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Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 325

EUROPA

Ansätze zu einer europäischen Gewerkschaftslinken

Bei dem Galoppritt zur europäischen Einigung gibt es einen großen Faktor, der bislang keine Rolle spielt: die traditionelle Arbeiterbewegung. Nun gibt es Ansätze, dies zu ändern.

von François Vercammen

 

Anfang der achtziger Jahre lief die Sozialdemokratie zu dem über, was sich bald zu einer allseitigen neoliberalen Offensive auswachsen sollte: mit sozialer Konterreform, einer "Bombardierung" mit reaktionärer Ideologie, Umverteilung zugunsten der großen Vermögen, Schwächung der Arbeiterorganisationen. Das Überlaufen sollte total werden. Nie zuvor in Friedenszeiten hatte die Sozialdemokratie jedwede programmatische Eigenständigkeit so weitgehend und so langandauernd aufgegeben. Um im "Rennen zu bleiben", dem um die Regierungsbeteiligung, zögerte sie nicht, das über Bord zu werfen, was seit den dreißiger Jahren ihr wahres Programm ausgemacht hatte: keynesianische Politik, Eintreten für öffentliche Dienstleistungen, strukturelle Eingriffe des Staats, wirtschaftliche und soziale "Programmierung", eine gewisse Unterstützung für die allgemeinen gesellschaftlichen Forderungen der Gewerkschaften.

Mit Erleichterung bzw. jubelnd (wobei der Fall der Berliner Mauer nachgeholfen hat) hatte sie sich auf die Perspektive der Währungsunion geworfen (Vertrag von Maastricht); verbunden war das mit dem Versprechen, daß die (erneuten) Opfer, die dieser erfordern werde, in der Folge eine neue Ära des Wohlstands sichern werde.

Die Führungen der großen Gewerkschaftsverbände folgten ihr auf diesem Weg. In jedem Mitgliedsland waren sie bemüht, die Forderungen in den Grenzen der Konvergenzkriterien zu halten. Von daher geriet jede nationale Arbeiterbewegung in die Konkurrenz unter Mitgliedsländern der EU. Damit war selbstverständlich jegliche europäische Kampagne, eine Mobilisierung oder ein Streik auf europäischer Ebene ausgeschlossen. Im Namen der rettenden Rolle der EU wurde die Perspektive einer aktiven und offensiven europäischen Gewerkschaftsbewegung, die eine soziale und politische Alternative verkörpert, verworfen. Aufgrund des Willens seiner nationalen Mitgliedsverbände ist der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) bislang nur eine armselige "pressure group" oder Lobby. Die traditionelle Arbeiterbewegung erreicht jetzt den tiefsten Grund. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß wir es mit einer dramatischen Situation zu tun haben.

Daß sich während dieser ganzen Zeitraums keine europäische Gewerkschaftslinke herausbilden konnte, um diese Orientierung in Frage zu stellen, stellt unter Beweis, daß die Krise der Arbeiterbewegung eine historische Dimension erreicht. Das geht deutlich über ein einfaches ungünstiges Kräfteverhältnis hinaus.

Die Veränderungen der Lohnarbeiterschaft durch eine Dynamik hin zu größerer Fragmentierung und Spaltung der Arbeitenden wirft erneut die Ausgangsfrage auf: Wie kann man unter diesen Bedingungen gewerkschaftliche Tätigkeit entfalten? Das Verflüchtigen der politisch-institutionellen Macht in Anbetracht der Globalisierung der Ökonomie und das Entstehen eines supranationalen europäischen Ansatzes lähmt nun eine hundertjährige Gewerkschaftspraxis, die auf vereinheitlichenden Forderungen beruht, die durch die Sozialgesetzgebung abgesichert wird. Die Entfernung bzw. das Abkoppeln von den sozialdemokratischen Parteien -- dem traditionellen Bezugsrahmen und Hebel der Gewerkschaftsbürokratie -- hat dann die Entwicklung komplett gemacht.

In diesem Zuge ist auch die traditionelle Gewerkschaftslinke schwächer geworden. Als aktive und zusammenwirkende Kraft gibt es sie in der EU so gut wie nicht, wobei die Lage von Land zu Land unterschiedlich ist. Überlegungen, Analyse und programmatische Vorschläge, um aus dieser Sackgasse herauszukommen, bedingen weitgehend die Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln. Dringend müssen die Aktions- und Organisationsformen vor Ort neu definiert, müssen die Verhaltensweisen, wie sie jeder wahrhaften Emanzipationsbewegung eigen sind, wiedergewonnen, müssen die gewerkschaftliche Aktivität über die Betriebe sowie das Verhältnis von Kapital und Arbeit hinaus unter Berücksichtigung sämtlicher unterdrückter Schichten in der Gesellschaft neu legitimiert werden. Und dies von vornherein auch auf der europäischen Ebene.

EUROPÄISCHE BERATUNGEN

Wir haben nun zwei höchst erfreuliche Nachrichten erhalten:

  • Zum einen den Aufruf von "Gewerkschaftern der Europäischen Union" aus Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien und Italien; sie machen den Vorschlag, auf der Grundlage eines Texts zur Lagebestimmung eine Versammlung abzuhalten. Eine Premiere! Erwähnt sei, daß es sich um Gewerkschaftsmitglieder handelt, die führende Positionen in bedeutenden Sektoren der Arbeiterbewegung haben.
  • Zum anderen die Versammlung von über 500 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Mailand (von denen manche eben den erwähnten Aufruf unterzeichnet haben), die unter Beweis stellt, welche Dynamik in Richtung potentieller Ausdehnung ein europäischer Zusammenschluß auslösen kann.

Es bleibt zu hoffen, daß diese unsicheren ersten Schritte -- die das Netzwerk der Euromärsche gewissermaßen angekündigt hatte -- sich in der Europäisierung der Kämpfe bestätigen können. Der politische Kontext ist hierfür geeignet. 1999 wird der Euro eingeführt werden, womit zum ersten Mal eine richtiggehende europäische Exekutive ins Leben tritt. Die europäische Sozialdemokratie, die in der europäische Kommission bereits über eine Mehrheit verfügt und die sämtliche Regierungen (mit Ausnahme von Spanien) dominiert, wird sie in die Pflicht genommen werden, das umzusetzen, was sie unter einem "sozialen und demokratischen Europa" versteht.

Wir werden es ihr am 5. Juni 1999 in Köln massiv ins Gedächtnis rufen, wenn dort das Gipfeltreffen der EU stattfindet und wir dort auf der Straße sein werden.


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