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aus: SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 29.10.1998, Seite 1

Keine Reformen

"Rot"-grünes Projekt verkümmert in den Startlöchern

von Adam Reuleaux

 

Die SPD eröffnete die Woche des Koalitionskonsenses mit der Symphonie mit dem Paukenschlag: Stollmann warf das Handtuch. Der als Wirtschaftsminister vorgesehene Computerunternehmer und neoliberale Flügelmann überstand die Koalitionsverhandlungen nicht.
Wer glaubt, mit ihm sei nur Wahlkampf gemacht worden, unterschätzt Schröder: seine Wirtschaftspolitik wird deswegen nicht weniger neoliberal aussehen.
Die Grünen eröffneten die Woche mit der Symphonie "Eroica" für Fischer: Mit ihrem Ja zur deutschen Beteiligung an NATO-Einsätzen außerhalb des Verteidigungsgebiets und ohne UN-Mandat haben sie ihren 4.August hinter sich gebracht.
Nicht einmal die Bedenken von Völkerrechtlern, daß eine NATO-Intervention im Kosovo unter den gegebenen Umständen ein glatter Rechtsbruch ist und damit ein Präzedenzfall geschaffen wird, konnte sie davon abhalten.
Einseitige Angriffe der NATO erhalten mit grünem Segen das Mäntelchen "humanitäre Gründe" - damit kann man einen Angriff auf die halbe Welt rechtfertigen. Die Grünen haben einen weiten Weg von der Hoffnungspartei der Opposition in diesem Land zur Regierungspartei des Militärschlags zurückgelegt.
Die dringenden Appelle von Friedensorganisationen wie dem Komitee für Grundrechte oder Pax Christi bzw. dem IPPNW - friedensbewegtes Urgestein - stoßen bei ihnen nicht mehr auf Resonanz. Die neue Regierung verdient allein wegen ihrer Haltung in der Kosovo-Frage scharfe Kritik.
Auf Schröder ist Verlaß: Die "rot"-grüne Regierung wird "nicht alles anders machen" versprach er vor der Wahl; nach der Wahl ist von Reformen so wenig zu spüren, daß die Jubelstimmung nach der Wahl unter den Anhängern der beiden Koalitionsparteien zu Recht in Enttäuschung umschlägt.
Zunächst gab sich die neue Koalition staats"männisch"; sie legte fest, daß die obersten Posten in Staat und Parlament Männern vorbehalten sind. Frauen werden Stellvertreterinnen und besetzen die weniger wichtigen Ministerien. Quote? Parität? Bei der Regierungsbildung doch nicht.
Ein Punkt, der vor allem von vielen Menschen türkischer Herkunft positiv aufgenommen wurde, ist der Plan zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts für die dritte, zum Teil zweite Generation von MigrantInnen. Hier sehen wir höchstens den Beginn einer echten Reform - und gegen Rassismus hilft auch der deutsche Paß nur begrenzt.
Allen, die die zweite Staatsbürgerschaft hilfreich finden, bleibt der Kampf um die tägliche Gleichbehandlung. Druck auf die Regierung ist auch hier nötig.
Konsens ist das Wort der Stunde: Konsens zwischen Bündnisgrünen und SPD-Männern.
Konsens mit der Atomindustrie - der Ausstieg ist zwar geplant, aber es gibt keine Festlegungen und keine Fristen. Die Industrie, die sich an der Atomenergie bereits eine goldene Nase verdient hat und mit der man ein Jahr lang über einen neuen "Energiekonsens" verhandeln will, wird sich einen Ausstieg vergolden lassen. Schließlich gibt es noch die Aussichten auf eine Ausstattung Osteuropas mit Atomkraftwerken. Wirtschaftsminister wird ein Atomenergiemann aus dem VEBA-Konzern.
Konsens mit der Autoindustrie: kein Tempolimit, keine deutliche Benzinpreiserhöhung zur Senkung der Umweltbelastung durch Lkw- und Pkw-Verkehr, kein Abschied vom Transrapid als Zeichen einer neuen Verkehrspolitik mit der Bahn.
Konsens mit den Konzernen: "Eine starke, wettbewerbsfähige und an Nachhaltigkeit orientierte Wirtschaft ist die Grundlage für Arbeitsplätze, für Wohlstand und soziale Sicherheit", lautet der erste Punkt im Koalitionsvertrag. Wo bleiben da die Arbeitsplätze? Nachhaltige Maßnahmen, die Unternehmen zur Investition in Arbeitsplätze zwingen - völlige Fehlanzeige.
Wie sollen die 100.000 arbeitslosen Jugendlichen Arbeit finden? Teilzeit, Altersteilzeit und Einstiegsteilzeit werden als Lösungen genannt. Wie man von Teilzeitlohn leben soll, sagt die neue Regierung nicht.
Die längst überfällige Einbeziehung der 620-Mark-Jobs in die Sozialversicherung wird man nicht als große Reform verkaufen können. Zumal die Altersarmut bei Rentnerinnen damit überhaupt nicht beseitigt ist.
Das groß angekündigte "Bündnis für Arbeit" beschränkt sich seitens der SPD darauf, die größten Eingriffe der Kohl-Regierung zu beseitigen: Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung, Rentenkürzung. An so wichtigen Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung, Begrenzung der Höchstarbeitszeit, existenzsichernde Grundsicherung für alle, Umverteilung von Reichtum fehlt es - d.h. es fehlt bei der Sozialdemokratie an einem deutlichen Reformwillen, und die Grünen stehen in steuer- und sozialpolitischen Fragen eher noch rechts von ihnen.
Die Ökosteuer ist das Ergebnis des Einschrumpfens umweltpolitischer Ziele auf Marktkonformität - die Erhöhung des Benzinpreises um 6 Pfennig und die von allen Normalverbrauchern, nicht aber der Industrie, zu zahlende Erhöhung der Energiepreise wird nicht dazu führen, daß ein Lkw oder Pkw weniger fährt.
Von der Erhöhung der Energiepreise soll die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt werden. Nun geht es in den ersten Schritten aber wahrhaft um kleine Summen: Um 0,8% Beitragssenkung zu erreichen, werden Pfennigbeträge auf Strom, Heizöl und Benzin erhoben.
Der Normalverdiener wird die erste Stufe der Entlastung kaum merken, dafür aber die Anhebung der Energiepreise. Die maximale Einkommensteuerentlastung wird bei mittleren Einkommen für Familien knapp 40 Mark monatlich ausmachen, die Kindergelderhöhung 30 Mark.
Je nach Fahrleistung und Stromverbrauch sind aber auch diese Entlastungen bald wieder aufgebraucht. Diese Art Steuerreform sollten die Arbeiter und Angestellten wirklich nicht zum Anlaß für tarifpolitische Bescheidenheit nehmen.
Ludger Volmer von den Grünen hat die außerparlamentarischen Bewegungen aufgefordert, Druck zu machen, weil die Grünen in den Koalitionsverhandlungen nicht alles durchsetzen konnten. Soll das das neue Oppositionsverständnis sein - linker Flankenschutz der Regierung?

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