Bemerkungen zu einer soziologischen Theorie der Weltanschauungen

von Roger Bastide

11/2018

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... Nunmehr werden wir für kurze Zeit den genetischen Strukturalismus verlassen. Von neuen Gegebenheiten ausgehend werden wir das Pro­blem einer Psychoanalyse der Weltanschauung in ihrem Bezug zu den Infrastrukturen von Klassen sowie zu den historischen Zusammenhän­gen wieder aufnehmen. Die Gegebenheiten, von denen ich ausgehen möchte, sind zweifacher Art:

1) Die ersten sind mir von der Psychoanalyse vorgegeben. Sie stehen übrigens nicht im Wi­derspruch zum Marxismus, da Marx am Ende seiner «Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie» das Überleben von Kunstwerken durch Jahrhunderte hindurch feststellt, während die sozio-ökonomischen Bedingungen, die sie geschaffen haben, seit langer Zeit verschwunden sind.(1) Die verschiedenen Psychoanalysen, die von Jung wie die von Freud, haben uns an die Idee der Beständigkeit von Archetypen oder Symbolen im Verlauf der Geschichte gewöhnt. Der bürgerliche Roman hat den Platz der Mythen einnehmen können, der großen mythi­schen Themen: der Kampf des Helden gegen die Ungeheuer, die Versuchung des Mannes durch das Weib, der Zerfall der Welt seit dem Goldenen Zeitalter, der erste Schritt auf das verlorene Paradies zu usw. Sicherlich handelt es sich hier nur um Elemente eines Ganzen, Elemente, die in verschiedene Strukturen ein­gehen und verschiedene Bedeutungen annehmen können, gemäß den Gestaltungsgesetzen der verschiedenen Strukturen. Nur ist hier die Psy­choanalyse das Primäre und die Geschichte das Sekundäre (also im Gegensatz zu der Perspek­tive, die wir bislang untersucht haben]. Die Psychoanalyse ist in dem Sinne primär, als die Ideen, um einen Ausdruck von Levinas zu ge­brauchen, nicht nur einfach die Bedingungen des plötzlichen Auftauchens dieser Ideen zu­zusammenfassen, sondern auch in dem Sinne, als es Weltanschauungen gibt, oder zumindest Ele­mente von Weltanschauungen, die im Verhältnis zu den Wandlungen der sozialen und ökonomi­schen Strukturen anachronistisch sein können.

2) Die zweite Gegebenheit, von der ich aus­gehen möchte, ist eine ganz einfache Feststellung, nämlich die Vorliebe der marxistischen oder neomarxistischen Autoren für die Welt­anschauungen der oberen und mittleren Klassen der Gesellschaft, gewöhnlich für die Krisen­perioden dieser Klassen oder das Aufbrechen der inneren Widersprüche der gesamten Gesell­schaft. Zweifellos, wenngleich es stimmt, daß eine Weltanschauung nur von einer Gruppe ausgearbeitet werden kann, so ist es doch ein Einzelner (Corneille für den Schwertadel, Pas­cal für den Amtsadel, Kant für das deutsche Bürgertum), der sie in eine imaginäre oder begrifflich formulierte Schöpfung überträgt. Nun hat aber das Volk nicht solche Übersetzer. Oh, ich weiß zweifellos, daß es Intellektuelle gibt, die sich bemühen, in das Proletariat einzudrin­gen, um seiner Weltanschauung Ausdruck zu verleihen. Aber diese Intellektuellen haben, selbst wenn sie aus dem Volk kommen, eine nicht volkstümliche Erziehung genossen. Und ihre Weltanschauungen widerspiegeln diese Dualität zwischen ihren Intentionen und ihrer zweideutigen gesellschaftlichen Lage. Sie zeigen mehr einen Schöpfungswillen als einen Aus­druckswillen: Sie wollen, so würde ich sagen, das Proletariat «schaffen», indem sie das Volk töten. Aber das Volk existiert und widersteht. Ich halte es deshalb für wichtig zu versuchen, eine Weltanschauung der Volksklasse freizu­legen, unabhängig von allen seinen Interpreten. Und ich glaube, daß dies möglich sein wird, und zwar durch die kulturellen Werke, die aus dem Volk hervorgegangen, die kollektive Werke sind.

Die Arbeiterklasse hat sich aus der Bauern­klasse entwickelt, und sie hat die Weltanschau­ung der Bauernklasse in den Städten, die sich industrialisierten, aufrechterhalten. Es gibt hier also ein Phänomen des Zurückbleibens der Ideen hinter den neugebildeten Strukturen, das heißt ein Phänomen des Anachronismus. Übri­gens wurde die Entwicklung dieser neuen Struk­turen durch die Aufrechterhaltung der alten bäu­erlichen Strukturen anfangs behindert, und zwar mehr durch die Anpassung des Alten an das Neue als durch Veränderungen während der fol­genden Generationen. Was mich immer erstaunt hat, ist die strenge sexuelle Trennung, die fast bis zu unserer Zeit erhalten geblieben ist, zwi­schen den Männern, die in der Fabrik und auf der Straße lebten, und den Frauen, die in der Fabrik und am häuslichen Herd lebten. Die Be­ziehungen zwischen den beiden Gruppen stellten sich für die Erwachsenen nur auf der sexuellen, für die Kinder nur auf der mütterlichen Ebene ein. Die Weltanschauung, die dieser anfäng­lichen Arbeiterklasse entspricht, ist eine zy­klische Weltanschauung, deren stärkste Momente während der Festtage hervortreten. Wenn wir diese Weltanschauung genauer darstellen woll­ten, würden wir auf eine Analyse der Feste verwiesen, da das Fest der Augenblick ist, in dem sich die zwischenindividuellen Beziehungen zu einer kohärenten geistigen Struktur bilden. Der Arbeiter setzt den Bauern fort, er wird vom Schicksal erdrückt; er ist sich noch nicht bewußt, daß dieses Schicksal nicht eine onto-logische Wirklichkeit, sondern ein historisches Gebilde des Kapitalismus ist; er erfaßt das Schicksal noch immer als das Muster naturhaf­ten Determinismus'. Das Fest ist also der Augenblick der Freiheit und der Freude, und es nimmt, wenn auch verweltlicht, die Vorgänge der archaischen Religionen wieder auf: das Ver­lieren des profanen Bewußtseins, sei es durch die kollektive Erregung bei Umzügen, durch das Drehen beim Tanzen und Karussellfahren, durch das Außer-Atem-Geraten auf der Rutschbahn, der Berg- und Talbahn oder beim Schaukeln.

Die Arbeiterklasse verwandelt sich langsam, indem sie politisch wird, in Proletariat. Aber gleichzeitig wandelt sich der Kapitalismus in­folge des technischen Fortschritts, und er benö­tigt Arbeiter, die nicht mehr urbanisierte Bau­ern, sondern «Kenner» der Maschine sind. Der neue Kapitalismus erfordert und wird jeden Tag mehr die Entwicklung der Bildung erfor­dern. Man muß deshalb in den Demokratisie­rungsprogrammen des Schulwesens nicht eine Folge des demokratischen Ideals sehen, son­dern, unter einer ideologischen Maske, eine Notwendigkeit, die durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst erforderlich wurde. Das­selbe gilt für die «Wohlstandsgesellschaft», die eine logische Folge der Produktionssteigerung ist. Die neue Weltanschauung wird folgerichtig den Widerspruch dieser beiden Bewegungen der neueren Geschichte ausdrücken: die Prole­tarisierung, die auf ein revolutionäres (sagen wir prometheisches) Bild des Kosmos hinzielt, und die Aufweichung dieses Proletariats durch das bürgerliche oder kleinbürgerliche Weltbild als Folge der höheren Bildung oder der Wohl­standsgesellschaft. Man muß hinzufügen, daß der Bruch mit der Bauernklasse noch nicht abgeschlossen ist, das heißt, daß in gewissem Maße das Proletariat Volk bleibt. Ich werde zum Beweis nur drei Beispiele anführen. Er­stens: die revolutionärsten Arbeiter bleiben am stärksten ihren Gewohnheiten verhaftet und wollen sie nicht ändern (z. B. die Schwierigkeit, Mülleimertypen zu wechseln, die Rationalisie­rung der Wirtschaft, Wasser- oder Gaszähler und vor allem eine Arbeitszeiteinteilung zu akzeptieren, die sie daran hindern würde, zum Essen oder zu einer festen Zeit nach Hause zu gehen). Zweitens: die Verwurzelung des Arbei­ters in seinem Viertel, in seiner Stadt oder in seiner Vorstadt, während die Industrialisierung mehr und mehr das Hinüberwechseln von einem Wirtschaftszweig zum andern und dami die Beweglichkeit der Arbeiter durch gan Frankreich, morgen vielleicht durch ganz Europa nach sich ziehen wird. Drittens schließlich: mit dem Verschwinden der Trennung der Geschlech­ter, die Übertragung des Festes (Übertragung, aber Aufrechterhaltung) auf die jährlichen Fe­rien, die ein großes Fest von drei Wochen sind, in dem die alten Mythen des wiedergefundenen Paradieses, des Anteilhabens an der Natur, der Liebe zu den Sirenen aus dem Unbewußten wieder auftauchen und in das Verhalten oder die Träume eindringen.

Die alte Arbeiterklasse hatte eine wohlstruktu­rierte Weltanschauung, die ihren traditioneller bäuerlichen Ursprüngen verhaftet war. Ihre Umwandlung in Proletariat hat diese Verbir dung zum Teil zerschnitten, und es steht fest daß es dem Proletariat nicht gelungen ist, sie eine proletarische Kultur zu geben. Das hat die Klasse der Intellektuellen (die nicht immer sei nem Schoß entsprangen) verpflichtet, ihm von außen diese neue Kultur zu geben. Es scheint] mir, daß diese neue Kultur zweideutig ist: au der einen Seite bot sie der Arbeiterklasse eine revolutionäre Weltanschauung an, die dazu be-» stimmt war, die Welt zu verändern (wir wür den sagen, eine prometheische und gleidizeit manichäische Anschauung des Kosmos], und atl der anderen Seite ließ sie den Traum vo tausendjährigen Reich in die alltägliche AktioB in die Praxis übergehen. Das Proletariat ha diese Zweideutigkeit nicht ertragen, es hat die Kultur, die man ihm gab, umgeformt: das revo lutionäre Ziel wurde auf die Zukunft oder au Sonntagsreden verwiesen und vom Ziel de Hebung des ökonomisch-sozialen Niveaus de Arbeiterklasse getrennt; letzteres bestimmt die alltägliche Praxis. Die Konsequenz dieses Dua­lismus ist, daß die alte Volkskultur (obwohl sie sich, wie wir gesagt haben, in einigen Bereichen selbst überlebt hat) die Tendenz hat, von der Kultur (und der Weltanschauung) der nächst­höheren Klasse, das heißt der kleinbürgerlichen Klasse, ersetzt zu werden.

Dieses Evolutionsschema, dessen Kürze und dessen mangelnde Nuancierung man entschuldi­gen möge, stellt uns hier einem neuen soziolo­gischen Phänomen gegenüber, das Goblot einst unter der Bezeichnung «Ia barriere et Je niueaufl untersucht hatte. Es wird sichtbar, daß einj| Klasse der Gesellschaft eine Weltanschauung von einer anderen Klasse erben kann, und daß diese Weltanschauung dann weniger eine neue Struktur als eine ältere ausdrückt. Oder zumin­dest, daß sie dann weniger eine Klassenstruk tur als eine Struktur der ganzen Gesellscha ausdruckt Und sicherlich ergeben sich bei die sen Wandlungen oder Übertragungen von einr Schicht auf eine andere Modifizierungen. Es bleibt festzuhalten, daß es eine gewisse Trans­zendenz der Weltanschauungen in bezug auf die historischen Bedingungen oder gesellschaft­lichen Infrastrukturen gibt. Hier also zwei Tatsachen, die sich aus diesen vorläufigen Betrachtungen abheben:

1) Anachronistische Antworten oder das Zurück­bleiben der Weltanschauungen hinter den struk­turellen Veränderungen.
2)
Übernahme einer Weltanschauung, die von einer anderen Gruppe geschaffen worden ist, durch eine gesellschaftliche Gruppe.

In beiden Fällen also die Anerkennung eines Denkens außerhalb der Geschichte. Amado Levy-Valensi kam mit einem anderen Aus­gangspunkt und einer viel allgemeineren Frage­stellung zu einer analogen Schlußfolgerung, als sie ein relativ autonomes Fortschreiten der Be­deutungswelt zeigte, «immer mehr oder weniger dem menschlichen Denken immanent», das daher rührt, daß der Mensch die Geschichte in der gleichen Zeit, in der er sie macht oder lebt, «denkt». Nun kann er sie aber nur unter den Gesetzen des Geistes durchdenken. Hätte unter diesen Bedingungen die Psychoanalyse nicht eine wichtigere Rolle zu spielen als die sehr untergeordnete, die wir ihr im ersten Teil die­ses Referates zuerkannt haben?

1) Jede Vorstellung von der Welt kann durch ein privilegiertes Individuum (Philosoph, Schrift­steller) oder durch eine professionelle Gruppe (Priesterkaste, Geheimgesellschaften usw.) zur Kohärenz gebracht werden. Es bleibt, daß diese Vorstellung von der Welt mehr als eine logische Folge ist: sie ist auch gefühlsmäßiger Stoff und eine Folge von Bildern; und wie wir sagten, sind diese Systematisierungen von Bildern, Be­griffen und Gefühlen relativ unabhängig, obwohl sie sich immer im Innern des gesellschaftlichen Systems entwickeln. Die Rolle der Psychoana­lyse und die der Soziologie sind also mehr ergänzender als widersprechender Art. Es ist nicht unsere Aufgabe, die möglichen Beiträge der Psychoanalyse zu katalogisieren, noch die Gültigkeit jedes dieser Beiträge zu beurteilen, sondern nur, die Möglichkeit eines solchen Bei­trags zu rechtfertigen. Ein Weltsystem kann, wie es Goldmann gesagt hat, wiederkommen, nachdem es für eine Zeit verschwunden war. Auch können, wie wir es bei der Arbeiterklasse gesehen haben, Weltanschauungen von anderen Gruppen übernommen oder entliehen werden. Denn die Klassen leben die gesellschaftlichen Zusammenhänge durch die Strukturen ihrer Subjektivität, und diese Strukturen sind Geset­zen unterworfen, die denen der Psychoanalyse gleichen. Es gibt, mit einem Worte, einen kon­stanten Abstand zwischen der Struktur der Denkformen und den ökonomisch-sozialen Infra­strukturen; die ersten sind allgemeiner als die zweiten. Mit diesem Abstand kann sich die Psychoanalyse beschäftigen.

2) Eine Weltanschauung ist uns wie ein Versuch erschienen, die Unordnung in Ordnung zu ver­wandeln, die Inkohärenz in Kohärenz, oder, wie wir es weiter oben gesagt haben, das Chaos in Kosmos. Goldmann hat gut gezeigt, daß dieser Übergang durch die zwischenmensch­lichen Beziehungen im Innern einer gesellschaft­lichen Gruppe stattfindet, und daß also die Weltanschauungen diese zwischenmenschlichen Beziehungen wiederspiegeln. Grundlegend bleibt natürlich die Tatsache, daß der Mensch fähig ist, den Dingen eine Bedeutung zu geben, was ihn ja vom Tier unterscheidet. Kurz, diese Möglichkeit einer Gruppe, eine eigne Anschau­ung des natürlichen oder sozialen Universums zu haben, beruht auf der vorrangigen Existenz der symbolischen Funktion. Nun haben sich wenige Wissenschaften so um die Erklärung des Symbolismus bemüht wie die Psychoana­lyse, und wir glauben, daß bestimmte Versuche, die Wirklichkeit zu interpretieren, zum Beispiel die tragische jansenistische Weltanschauung oder die optimistische des Cartesianismus, noch ergiebiger werden könnte, wenn man auf die Analyse der bedeutunggebenden Prozesse zu­rückginge, die die Psychoanalyse vorgelegt hat. Ich denke beispielsweise an die Arten der Be­ziehung zwischen der Symbolisierung und den Abwehrmechanismen. Die Geschichte ist der Ort, wo bedeutunggebende Systeme auftauchen, und die Genetik kann nur die Mechanismen des symbolischen Denkens fortschreitend erklären.

3) Indes ist es die Gesellschaft oder die gesell­schaftliche Gruppe, die die Bedeutung in diese oder jene Richtung lenkt. Wir haben in einem früheren Buch den Unterschied zwischen dem Triebhaften und dem Sozialen betont, so daß wir nicht darauf zurückkommen müssen.(2) Die Zusammenarbeit zwischen den soziologischen und psychoanalytischen Fachrichtungen ist nur möglich, sofern die beiden voneinander abgegrenzt bleiben. Einer jeden ihren eigenen Bereich. Es gibt Stufen des Erklärens und Felder des Verstehens. Diese Stufen sind voneinander abgesetzt, und die Felder sind ineinander verschachtelt. Die Psychoanalyse ist nur für eine dieser Stufen gültig, oder dann, wenn sie ihr Anwendungsfeld sauber umschreibt. Das gleiche gilt für eine Soziologie marxistischen Typs. Die Aufgabe desjenigen, der sich auf beide stützen möchte, ist, analog zu meinen heutigen Bemerkungen, im Grunde eine Aufgabe der Methodologie, nämlich: eine wahscheinlich bewegliche Hierarchie der Schichten
oder der Verschachtelungsgesetze der Felder zu errichten.

Fußnoten

1) Vgl. Karel Kosik: Zur Realismus-Diskussion. In. ALTERNATIVE Nr. 47/1866, S. 66 ff.
2) Roger Bastide: Sociologie et psychanalyse. Paris 1950.
 

Editorische Hinweise

Der Leseauszug wurde entnommen aus: alternative, Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Berlin, Oktober 1966, S. 5-7. Die Übersetzung besorgte Ursel Krieger. Der Text wurde als Vortrag auf dem Kolloquium "Literatur und Gesellschaft"  am 10.-12. Dezember 1965 an der Freien Universität Brüssel gehalten. Infos zum Autor siehe Wikipedia.

Von diesem Kolloquium veröffentlichten wir in TREND 7/2017 Das Subjekt der Kulturschöpfung von Lucien Goldmann