aus *UZ* unsere zeit, Zeitung der DKP,
Nr. 47 20. November 1998 Chile Der neue Salvador Allende
|
Wichtige Momente in der politischen
Situation Chiles: 1. Seit Jahren profiliert sich der Sozialist Ricardo Lagos, der neue Salvador Allende in den Augen der Rechten und Militärs, als der stärkste Führer des Regierungsbündnisses und wahrscheinlicher Kandidat der Mitte-Links-Koalition (der Concertación) für die Präsidentenschaftswahl in Dezember 1999. Lagos bekommt eine bedeutende politische und materielle Unterstützung seitens der europäischen Sozialdemokratie. 2. Pinochet beginnt eine strategische politische Operation, die darauf gerichtet ist, den Kandidaten der DC (Christdemokraten), Andres Zaldivar, zu unterstützen. Er kann auf Zustimmung aus Kreisen der Rechtsparteien und des raktionären Flugels der DC rechnen und zielt auf eine Spaltung der Concertación und Opferung der Rechtskandidaten (ähnlich wie 1964: alle Kräfte von Rechts für Eduardo Frei M. gegen Allende), um den Sozialisten Ricardo Lagos stoppen zu können. 3. Der Militärstaatsanwalt des Heeres, engster und langjähriger Berater Pinochets, flog nach Spanien, um sich dort über die rechtliche Situation Pinochets in Spanien und Europa zu informieren. Er sah keine rechtlichen Probleme für die Reise Pinochets nach Europa. Auch die anderen persönlichen Berater nicht. 4. Pinochet vereinbart mit der Regierung seine Reise nach England aus medizinischen Gründen, bekommt wie gewöhnlich zu seinem Schutz einen Diplomatenpaß mit der entsprechenden Immunität. Das gehört zum politischen Kompromiß zwischen der Concertación und dem Militär (1989), den Diktator und seiner Familie bis zu seinem Tode national und international zu schützen. 5. Die Kommunisten, die den nationalen Streik der Lehrer führen, erreichen Anfang Oktober fast 70 Prozent der Stimmen zur Wahl der Führung der Lehrergewerkschaft, die stärkste und organisierteste Organisation der Werktätigen Chiles. Die Concertación erreicht 25 Prozent und die Rechtsparteien 8 Prozent. Diese Tatsache soll die These der Ultrarechten beweisen, daß die Schwäche der heutigen Regierung und die daraus resultierende Unruhe und Unordnung den Weg für den Kommunismus in Chile frei machen würde. 6. Pinochet wird operiert. Nach Chile kommt die eigenartige Information, ohne bekannte Quelle, daß Pinochet tot sei. 7. Wie bekannt, wird Pinochet in England festgenommen. Was die chilenischen Gerichte in acht Jahren postdiktatorischen Regimes nicht vermochten bzw. nicht wollten, nämlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Chile und ihre Täter zu verfolgen und zu bestrafen, wird von europäischen Gerichten getan. 8. In Chile explodiert die Information wie eine Bombe: Die große Mehrheit des Landes freut sich riesig. Endlich etwas Gerechtigkeit! Eine wegen ihrer ökonomischen, politischen und militärischen Macht bedeutende Minderheit reagiert fieberhaft, verzweifelt, unrationell: die vereinbarte und gewohnte strikte Unangreifbarkeit der alten Machthaber ist plötzlich zu Ende. Das Symbol ihrer Macht ist festgenommen - so kann es nicht weitergehen! Sie bangen nicht nur um die Immunität für die Verbrecher, sondern auch um die vielen heutigen Reichtümer im Lande, die während der Diktatur über dunkle Wege entstanden sind. Die Chilenen spalten sich in zwei deutlich entgegengesetzte Lager, besser gesagt, der offene Bruch zwischen den Chilenen wird sofort augenscheinlich. Niemand bleibt indifferent. 9. Die Mitte-Links-Regierung wurde völlig überrascht, stellt sich von Anbeginn offen hinter Pinochet, pocht auf seine diplomatische Immunität, später werden humanitäre Gründe für seine Freilassung eingeführt. In diesem Moment ist Präsident Frei in Portugal. Seine Mitarbeiter in Chile sind bis auf wenige Ausnahmen unfähig, die plötzlich neu enstandene Situation zu meistern. 10. Die Regierungsparteien spalten sich. Einerseits die Führung der Christdemokraten und andere rechtsorientierte Kreise und Persönlichkeiten dieser Partei. Andererseits alle Linksparteien, Kreise der DC, die Jugendorganisation der DC. Die ersteren waren Hauptakteure bzw. Vorantreiber des urprunglichen Kompromisses mit Pinochet 1989. Die anderen kämpften jahrelang gegen den Diktator. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Parteien werden deswegen immer wieder auftreten und sich in bestimmten künftigen Situationen vertiefen. 11. Bei fehlender Gerechtigkeit wegen der langjährigen Verletztung der Menschenrechte im Lande und überhaupt aller Rechte der Chilenen spaltet die Figur des Diktators die chilenische Gesellschaft immer noch unvermeidlich: in Sieger und Besiegte, Mörder und Opfer, Rechts und Links, Reiche und Arme, Militärs und Zivilisten. Von der sogenannten Wiedergutmachung (Reconciliación) ist keine Rede mehr. 12. Die Rechtsparteien und -politiker reagieren geschlossen und extrem agressiv. Die Rechtssenatoren haben den Senat und damit einen wichtigen Teil des Staates durch Sitzungsboykott lahmgelegt. Profaschistische Oberbürgermeister der wohlhabenden Sektoren Santiagos, und danach auch andere, rufen zu zivilem Ungehorsam auf. Sie suchen die Konfrontation mit der Zentralmacht des Landes, treffen selbständig Maßnahmen z. B. gegen die englischen und spanischen Botschaften sowie andere Institutionen und Unternehmen dieser Länder. Rechte Politikerinnen rufen zur Bildung einer Frauenbewegung zur Verteidigung der nationalen Würde. Sie gehen auf die Straße und rufen auf, spanische und englische Produkte und Unternehmen zu boykottieren. Zunächst unterstützen sie die Aktionen der Regierung ohne Wenn und Aber, allmählich aber distanzieren sie sich von ihr, verlangen eine Radikalisierung des politischen Tuns. Sie erpressen die Regierung und alle demokratischen Kräfte: Entweder bleibt die abgesprochene Immunität, oder alles Erreichte im Sinne der Demokratie befindet sich in akuter Gefahr. Dazu verfügen sie über das Monopol der Medien im Lande, alternative Presse und Fernsehen gibt es praktisch nicht. 13. Es entwickelt sich eine faschistische Massenbewegung, die jeden Tag auf die Straße geht und gegen die Polizei sehr agressiv, aber unbewaffnet kämpft: Junge Leute, Frauen, Männer, Politiker vom ganzen Rechtsspektrum. Sie führen unterschiedliche Massenaktionen durch. Sie übernehmen politische Symbole sowohl des Kampfes gegen Allende (cacerolazos - das Klappern mit Kochtöpfen) als auch solche aus dem Kampf gegen die Diktatur. 14. Linke Kreise gehen auch jeden Tag auf die Straße, um die Festnahme von Pinochet zu feiern und zu unterstützen. Obwohl die Mehrheit des Landes die Festnahme unterstützt, ist aber die agierende Massenbewegung bezüglich der Gefährlichkeit der entstandenen Situation zahlenmäßig schwach. Dazu trägt auch bei, daß es bis heute keine klärenden politischen Analysen und Erklärungen zum Wesen der Situation des Landes, weder seitens der Regierungslinken noch von den Kommunisten gibt. Deswegen unterschätzen die demokratischen Kräfte Chiles die vorhandenen Gefahren. Es wird eher die Regierung angegriffen und die Situation im rechten Lager nicht differenziert. Der Hauptfeind im Augenblick wird nicht deutlich erkannt, alles und alle werden in den gleichen Sack geschmissen. 15. Die Reaktion der Regierung ist schwach und ängstlich. Sie war anfänglich nicht in der Lage, die Symptome einer sich entwickelnden Machtanarchie zu stoppen. Sie war kopflos. Frei ist erst mehrere Tage nach dem Krisenausbruch aus dem Ausland zurückgekehrt. Eine entscheidende Rolle in der Entwicklung einer Regierungsstrategie spielten die Vertreter der Sozialisten in der Regierung, besonders Außenminister Insulza und Arrate (Generalsekretär der Regierung und Regierungssprecher). 16. Die großen Unternehmerorganisationen stellen sich logischerweise auch auf die Seite Pinochets, lehnen aber jede Art von Boykott gegen England und Spanien ab. Sie befürchten internationale kommerzielle Konzequenzen für das Land und ihre Geschäfte, wenn sich tatsächlich Unruhe und Unordnung in Chile breit machen würden. Sie bevorzugen Stabilität und wollen alle Proteste (auch aus dem eigenen Lager) in bestimmtem Rahmen halten. 17. Mehrere einlußreiche faschistische Generäle a. D. sind mehrmals öffentlich aufgetreten und haben sich geschlossen hinter Pinochet und gegen die Engländer und Spanier gestellt, mit drohenden Worten zwar, aber oftmals rationeller und besonnener als viele Rechtspolitiker. Ihrer Meinung nach ist die entstandene Gesamtlage sehr gefährlich. Sie charakterisieren die Aktion der Regierung als richtig und rufen dazu auf, die Armeeführung zu unterstützen, damit ihre Aktionen im Rahmen der von ihnen selbst verfaßten Verfassung bleiben kann. Im Laufe der Tage beginnt ein Differenzierungsprozeß im Lager der Rechtspolitiker (Sebastian Piñera - Präsidentschaftskandidat der Rechten). 18. Die sehr einflußreiche katholische Kirche, bedeutende Helferin der Verfolgten in Zeiten der Diktatur und Hauptträgerin der Politik zur Wiedergutmachung, nahm eindeutig Stellung gegen das verantwortunglose Tun der rechten Politiker. Dazu Monsignore Errazuriz, Erzbischof von Santiago: "Nichts wäre passiert, wenn in Chile vorher Gerechtigkeit geübt worden wäre". Sie ruft zur Besonnenheit und Ruhe auf, erkennt die vorhandene Gefahr, die von der extremen Rechten ausgeht und versucht, zu einer schnellen Klärung der Situation von Pinochet beizutragen, auch über den Vatikan. 19. Sehr überraschend trat eine sehr bekannte faschistische Nichte von Pinochet und ehemalige Justizministerin der Diktatur an die Öffentlichkeit. General Pinochet sei nicht nur sehr schlecht beraten, sondern von einigen seiner engsten Berater verraten worden. Sie nennt Namen. 20. Der Oberkommandierende des Heeres, General Izurieta, hat alle Offiziere Santiagos zu einem Treffen befohlen. Er versucht zu beruhigen, seine Führungsrolle zu stärken, koordiniert seine Aktionen mit der Regierung, dankt dem Präsidenten für seine Bemühungen zur Freilassung von Pinochet. Einerseits verlangt er die Freilassung des Ex-Oberbefehlshabers und andererseits versucht er weiter im Rahmen der Verfassung zu handeln und die Unruhe innerhalb der Armee zu kanalisieren. 21. Viele bekannte Persönlichkeiten der Linken, danach auch Leute von den Christdemokraten, von den Rechtsparteien und sogar der General Izurieta, bekommen wiederholt Morddrohungen. Eine Bombenatrappe wird im streng bewachten Parkplatzareal der britischen Botschaft gefunden. 22. Es herrscht ein Klima allgemeiner Angst und Unruhe. Die Menschen spüren die Gefahren, ohne ein klares Bewußtsein darüber zu besitzen, die Schwächen der Regierung, erkennen aber nicht richtig, was die Rechten eigentlich erzielen wollen, sehen deutlich, welche (absolute) Macht der Pinochetismus im Lande besitzt, wollen keinen Putsch und keine Diktatur. Die Logik der chilenischen Ereignisse 1. Die Ära Pinochets in Chile ist zu Ende gegangen. Für alle praktisch-politischen Zwecke ist Pinochet schon vorüber: Der König ist tot - es lebe der König! Die Gegenseite der Concertación im politischen Kompromiß, der den Übergang zur Demokratie (Transición) ermöglichte, sind Pinochet und die Kräfte gewesen, die im Begriff Pinochetismus beinhaltet sind. 2. Pinochet war ein überaus wichtiger Faktor der Stabilität der Transición in dem Sinne, daß er die Geschlossenheit des Heeres und überhaupt der Armee garantieren konnte. Trotz der Tatsache, daß er als Synonym für Verrat und Mord in die Geschichte eingegangen ist, waren wegen seiner Haltung und persönlichen Ziele, sein Gesicht zu reinigen, Meutereien und andere Formen der militärischen Subversion nach 1990 nicht möglich. Im Gegensatz zu Argentinien, wo es nach dem Wechsel zur Demokratie zu mehreren schweren Meutereien ganzer Regimenter kam! Das heißt, Pinochet setzte seine Hegemonie und Führungsrolle innerhalb des Militärfaschismus und überhaupt im ganzen rechten Lager nach der Beendigung der Militärdiktatur durch. Das heißt, objektiv gesehen ist durch seine Verhaftung die Achse der Stabilität der Transición verlorengegangen, es muß eine neues Gleichgewicht entstehen. 3. Der Pinochetismus bei allen existierenden veschiedenen Schattierungen besitzt die absolute Macht im Lande. Er besteht aus einem Netz von Verflechtungen von militärischer, ökonomischer und politischer Macht. Das Militär ist andererseits nicht mehr in Chile ein bloßes Machtinstrument der herrschenden Klasse, es hat jetzt seine eigenen korporativen Interessen, verflochten mit der dominierenden sozialen Klasse, übte es 17 Jahre lang die unmittelbare Staatsmacht aus. 4. Es entwickelt sich unterirdisch und schleichend, innerhalb des Militärfaschismus ein Kampf um dessen Führung, besonders seitens der extremsten, agressivsten Kreise. Solche Kreise entstammen besonders der ehemaligen DINA, dem schlimmsten repressiven Instrument der Diktatur (offiziell: 1973-1975, aber bis heute in anderen Formen existent). Der Chef der DINA, General Contreras, damals unmittelbar Pinochet unterstellt, wurde in den 90er Jahre von seinem ehemaligen Chef geopfert und sitzt seit ein paar Jahren in einem speziellen Militärgefängnis ein, vom normalen Leben isoliert hat er aber Fax, Telefone, Internet usw. zur Verfügung. Auf der anderen Seite befinden sich der Oberkommandierende des Heeres und seine Kräfte, die versuchen, den personellen Einfluß des extremen Pinochetismus allmählich aus dem Offizierskorps zu entfernen. In den letzten Monaten wurden etwa 200 Offiziere des Heeres, die unmittelbar mit der Verletzung der Menschenrechte verbunden sind, von der Institution außer Dienst gestellt. 5. General Contreras hat in seinen Händen Informationen über alle bedeutenden Menschen im Lande, Politiker und Militärs eingeschlossen. Er ist der denkende und agierende Kopf und Symbol des extremen Militärfaschismus in Chile. Dieser Kreis zielt darauf, das Werk von fast 20 Jahren Militärregierung weiterzuführen. Die Operacion Condor, die in Zeiten der Diktaturen der 70er und 80er Jahre die Koordinierung der Repression in den verschiedenen Ländern Südamerikas darstellte, geht in der neuen politischen Situation der 90er Jahre weiter. Jede demokratische Erscheinung wird von diesem Kreis mit Kommunismus gleichgesetzt. Deswegen sind sie absolut gegen die heutige Regierung Chiles, gegen die Spielräume, die die Links- und Volksorganisationen erkämpften, aber auch gegen den heutigen Oberkommandierenden des Heeres, der nach ihrer Meinung, der Regierung zu nahe steht oder nicht konsequent genug an der Verteidigung des Militärswerkes ("die Neubegründung Chiles") arbeitet. 6. Um solche Ziele erreichen zu können, müssen Verschiebungen in den militärischen Machtverhältnissen (besonders im Heer) erreicht werden. Deswegen wurde von diesem extremen Kreis eine großangelegte konspirative Operation in Gang gesetzt, besonders gegen Militärs und Politik gerichtet. Sie haben sogar Leute vom eisernen Kreis Pinochets für ihre Ideen und Ziele gewonnen. 7. Nur so lassen sich die positiven Empfehlungen seiner langjährigen hochspezialisierten und informierten Berater verstehen, Pinochet kann problemlos und risikolos nach Europa reisen. In den Worten der Nichte des Diktators: Verrat. Er wurde geopfert, genauso wie umgekehrt Contreras von Pinochet, um eine neue politische Situation im Lande zu schaffen. Hauptziele: Verschiebungen bei der Militärmacht, die gesamte politische Rechte hinter dem Pinochetismus zu vereinigen, Lagos zu stoppen, die Concertación zu spalten, die Kommunisten und ähnliche Kräfte zu isolieren und möglichst zu vernichten. 8. Es war nicht schwer sich vorzustellen, was für eine Reaktion im Lande die Festnahme von Pinochet hervorrufen würde, sowohl von links als auch von rechts. Ungehorsam, Unregierbarkeit, Unruhen und Konfrontation bei einer schwachen Regierung sind Bedingungen, die das Erreichen der Ziele des extremen Militärfaschismus eindeutig begünstigen sollten. 9. Um General Contreras schart sich eine Unmenge ehemaliger Agenten der Geheimpolizei der Diktatur. Konspirativ und militärisch ausgebildet, auf unterschiedliche Weise organisiert und bewaffnet, verfügen sie über sehr umfangreiche und selektive Informationen und sind mit modernster Technologie ausgerüstet. Seit den 80er Jahren sind sie in vielen privaten, legalen (!) Sicherheitsunternehmen in allen wichtigen Städten und Firmen des Landes organisiert. Dieser Kreis hat seine internationalen Bindungen mit anderen repressiven Körperschaften Lateinamerikas nie verloren. 10. Die größte Gefahr liegt darin, daß es Versuche zu verzweifelten militärischen Operationen (Meutereien oder Aktionen der paramilitärischen Kräfte) geben könnte, selektive Morddrohungen gegen bedeutenden Persönlichkeiten wahrgemacht werden oder irgendwelche Massendemonstration in bewaffnete Auseinandersetzungen verwandelt werden, um die politische Situation zu forcieren und damit Bedingungen zu schaffen, an die Führung des Militärfaschismus gelangen zu können. Nicht unbedingt ein Staatsstreich, wobei das nicht hundertprozentig auszuschließen wäre, weil ein Putsch auch ein Mittel sein kann um Widersprüche und Konflikte innerhalb der herrschenden Kreisen zu lösen. 11. Dieser Machtkampf ist im Gange, wäre auch nicht unbedingt mit der Freilassung von Pinochet beendet, bestenfalls aufgeschoben. Die Rückkehr Pinochets würde logischerweise die gesamtpolitische Situation entspannen. Die Lösung der bestehenden Situation liegt aber dort, wo die Krise ihren Ursprung hat: beim Militär. Entscheidend wird die Rolle des Oberkommandierenden des Heeres, seit März dieses Jahres im Amt, jung, aus einer Militärfamilie kommend, mit Vorfahren, die in den 50er und 60er Jahren der DC nahestanden, sein. Die Profilierung seiner Führungsrolle innerhalb der noch faschistischen Armee wird entscheidend sein. Die Regierung hängt von ihm ab, müßte aber auch ihrerseits mehr Stärke zeigen und gegen die Subversion Maßnahmen treffen. Der Erfolg gegen die dargestellten Machenschaften hängt von der Isolierbarkeit der rechtsextremen Sektoren, der katholischen Kirche, bestimmten Kreisen der Armee, der Regierung der USA, aber auch der mehrheitlichen Haltung des halb unorganisierten und demobilisierten Volkes ab. 12. Der gerechte Kampf der demokratischen Kräfte Chiles um Gerechtigkeit und Klärung der Verbrechen der Diktatur wird unvermeidlich weitergehen, solange diese offene Wunde weiter blutet. In diesen Tagen wurde ein politisch-moralischer Sieg errungen. Unabhängig davon, wie der Prozeß gegen Pinochet in England ausgehen mag, bestätigte die Welt erneut ihre Verurteilung der Verbrechen der Diktatur Pinochets. Noch nie konnte das chilenische Volk eine so offene Diskussion in Presse, Radio und Fernsehen über die Rolle und Verantwortung des Diktators und seiner Leute verfolgen. Trotz aller Manipulierungsversuche der herrschenden Kreise wuchs das Bewußtsein, die Klarheit und das Bedürfnis des chilenischen Volkes, besonders der jungen Generationen, Pinochet wegen seiner schlimmen Verbrechen vor Gericht zu bringen. Sie wurden in wenigen Tagen darüber geschult, wie die wirkliche Geschichte dieses Landes verlief und wie die Weltöffentlichkeit dazu steht. 13. Gerechtigkeit ist aber, nach den Lehren der Geschichte, nur unter revolutionären Bedingungen möglich oder in einer Situation, die in Chile nicht existent ist, in der die demokratischen Kräften die materielle organisierte und mobilisierte Macht besitzen, um ihre Ziele realisieren zu können. Ihre Strategie heute müßte darauf gerichtet sein, ohne die Hoffnung und den Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit aufzugeben, den Rechtsextremismus zu isolieren und seine subversiven Pläne zu durchkreuzen. Alles andere ist heute in Chile unrealistisch. Das hat erste Priorität: die beiden genannten Momente des demokratischen Kampfes in die Praxis umzusetzen, wohl wissend, daß solange der Pinochetismus die heutige Macht besitzt und es keine Gerechtigkeit in Chile gibt, das Land immer wieder von neuen politischen Krisen erschüttert werden wird. Santiago de Chile, Oktober 1998 |