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Vorabdruck aus STICHWORT BAYER, Ausgabe 4/98

Unfälle in der Chemischen Industrie
Gefahr für Leib und Leben

Die US-Forschungsgruppe Public Information Research
Group (PIRG) hat eine Studie vorgelegt, in der die Ge-
fahren durch Chemie-Unfälle für die amerikanische Be-
völkerung analysiert werden. Die alarmierenden Ergeb-
nisse dokumentieren eine direkte Bedrohung jedes sech-
sten Amerikaners - mehr als 40 Millionen Einwohner!
Sieben Unternehmen werden als Hauptverantwortliche
für die Risiken genannt, darunter auch BAYER.

Von Philipp Mimkes


Bei einer Explosion in einer Pestizidfabrik des US Konzerns
UNION CARBIDE trat 1984 das hochtoxische Methyl
Isocyanat (MIC) aus. Diese weltweit grösste Chemie-
Katastrophe kostete in Bhopal/Indien mindestens 2.000
Menschen das Leben, mehr als 100.000 wurden verletzt.
Zahlreiche Untersuchungen stellten daraufhin fest, dass auch
in den Industriestaaten ein bedrohliches Gefahrenpotential
besteht. Einer breiten Öffentlichkeit wurden mit einem
Schlag die Risiken der chemischen Grossproduktion be-
wusst. 1990 kam die amerikanische Umweltbehörde EPA zu
dem erschreckenden Ergebnis, dass sich in den USA zwi-
schen 1980 und 1990 fünfzehn Unfälle ereigneten, bei denen
mehr giftige Chemikalien austraten als seinerzeit in Bhopal.
Nur schnelle Evakuierungen und Zufälligkeiten wie günstige
Windrichtungen hätten weitere Katastrophen verhindert.
Daraufhin startete die Forschungsgruppe PIRG eine breit an-
gelegte Untersuchung. Unfallszenarien der 7.600 gefährlich-
sten US-Anlagen sollten erstellt werden und das Risikopo-
tential in jedem einzelnen amerikanischen Bezirk unter die
Lupe genommen werden. Die jetzt veröffentlichten Ergebnis-
se sind alarmierend: zwischen 1993 und 1995 ereigneten sich
in den 66.000 amerikanischen Chemie-Fabriken mehr als
23.000 Unfälle - fast ein Unfall pro Stunde. Jeder sechste
Amerikaner lebt so dicht an einem gefährlichen Werk, dass
bei einem ,worst-case Szenario" Gefahr für Leib und Leben
besteht. Trotzdem haben AnwohnerInnen, Gemeinden und
ArbeiterInnen nur in den seltensten Fällen Zugang zu Infor-
mationen über das bestehende Gefahrenpotential, eine Infor-
mationspflicht für die Betreiber der Anlagen existiert nicht.
Ebenfalls gefährlich eingeschätzt werden Gefahrguttranspor-
te, die für ein Viertel aller Giftfreisetzungen verantwortlich
gemacht werden. Allein im Grossraum Chicago werden täg-
lich eine Million Tonnen toxischer Chemikalien auf Strassen
und Schienen transportiert, ohne dass diese Bewegungen
zentral erfasst würden. Nach Unfällen vergeht viel Zeit, bis
Notfallmassnahmen ergriffen werden, da keine Vorsorgeplä-
ne existieren.

Die Studie dokumentiert zahlreiche drastische Fälle: in Kali-
fornien mussten nach einer Freisetzung von Oleum mehr als
20.000 Menschen in Krankenhäusern behandelt werden. Die
giftigen Dämpfe waren mehr als 20 km weit getrieben, die
Firma hatte zuvor von einem maximalen Gefahrenbereich
von einem Kilometer gesprochen. In Wisconsin gelangten 50
Tonnen Benzol in einen Fluss, eine 30 km lange Giftwolke
entstand, 40.000 Personen mussten evakuiert werden. In
Pennsylvania traten 125 Tonnen eines mit Schwermetallen
belasteten Ätzmittels aus, 1.500 AnwohnerInnen wurden
schwer vergiftet. Nach einem Feuer in einer Chemiefabrik in
New Jersey, bei dem 5 Arbeiter getötet wurden und giftiges
Phenol in einen Fluss gelangte, liess ein Firmensprecher ver-
lautbaren: ,Solche Dinge geschehen, so wie auch Flugzeuge
abstürzen."

Sieben Firmen werden in der Studie als Hauptverantwortli-
che genannt: DOW, DUPONT, 3M, MONSANTO, GE
PLASTICS, UNION CARBIDE - und BAYER, das Lever-
kusener Unternehmen ist der einzige ausländische Konkur-
rent unter den Top 7. Die PIRG kritisiert, dass in den USA
keine Aufsichtsbehörde existiert, die alle Unfallursachen
zentral erfasst und untersucht und die gesetzliche Sicher-
heitsbestimmungen erlassen kann. Die Folge ist, daß Zahl
und Ausmass der Unfälle über die Jahre unverändert hoch
blieben. Ein jahrzehntelanger Bestandsschutz bewirkt, dass
der neueste Stand der Technik nicht vorgeschrieben wird und
risikoärmere Produktionswege nicht zum Einsatz kommen.
Gesetzliche Bestimmungen vernachlässigen die Prävention
und beschränken sich auf Vorgaben im Fall von Störungen.
Die Lobbyorganisationen der Chemischen Industrie bekämp-
fen jegliche Offenlegung von Betriebsdaten und Unfallplä-
nen. Zwar wurde 1990 vom amerikanischen Kongreß die
Gründung einer zentralen Untersuchungsbehörde durchge-
setzt, bis heute ist aber dieser Beschluß nicht umgesetzt wor-
den.

Im Sinne einer Gefahrenminimierung schlägt PIRG vor, dass
alle Betreiber periodisch die Risiken ihrer Anlagen veröf-
fentlichen und mit alternativen Produktionswegen verglei-
chen müssen. Verfahren mit erhöhten Umweltemissionen
oder niedrigen Sicherheitsstandards werden nur innerhalb
einer Umrüstungsfrist genehmigt und mit Abgaben belegt.
Stoffströme werden quantitativ und qualitativ bekanntgege-
ben, alle Unfallszenarien müssen frei zugänglich sein. Infor-
mationen über Unfälle jeglicher Art werden zentral ausge-
wertet, anhand der Ergebnisse werden die Veröffentlichun-
gen der Unternehmen geprüft und gegebenenfalls Strafen
verhängt. Gemeinden und Anwohnern wird ein Anhörungs-
recht bei der Genehmigung von neuen Anlagen und von
Übergangsfristen eingeräumt.

Die Situation in Deutschland ist wegen der dichteren Besied-
lung sicherlich nicht weniger gefährlich. Und auch die deut-
sche Störfallkommission verfügt über keinerlei Sanktions-
möglichkeiten und wird zudem von der Industrie dominiert.
Wenn es um Emissionen, Produktionsmethoden und Men-
genangaben gelagerter Stoffe geht, mauern auch bei uns die
Unternehmen - angeblich aus Konkurrenzgründen. Daher
sollte die Analyse der PIRG auch in Deutschland Beachtung
finden.


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