhrunternehmer 1973 in Chile, der den Sturz der Allende-Regierung beschleunigen sollte…“ Allerdings gibt es mindestens einen sehr gewichtigen Unterschied: François Hollande ist nicht Salvador Allende, er besitzt nicht ein Hundertstel seines politischen Mutes, und Hollandes Programm erscheint im Unterschied zu jenem Allendes den dominierenden Fraktionen der Bourgeoisie nicht als Bedrohung.

Das Kleinbürgertum und die soziale Basis der Rechtsparteien sind derzeit fuchsteufelswild geworden, aber führende Großunternehmer wie bspw. Christophe de Margerie von TOTAL geben sich nach wie vor bei François Hollande die Klinke in die Hand und nehmen erheblichen Einfluss auf ihn. (Vgl. über François Hollande als „Unternehmerpräsident“ ausführlich: http://www.liberation.fr/ , sowie zuvor http://www.liberation.fr/economie oder http://www.atlantico.fr/). Ihnen fällt der Kontakt zu François Hollande sogar - laut eigenem Bekunden - erheblich leichter als zu seinem konservativen Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy, weil jener „nicht zuhörte, sondern stets Monologe führte“ oder im Befehlston zu ihnen redete... Anlässlich der Pariser Gedenkkundgebung zum 40. Todestags Salvador Allendes, am 11. September 2013, rief denn auch der radikale Linke Alain Krivine auf der Rednertribüne aus: „Im Unterschied zu Salvador Allende würde von François Hollande und den französischen Sozialdemokraten heute niemand Selbstmord für ihr Programm begehen“ – was den Autor dieser Zeilen zum Ausruf im Publikum veranlasste: „Wie schade!“

Heilsame Entmischung?

Inzwischen hat sich zumindest die seltsame Mischung aus Arbeiter- und Unternehmerprotest tendenziell zu entmischen begonnen. In der Bretagne riefen bzw. rufen nunmehr die Gewerkschaften einerseits, die kleinbürgerlich geprägte und teilweise rechts gewirkte Rotmützenbewegung andererseits getrennt zu neuen Demonstrationen auf.

Fast alle Gewerkschaften demonstrierten am Samstag, den 23. November d.J. in jedem der vier Verwaltungsbezirke in der Bretagne (vgl. dazu http://www.letelegramme.fr/ sowie http://www.solidaires.org ). Eine Woche später mobilisiert dann die Kleinbürger- und Mittelständlerbewegung unter ihren roten Kopfbedeckungen am 30. November 13 nach Carhaix. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ )

Als letztes Bindeglied zwischen beiden Spektren diente bis zuletzt die, 1947 als antikommunistische Abspaltung von der CGT entstandene, bis heute vordergründig „unpolitische“ und zum Teil eher rechte Gewerkschaftsvereinigung FO (Force Ouvrière). An den ersten Demonstrationen der Rotzipfelbewegung hatte sie teilgenommen. Nun hat sie jedoch Ende voriger Woche ihre Beteiligung an der Demonstration vom 30. November 13 zurückgezogen (vgl. http://www.lemonde.fr/ und http://www.liberation.fr ). Ohne jedoch acht Tage zuvor an der Seite von sieben anderen Gewerkschaften zu deren Protesttermin, an diesem Samstag (23. November) aufzurufen, und unter Ablehnung einer gewerkschaftlichen Einheit mit anderen Dachverbänden; vgl. http://www.lemonde.fr/)

Als Abgrenzung vom Rotmützenprotest erklärte der regionale Verband FO-Bretagne, man wolle keine regionalistischen Forderungen schüren, die letztendlich auch die Forderung nach einem spezifischen regionalen Arbeitsrecht enthielten – was natürlich zur Minderung, und nicht zur Stärkung, von Beschäftigtenrechten führen müsste.

Laut ersten Meldungen fielen die von den Gewerkschaften initiierten Demonstrationen von diesem Samstag, den 23. November 13 in den vier Bezirkshauptstädten der Bretagne allerdings nicht wahnsinnig erfolgreich aus. (Vgl. http://www.lemonde.fr und http://www.lefigaro.fr/ ) Demnach kamen in Rennes rund 2.200 Demonstrierende laut Behörden (3.000 laut Veranstalter/inne/n), in Lorient 1.100 (respektive 3.000 laut Veranstalterzahlen), und in Saint-Brieux 750 (respektive 2.000 laut Veranstalterangaben). Aus Morlaix liegen die Zahlen bei Redaktionsschluss dieses Artikels noch nicht vor. In Lorient hatten die beiden Vorsitzenden der stärksten Gewerkschaftsdachverbände in Frankreich, Theirry Lepaon (CGT) und Laurent Berger (CFDT), persönlich teilgenommen. Diese Zahlen sind nicht sonderlich vielversprechend. An der, von einer wesentlich diffuseren Protestbewegung im Zeichen der roten Zipfelmütze getragenen, Demo in Quimper am 02. November dieses Jahres nahmen 15.000 (lt. Behörden) respektive 30.000 (lt. Veranstaltern) teil.

In Paris wiederum versucht unterdessen die „Linksfront“ – ein Zusammenschluss der reformistischen Linken, deren stärkste Bestandteil die französische KP und eine Abspaltung der Sozialdemokratie bilden –, am 01. Dezember 13 einen progressiv begründeten Protest für eine gerechtere Steuerverteilung auf die Straße zu bringen. Letztere soll nicht allein den Rechten überlassen bleiben, in dem Falle ohne sich mit ihnen zu verbünden.

Ausblick

Die Regierung unter François Hollande und Premierminister Jean-Marc Ayrault ist gleichzeitig so unpopulär wie noch keine Staatsspitze vor ihr, seitdem 1958 die Fünfte Republik begründet wurde. Nur noch 20 Prozent positiver Meinungswerte weist François Hollande auf, ein absolutes Rekordtief. Auf der Linken sorgt seine Politik nur für Frustration und Desorientierung, die im übrigen auch auf die Gewerkschaften überzugreifen droht, da die Mehrheit unter ihnen gegenüber der sozialdemokratischen Regierung passiv bleibt. Gegenüber der neuesten Renten„reform“, die die Zahl der abgeforderten Beitragsjahre auf irrsinnige 43 anhebt, regte sich – anders als bei den Rentenreformen zuvor, 2003 und 2010 – von ihrer Seite her fast kein Protest. Ein einziger überregionaler Demonstrationstermin, am 10. September 13, und einige regionale Demonstrationen am 15. Oktober d.J. (am Tag der Verabschiedung der „Reform“ in der Nationalversammlung) wurden dagegen angesetzt. Weitere regionale Protesttermine, im Zusammenhang mit der Debatte im Senat oder parlamentarischen „Oberhaus“, finden dazu nochmals am 26. November 13 statt. Dies alles war und ist jedoch ab-so-lut unzureichend.

Die Reform wurde fast sang- und klanglos verabschiedet. Das Popularitätsdefizit von „Links“regierung und Gewerkschaften lässt sich jedoch nicht im rechten Lager kompensieren, obwohl die aktuelle Regierung in Sachen Wirtschaftspolitik eine weitgehend früheren Mitte-Rechts-Politiken ähnliche Linie verfolgt. Denn bedeutende Teile der politischen Rechten betrachten die Regierung als grundsätzlich illegitim: In ihren Augen sind und bleiben die Sozialisten „Staatszerstörer“. Der bisweilen apokalyptische Diskurs aus der Rechten über die regierende Sozialdemokratie als Zerstörer des Abendlands, aller Werte und letztendlich der Nation wurde durch die Massenbewegung gegen die Homosexuellenehe zusätzlich befeuert: In ihr war das Gerede von einer angeblichen „sozialistischen Diktatur“ in Frankreich gang und gäbe.

Ihr vollkommen mangelhafter gesellschaftlicher Rückhalt aber macht die derzeitige Regierung anfällig für Druck aus allen möglichen Richtungen, von woher auch er kommen mag. Egal, ob es sich um gesellschaftlich sinnvolle, sinnlose oder aber soziale gefährliche Anliegen handelt.

Auch die stärkste Oppositionspartei, die konservativ-wirtschaftsliberale UMP, profitiert derzeit (trotz Versuchs) kaum oder nicht von der aufgeheizten Stimmung; vgl. http://www.lemonde.fr/Unter anderem, weil die Partei von inneren Machtkämpfen zerrissen bleibt. Und weil ihre eigene Regierungszeit (zuletzt von Mai 2002 bis Juni 2012) noch zu frisch in Erinnerung bleibt – viele der jetzt umkämpften Vorhaben gehen noch auf ihr eigenes Konto, bspw. brachte die UMP die Ökosteuer ab 2007 und die Mehrwertsteuererhöhung erstmals 2007 und erneut ab Januar 2012 ins Gespräch. Die UMP versucht unterdessen von anderen Themen im Kontext des verbreiteten Unmuts zu profitieren, etwa von der sich ausbreitenden Unzufriedenheiten mit der „Reform der Unterrichtszeiten“ – im laufenden Schuljahr versucht die Regierung, die Verteilung der Unterrichtszeiten über die Woche zu modifizieren. Bisher hatten französische Schüler/innen eine Vier-Tage-Woche, mit unterrichtsfreiem Mittwoch und ausgesprochen langen Unterrichtszeiten (bis am Spätnachmittag) an den übrigen vier Werktagen. Da diese starke zeitliche Konzentration des Unterrichts auf wenige Tage unter gesundheitlichen Gesichtspunkten sehr umstritten war, lancierte der sozialdemokratische Schulminister Vincent Peillon 2012 eine Reform dazu. Diese ruft einen gewissen Unmut hervor, einerseits bei manchen Lehrkräften – die zu gerne am Mittwoch im Bett bleiben würden -, andererseits bei manchen Eltern und Schulverwaltungen aufgrund der mangelhaften Durchführung der Reform. (Da es vielerorts bei der Ganztagesschule bleibt, und die Eltern ohnehin oft tagsüber arbeiten, werden nun am Nachmittag zum Teil Ersatzaktivitäten statt Unterricht angeboten. Diese sind aber, u.a. aufgrund mangelnder Investitionen und des tatsächlichen oder vermeintlichen Geldmangels der öffentlichen Hand, an vielen Orten schlecht organisiert und wenig zufriedenstellend.) Es gab auch Streikbewegungen von Lehrkräften dagegen, vgl. http://www.lemonde.fr/ In vielen Kommunalverwaltungen versucht nun die UMP, den verbreiteten diffusen Unmut darüber auf ihre Mühlen zu lenken.

Kommentatoren diskutieren unterdessen kontrovers über die Frage, ob „eine soziale Bewegung von rechts“ existiert (vgl. http://www.lemonde.fr/), und Beobachter/innen sprechen über „eine neue protestorientierte Rechte, welche sich der Kontrolle durch die Parteiführungen entzieht“ (vgl. http://www.lemonde.fr/ ). Dabei fällt mitunter auch der Begriff von „einer ,Tea Party’-Bewegung à la française“, sei es in deskriptiver oder in affirmativer Absicht; zu den begeisterten Befürwortern zählt etwa der ultrarechte Journalist Ivan Rioufol, vgl. http://blog.lefigaro.fr/

Diskutiert wird auch noch die Frage, ob es dem neofaschistischen Front National gelingen wird, das Wasser des verbreiteten Unmuts bzw. Energien aus den jüngsten Protesten auf seine Mühlen zu lenken. (Vgl. http://www.lemonde.fr) Den Test dazu dürften die kommenden Rathauswahlen im März 14 liefern.

Anmerkungen

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.