zurück

 

aus Konkret 07/94, S. 12

Eike Geisel

Runder Tisch mit Eichmann

Ueber den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt

 

 

Die Entdeckung des Jahres ist der »gute Nazi«. Bis vor kurzem war diese Formel als Verdikt im Gebrauch. Bezeichnet wurde damit das besonders ruehrige Mitglied einer kriminellen Vereinigung. Seit Oskar Schindler - aussen Nazi, innen gut - weiss man es besser. Und dieser Einzelfall hat Appetit auf mehr gemacht. Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollen nun aus besonderem Anlass jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug. Jetzt steckt man Schindler in Uniform und laesst ihn in Kompagniestaerke zum 50. Jahrestag der Offiziersrevolte gegen Hitler als Repraesentanten des »anderen Deutschland« antreten.

Mit den jaehrlichen offiziellen Feiern zum 20. Juli war man bislang nicht besonders erfolgreich gewesen. Und Generationen von Schuelern der Bundesrepublik gaehnten an diesem Tag, wenn ihre Geschichtslehrer den Versuch unternahmen, ihnen die Militaers des 20. Juli paedagogisch schmackhaft zu machen. Man sollte sie schaetzen lernen als eine Art Johanniter-Unfallhilfe, als Vorlaeufer eines Kirchentagspraesidiums oder als fruehe Kinkel-Initiative, weil es den Verschwoerern schon damals hauptsaechlich um das Ansehen Deutschlands ging. Doch dass die Naziarmee keine Verbrecherbande, sondern ein Verein zur Veranstaltung von Abenteuerreisen gewesen war, das glaubte allenfalls noch die Bundeswehr. Selbst ein CDU-Politiker gelangte trotz der jaehrlichen patriotischen Pflichtuebung einmal zu der kurzlebigen Einsicht, dass Auschwitz nur solange funktionierte, wie die Wehrmacht dafuer die logistischen Hilfsdienste leistete.

Die Schueler begriffen nur, dass Aufstand in Deutschland eine ziemlich verschlafene Angelegenheit sein musste, wenn die endlosen Debatten und Denkschriften der Verschwoerer ein »Aufstand des Gewissens« sein sollten. An diesem besonderen Tag wurde man als Jugendlicher regelmaessig mit Gewissenskonflikten von Leuten gelangweilt, die sich endlos damit abgequaelt hatten, ob sie Hochverrat ueben, ihren Eid brechen oder Tyrannenmord begehen duerften. Andererseits hatten sie keine sichtbaren Probleme damit gehabt, halb Europa in Schutt und Asche legen und Millionen von Menschen umbringen zu lassen. Dass ausgewiesene Zerstoerungs- und Vernichtungsexperten in genau dem Augenblick, als die Firma pleite ging und sie den Chef loswerden wollten, sich als absolute Dilettanten erwiesen, das konnte keinen nachhaltigen Eindruck bei jungen Leuten hinterlassen, die im Unterricht etwas ueber Julius Caesar, Ludwig XVI. oder den Zaren erfahren hatten.

Mit vielen anderen, die die Erinnerung an den 20. Juli fuer einen nationalpaedagogischen Auftrag halten, bedauert Graefin Doenhoff seit Jahren, »dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein eingegangen ist«. Mehr noch als heimisches Desinteresse macht sie dafuer die westlichen Alliierten verantwortlich, denen sie bis heute nicht verziehen hat, dass diese die Militaers damals nicht als gleichberechtigtes Gegenueber, sondern als politische Bankrotteure betrachteten. »Im Ausland aber wurde die Existenz eines deutschen Widerstands von den Alliierten wider besseres Wissen geleugnet«, heisst es in ihrem gerade erschienenen Jubilaeumsbuch Um der Ehre willen.Fuer ganz besonders ehrabschneiderisch haelt sie eine Erklaerung Churchills, der damals im britischen Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgaengen des 20. Juli 1944 handle es sich »um Ausrottungskaempfe unter den  Wuerdentraegern des Dritten Reiches«. Mit Sicherheit irrte der Premier nicht darin, dass er von den Wuerdentraegern Deutschlands sprach. Am meisten aber nimmt Graefin Doenhoff den Englaendern noch heute uebel, was schon die Militaers 1944 mehr umgetrieben hatte als der organisierte Massenmord: »Vermutlich wollte Churchill nicht nur Hitler erledigen, sondern ein fuer allemal die Macht der Deutschen brechen.« Graefin Doenhoff wird Trost bei dem Gedanken finden, dass wie zur Rache fuer jene vernuenftige Absicht die »Ehre« der Verschwoerer nun wiederhergestellt ist, indem deren Vorstellung von einem vereinten Europa unter deutscher Vorherrschaft endlich verwirklicht scheint.

Seit der Wiedervereinigung und seit insbesondere auch die ehemaligen Friedensfreunde heftig nach dem ersten Grosseinsatz der Armee rufen, ist das Beduerfnis gewachsen, auch an dieser Front die Geschichte zu entsorgen. Jetzt kommen wieder die psychologischen Ladenhueter des deutschen Landsers zu Ehren, der sich, je weniger er es selbst glaubte, desto heftiger einreden musste, dass er anstaendig geblieben sei. »Das ist die einzige Lebensform, in der man noch mit einigem Anstand existieren kann«, kolportiert zustimmend Graefin Doenhoff die Auskunft des Mitverschwoerers Schulenburg, der, ehe er 1941 mit einigem Anstand seinem Kriegstagebuch anvertraute, der Ueberfall auf die Sowjetunion sei ein »Auftrag des Schicksals«, 1932 in die NSDAP eingetreten war.

Auch die Rechtsradikalen wollen bei dieser Generalueberholung nicht abseits   stehen. Galten ihnen bislang die Verschwoerer, die den Mut fuer das Attentat aufbrachten und mit dem Leben dafuer bezahlten, alle samt und sonders als Verraeter, so verleihen sie ihnen nun, im Einklang mit dem Beduerfnis nach einer gemeinsamen Nationalerinnerung, posthum den Ehrentitel von »Reformnationalsozialisten«. Wolfgang Venohr, ehemals Chefredakteur von »Stern TV«, auf seine alten Tage vom jungen Hitler begeistert, erklaerte angelegentlich seiner eben erschienenen Rehabilitierungsschrift Patrioten gegen Hitler, warum der Widerstand eine Notwehrmassnahme war, mit welcher der Nationalsozialismus gerettet werden sollte. Ueber die nun ehrenvollen Motive der Verschwoerer, die nur Hitler vor Hitler schuetzen wollten, sagt Venohr: »Hitler hatte in ihren Augen sein eigenes Credo verraten, als er vom Nationalisten zum Imperialisten denaturierte. Die Grundidee des nationalen Sozialismus bekaempften die jungen Aktivisten des Widerstands mitnichten. ...Man koennte sagen: Sie erstrebten einen nationalen deutschen Sozialismus mit  menschlichem Antlitz.« Wie auch immer begruendet, wuerde Graefin Doenhoff dagegen einwenden, »entscheidend war nur, ob der Betreffende fuer oder gegen Adolf Hitler war. Ob er dies als Monarchist, Sozialist oder aufgeklaerter Konservativer war, das interessiert niemanden, jedenfalls nicht in der fruehen Phase.« In der etwas spaeteren Phase wird man aber vielleicht nachfragen muessen, ob in diesem pluralistischen Panorama nicht eine Farbe fehlt. Wenn schon alle in einen Topf geworfen werden, dann sollte man den Antisemitismus als wuerzende Zutat nicht vergessen. Er hat dem Verschwoererkreis naemlich genau jenes Aroma verliehen, das Hannah Arendt 1963 in einem Brief an Karl Jaspers folgendermassen beschrieben hat: »Was ich meine, ist, dass jeder, der politisch auftrat, auch wenn er dagegen war, auch wenn er im geheimen ein Attentat vorbereitete, in Wort und Tat von der Seuche angesteckt war. In diesem Sinn war die Demoralisation komplett.«

Die Verschwoerer des 20. Juli duerfen Reaktionaere oder Reformer, Nazis, Parafaschisten oder Christen gewesen sein, aber von ihrem antijuedischen Einverstaendnis soll nicht die Rede sein. Selbst der renommierte Historiker Hans Mommsen wiedersteht in seinem immer wieder aufgelegten und ueberarbeiteten Essay ueber »Gesellschaftsbild und Verfassungsplaene des deutschen Widerstands« erfolgreich der Versuchung, auch nur andeutungsweise diesen politischen Charakterzug der ganzen Verschwoerung zu erwaehnen. Einzig die akademische Garde, die der Ullstein-Verlag juengst mit der Rettung der Nation durch Rainer Zitelmann und den Sammelband Fuer Deutschland beauftragt hat, zeigt keine Scheu, die antisemitische Grundausstattung vieler Akteure des 20. Juli offenzulegen: »Dem Gedanken, die Juden aus ihrer teilweise beherrschenden Stellung im Zeitungs- und Theaterwesen zurueckzudraengen, stimmten die Stauffenbergs zu.« Gelegentlich aber sind die Autoren sogar selber ratlos angesichts der Weiterungen derartiger Kavaliersdelikte und »muessen zugeben, dass wir es nicht wissen«, warum General Stuelpnagel ein Schreiben des Oberkommandos in Russland unterzeichnete, in welchem ein »vermehrter Kampf gegen das Judentum« gefordert wurde, oder warum er verlangte, »bei Notwendigkeit raschen Zugriffs besonders (auf) die juedischen Komsomolzen als Traeger der Sabotage und Bandenbildung« zurueckzugreifen.

Derlei darf das offizielle Gedenken nicht belasten, denn die Offiziere des 20. Juli sollen ein moralisches Bindeglied der neuen Grossmacht zu ihrer eigenen Vergangenheit sein. Traditionsbewusst, allerdings etwas vorlaut, hat sich dabei neulich das Wachbataillon der Bundeswehrhervorgetan, indem einige seiner Angehoerigen zur Ausfuehrung eines inneren Tagesbefehls schritten und »Juden raus!« groelten.

Bei der Gedenkfeier zur 50jaehrigen Wiederkehr des Attentats koennten sie durchaus unter dieser Parole antreten, denn das »andere Deutschland«, das hier gefeiert werden soll, war, wie Hannah Arendt schrieb, »noch durch einen Abgrund von der zivilisierten Welt getrennt«. Soll heissen, die Protagonisten des 20. Juli haetten sich mit Eichmann durchaus an einem Runden Tisch zur Judenfrage zusammensetzen koennen, denn auch sie wollten eine Loesung der Judenfrage, eine »Dauerloesung«. Bei diesem Treffen haetten sie Eichmann dann versichert, sie »haetten die Rassengrundsaetze des Nationalsozialismus an sich bejaht, haetten sie aber fuer ueberspitzt und uebersteigert gehalten« (so ein Bruder des Attentaeters beim Verhoer durch die Gestapo, s. den »Tigersprung« in diesem Heft, S. 15). Diese Einschraenkung allerdings haette Eichmann weniger interessiert als die Durchfuehrungsbestimmungen, die von der praesumptiven Regierung vorgesehen waren. Denn hier haette er sich wieder auf vertrautem Terrain befunden. »Ich komme immer noch in die alte Tour«, wird er spaeter in Jerusalem sagen, wo ihm vorgehalten wurde, er rede immer noch wie ein waschechter Nazi. Genau diese »alte Tour« aber war von den Verschwoerern gefragt. Vertraut gewesen waere Eichmann nicht nur der Ton der Gruppe (»Dass das juedische Volk einer anderen Rasse angehoert, ist eine Binsenweisheit«), sondern auch deren Vorstellung, die Juden in Kanada oder Suedamerika anzusiedeln. Das war nichts anderes als eine Reprise des »Madagaskar-Projekts«, mit dem sich Eichmann 1940 beschaeftigt hatte, als er mit der Austreibung der Juden aus Deutschland und Oesterreich nicht mehr so richtig vorankam. Eichmann jagte, wie er spaeter nicht ohne Stolz bekannte, die Juden aus Sympathie fuer den Zionismus aus dem Deutschen Reich hinaus. Von aehnlicher Zuneigung war die Absicht der Verschwoerer durchdrungen, im Fall der Putsch gelaenge, die Juden nach Uebersee zu verfrachten, denn die Welt kaeme nicht eher zur Ruhe, so ihre Auffassung, bis nicht eine globale »Neuordnung der Stellung der Juden« erreicht sei. Alte Bekannte waeren fuer Eichmann auch die juristischen Massnahmen zur Ausgrenzung von Juden im Innern gewesen. Eingedenk der von vielen Veschwoerern geteilten Auffassung, dass - so ein Stauffenberg-Bruder im Verhoer - »die Grundideen des Nationalsozialismus ... in der Durchfuehrung fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden (sind)«, besann man sich auf eine nationalsozialistische Grundidee, auf einen Passus des sogenannten 25-Punkte-Programms der fruehen NSDAP, in dem einigen »Verdienstjuden«, wie sie spaeter hiessen, die Moeglichkeit eingeraeumt wurde, deutsche Staatsangehoerige zu werden. Goerdeler, dessen Handschrift alle diese 1942 formulierten und noch in der Todeszelle bekraeftigten Verwaltungsbestimmungen tragen, brauchte nur bei sich selbst abzuschreiben: Im Sommer 1934, damals noch Oberbuergermeister von Leipzig, hatte er sich in einer Denkschrift fuer eine »Konsolidierung der deutschen Rassepolitik« eingesetzt. Diese muesse sich, hatte er damals ausgefuehrt, »unter eiserner Disziplin und unter Vermeidung von Ausartungen und Kleinlichkeiten vollziehen«. Um Schlimmeres, naemlich die unkontrollierten Uebergriffe, zu verhindern, hatte er damals fuer Schlimmeres plaediert: ein Sonderrecht fuer Juden, das die Nazis dann auch zuegig verwirklichten. Diese einfuehlsame Voraussicht auf die buerokratisch-legalistischen Beduerfnisse der Nazis ist als »Versuch der Durchsetzung einer alternativen Politik« in den Titel einer neueren wissenschaftlichen Untersuchung eingegangen.

Eichmann haette den Verschwoerern, die er natuerlich alle fuer Lumpen hielt, aus eigener Erfahrung bestaetigen koennen, was die Gestapo im Verhoerprotokoll mit Geringschaetzung vermerkt hatte, naemlich dass sie in ihrer »Einstellung zur Rassenfrage ... auch nicht ueber einen einzigen neuen fruchtbaren und konstruktiven Gedanken verfuegten«. Neu war keiner der Gedanken, die der als Reichskanzler vorgesehene Goerdeler in seiner Denkschrift »Das Ziel« fuer die Verschwoerergruppe formuliert hatte. Neu und nun wirklich originell war freilich, dass die Verschwoerer sich Massnahmen zur Sonderbehandlung von Juden ausdachten, die schon sonderbehandelt, naemlich ermordet waren.

Heute ist deshalb nicht die Tatsache der Skandal, dass ein Angehoeriger der   Familie Stauffenberg damit droht, die Gedenkstaette in Berlin wie die Feierlichkeiten zu boykottieren, wenn dort, wie ihm Venohr souffliert, die   »Patrioten des 20. Juli mit Landesverraetern moralisch auf eine Stufe gestellt (werden)«, wenn dort also auch antifaschistischer Widerstandskaempfer gedacht werden sollte. Er hat mit seinem Protest voellig recht. Denn die Kommunisten haetten, waere der unwahrscheinliche Fall einer Revolution gegen die Nazis eingetreten, seinen Vater wie alle anderen Militaers zum Teufel gejagt - im besten Fall. Selbst Sozialdemokraten fanden damals noch angemessene Worte, die ihnen wenig spaeter recht peinlich waren. In einer New Yorker Emigrantenzeitung schrieb Friedrich Stampfer wenige Wochen nach dem missglueckten Attentat: »Nicht nur die Revolution, auch die Konterrevolution  frisst ihre eigenen Kinder. Es ist immerhin ein Fortschritt, dass die Galgen schon stehen. Man wird sie noch brauchen.«

Man brauchte sie bekanntlich nicht. In Deutschland war es nicht einmal noetig, »die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schuetzen«, wie Hannah Arendt 1950 in einem Bericht ueber die Nachwirkungen der Naziherrschaft  notierte. »Diesen Zorn gibt es naemlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.« Zu dieser Zeit hatten die Sozialdemokraten das Wirtschaftswunder noch vor, ein anderes Wunder aber bereits hinter sich,  naemlich »das eine grosse Wunder, dass nach zwoelf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anstaendig geblieben sind« (Kurt Schumacher 1946).

Der Skandal heute besteht darin, dass die Reste der antifaschistischen Linken nicht auf dem Riss beharren, der durch die Geschichte geht. Auch sie wollen heim ins Reich, wenigstens ins Reich der Erinnerung.


nach oben