Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Anlässlich des 100. Geburtstags von Albert Camus: Keine Feier in Paris

12-2013

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Keine Feier in Paris – Es gibt keinen nationalen Konsens für die Ehrung des Autors von „Die Pest“, „Der Fremde“ und „Die Gerechten“. Unterdessen gibt es Vereinnahmungsversuche ebenso wie ablehnende Positionen zu Camus. Im Hintergrund steht u.a. seine Position zum antikolonialen Befreiungskampf im französisch beherrschten Algerien

Er ist der außerhalb Frankreichs meistgelesene Autor in französischer Sprache. Aus Anlass eines einhundertsten Geburtstag erwies ihm unter anderem auch der in den USA basierte Suchmotor Google die Referenz: Am 07. November 13 zeigte die Startseite für die französischsprachige Suchmaske beim Aufruf die Buchstaben C – A – M – U –S an. Es wirkt paradox dazu, dass der im November 1913 in der Nähe von Constantine im heutigen Algerien geborene Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus in diesem Jahr von Seiten der französischen Institutionen keine aufsehenerregende öffentliche Ehrung erfuhr.

Am 08. November 13, dem „Tag danach“, legte die amtierende Kulturministerin – die frühere Grüne und jetzige Sozialdemokratin Aurélie Filippetti – einen Kranz am Grabe Albert Camus‘ im südfranzösischen Lourmarin nieder, dem langjährigen Wohnort des Schriftstellers. Ohne weitere Zeremonie, ohne Ansprache. Allerdings war sie bereit, auf Fragen von anwesenden Journalisten zu antworten. Viele Beobachter waren der Auffassung, dies sei erstaunlich wenig für das Andenken an einen Mann, dessen Werke in der ganzen Welt bekannt sind. Die Tageszeitung Le Figaro führte auf ihrer Webseite eine Umfrage durch, um zu erfahren, ob „dieser herausragende Schriftsteller des 20. Jahrhunderts mehr verdient hätte“. 88 Prozent der der Umfrageteilnehmer antworteten mit „Ja“, aber es nahmen nur gut 400 Menschen an der Befragung teil – bei Onlineumfragen der Zeitung zu tagespolitischen Themen sind es oft mehrere Zehntausende.

Wir dachten, Albert Camus sei Konsens stiftend, aber das ist nicht der Fall. Und niemand traut sich, es zu sagen“, zitiert die Pariser Abendzeitung Le Monde Antoine Gallimard, den Erben von Camus‘ Verleger Gaston Gallimard. Er drückt sein „Erstaunen“ darüber aus, dass es bis heute weder in der Nationalbibliothek BNF, noch im Ausstellungszentrum Centre Pompidou, noch von Seiten des Kulturministeriums eine größere Ausstellung über Camus gab. Im Unterschied etwa zu Guy Debord (vgl. Der Krieger/Revolutionär im Museum?), dem im Frühjahr 2013 eine Ausstellung in der BNF gewidmet war – im Augenblick findet dort eine Ausstellung zu Asterix statt -, zu Jean-Paul Sartre oder zu Boris Vian. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Abgrenzung Camus‘ sowohl von der Mehrheitslinken – die zu seinen Lebenszeiten in Frankreich durch die am stärksten stalinisierte Kommunistische Partei in Westeuropa dominiert war – als auch vom bürgerlichen Mainstream, oder vielleicht auch sein ambivalentes Verhältnis zu Religion und Metaphysik. Camus sagte von sich selbst: „Ich glaube nicht an Gott aber ich bin kein Atheist“ oder auch „Ich glaube nicht an das ewige Leben, aber ich glaube an das Heilige.“ Camus war den Werten des Humanismus und der Emanzipation verpflichtet, und daneben Hedonist. François Mauriac sagte über ihn, der über „den Mythos von Sisyphus“ geschrieben und Sisyphus als „glücklichen Menschen“ bezeichnet hatte: „Dieser Sisyphus“, gemeint war Camus, „rollt nicht seine Kugel den Berg hinauf. Er steigt auf die Kugel und macht von dort aus einen Kopfsprung ins Meer.“

Um das Leben und um den frühen Tod Albert Camus‘, der am 04. Januar 1960 im Alter von 46 Jahren bei einem Autounfall starb, ranken sich manche Legenden. Die katalanische Schriftstellerin Carme Riera malte in ihrem 2006 erschienenen Roman La moitié de l’âme aus, Camus sei vom Geheimdienst Franco-Spaniens ermordet worden, als Antifaschist. De italienische Hochschullehrer Giovanni Catelli stellte 2011 – unter Berufung auf ein posthum entdecktes Tagebuch des tschechischen Dichters Jan Zabrana – die These auf, es sei der sowjetische Geheimdienst, welcher Camus aufgrund seiner Kritik an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands im Oktober 1956 habe ausschalten lassen. Wahrscheinlich ist nichts davon wahr, und dennoch benennen diese Hypothesen Strukturen, die für Camus wahre Feinde waren. An seinem Tod Schuld tragen jedoch wahrscheinlich die überhöhte Fahrgeschwindigkeit seines Freundes Michel Gallimard – des Neffen von Gaston -, eine regennasse Straße in der Region Burgund, und ein überhöhtes Vertrauen des Fahrers in das Sportauto der Marke Facel Vega. Camus selbst hasste Autos, und Regen ebenfalls.

Am stärksten umstritten ist Camus aufgrund seiner Herkunft aus dem damals von Frankreich kolonisierten Algerien, aus der europäischen Bevölkerung in der Siedlerkolonie in Nordafrika, und aufgrund seiner mitunter zögernden Positionen zum algerischen Unabhängigkeitskampf. Manchen Darstellungen zufolge war Camus vermeintlich unentschlossen oder verweigerte dem antikolonialen Befreiungskampf seine Unterstützung, die Wirklichkeit ist jedoch komplexer. In früheren Jahrzehnten warfen ihm der progressive und religionskritische algerische Schriftsteller Kateb Yacine oder der palästinensisch-amerikanische Autor Edward Saïd – letzterer verfasste ein Buch zum Thema – ein „koloniales Unterbewusstsein“ vor. Camus konnte sich demzufolge nie von der Beschränktheit, die ihm seine Herkunft aus einer objektiv privilegierten europäischstämmigen Bevölkerung in einem kolonialen und konfessionellen Apartheidsystem auferlegt habe, freimachen.

Umgekehrt wird von den Kolonialnostalgikern, an denen es in Frankreich und vor allem im Süden des Landes bis heute nicht mangelt, auf unverfrorene Weise versucht, Camus für sich und ihre revanchistische Sache zu vereinnahmen. Das ist der Hintergrund dafür, dass die derzeit laufende Ausstellung über das Leben und Werk Albert Camus‘ in Aix-en-Provence nicht nur heftig umzankt war und bleibt, sondern beinahe gescheitert wäre.

Aix-en-Provence wird von einer konservativen Rathausmehrheit mit einem starken rechtsradikalen Flügel regiert. Die Stadt, Nobelvorort von Marseille mit Universitätssitz, weist 40.000 frühere Algeriensiedler auf, von denen nicht wenige einem offenen Revanchewunsch gegen die Unabhängigkeit Algeriens verhaftet bleiben. Die amtierende Bürgermeisterin Maryse Joissains-Masini strich im vergangenen Jahr eine offene Nähe zur Rechtsextremen Marine Le Pen heraus. Ebenfalls seit 2012 gibt es in der Stadt einen Boulevard, der zum Andenken an Jean-Marie Bastien-Thiery benannt wurde. Bastien-Thiery war ein verurteilter Rechtsterrorist aus den Reihen der gegen den Rückzug aus Algerien bombenden und mordenden „Organisation geheime Armee“ OAS. Er nahm im September 1962 an einem Versuch teil, Präsident Charles de Gaulle zu ermorden, und wurde im darauffolgenden Jahr erschossen.

Am 05. Oktober 13 wurde – ausgerechnet - in Aix eine Ausstellung unter dem Titel „Albert Camus, der Weltbürger“ eröffnet, die noch bis zum 04. Januar 14 in der Cité du Livre besucht werden kann. Die Zeitschrift Politis zitiert José Lenzini, der mehrere Bücher über Camus verfasst und den Text für einen Comic über sein Denken geliefert hat, mit den Worten: „Es gibt 36.000 Städte und Gemeinden in Frankreich, und Aix-en-Provence war wirklich nicht die letzte, wo diese Ausstellung hätte stattfinden dürfen.“

Die Camus-Ausstellung war bereits seit 2008 geplant worden, im Rahmen der Veranstaltungsserie „Marseille-Provence 2013“ (MP13), die mit dem Status von Marseille als europäische Kulturhauptstadt im laufenden Jahr zusammenhängt. Im darauffolgenden Jahr, 2009, wurde der Historiker Benjamin Stora zum Ausstellungsleiter ernannt. Aber von Anfang stieß er auf riesige Widerstände seitens der rechtsgewirkten Kommunalverwaltung, die es schaffte, Albert Camus‘ als eigenwillig geltende Tochter und Nachlassverwalterin – Catherine Camus –gegen den Geschichtswissenschaftler aufzubringen. Am 25. April 2012 konnte Joissains-Masini triumphieren: Stora wurde aus dem Veranstaltungskonzept gekippt, für die bisher verrichtete Arbeit wurden ihm 1.500 Euro in die Hand gedrückt. Die Bürgermeisterin höhnte: „Ich wusste gar nicht, dass er Historiker ist.“ Anlässlich einer Sitzung mit dem damaligen Kulturminister Frédéric Mitterrand beschwerte sie sich ferner darüber, dass „ein Sympathisant des FLN“, also der algerischen „Nationalen Befreiungsfront“ zum Ausstellungsplaner und –leiter ernannt worden sei. Mitterrand brach Berichten zufolge in schallendes Gelächter aus. Stora ist heute Sozialdemokrat, gehörte aber lange Jahre einer besonderen Unterströmung des französischen Trotzkismus – den so genannten Lambertisten - an, die just dafür bekannt war, dass sie den FLN für eine kleinbürgerliche Organisation hielt, welche verhindert habe, dass die antikoloniale Revolution in Algerien eine proletarische werde. Dieses Dogma mag Stora revidiert haben, aber seit seiner Doktorarbeit von 1974 gilt er landauf landab als Spezialist für Messali Hadj, den historischen Anführer einer mit dem FLN rivalisierenden, wenngleich durchaus nicht „proletarischen“, Strömung des algerischen antikolonialen Nationalismus. Der Vorwurf der Bürgermeisterin ging also jedenfalls reichlich in die Irre.

Nach dem erzwungenen Abgang Benjamin Storas wurde Michel Onfray im Juni 2012 zum neuen Kurator der Ausstellung erkoren. Er wurde als libertärer und atheistischer Philosoph bekannt, gilt jedoch auch als mediengeil, egomanisch und karrieristisch. Und er gab am 04. September 13 ein Buch über Camus heraus, das seine Zugehörigkeit zur libertär-anarchistischen Familie belegen soll. Onfray akzeptierte, unter der Bedingung, dass die Ausstellung nur als Grundstein für ein in Aix zu errichtendes dauerhaftes Museum über Albert Camus dienen solle – ein Vorhaben, das jedoch von vielen Camus-Freunden abgelehnt wird, da er alles andere gewünscht hätte, nur nicht musealisiert zu werden. Onfray wünschte sich den Titel „Albert Camus, ein Mann in der Revolte“ für die Ausstellung. Nach nur drei Monaten warf allerdings auch er das Handtuch, weil der auf ihm ebenfalls lastende politisch-ideologische Druck zu stark geworden war. Daraufhin brach Kulturministerin Aurélie Filippetti ihrerseits mit den Veranstaltern und zog die angekündigte Subvention des Zentralstaats in Höhe von 400.000 Euro ersatzlos zurück.

Beinahe wäre das Projekt daraufhin vollkommen gescheitert. Mit einiger Energie hat die Stadt es dennoch durchgesetzt, und die nunmehr stattfindende Ausstellung behält das Label „MP13“, steht also im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres für Marseille und die Provence. Das Ergebnis wird jedoch durch Le Monde als „vergeudete Chance“ und von Politis als „Schmalspurausstellung“ bezeichnet. Diese beruht fast ausschließlich auf visuellen Effekten: Die intellektuellen Konzepte Camus‘, die von ihm verfochtenen Werte und seine auch politischen Anliegen kommen – sofern überhaupt – nur unter ferner liefen vor. Beinahe wäre es bei der Aufstellung von Bildschirmen geblieben, auf denen man einige Sätze von Camus vorbeihuschen sieht, oft zu schnell, um sie in Gänze lesen zu können. Der Philisoph Maurice Weyembergh, der als Camus-Experte hinzugezogen worden war, konstatiert bitter: „Wir mussten darum kämpfen, dass überhaupt Glaskästen aufgestellt werden“, in denen man mit einigem gutem Willen doch einige Auszüge aus Schriften von und über Camus studieren kann.

Was die Kolonialnostalgiker von Aix gerne hätten, wäre, Camus – das Kind des „französischen Algerien“ – als einen der ihren erscheinen zu lassen. Am besten, ohne näher auf seine Ideen einzugehen. In Wirklichkeit war Camus jedoch näher am algerischen Emanzipationsanliegen, als ihnen recht sein kann. 1938 publizierte er als damaliges Mitglied der Kommunistischen Partei einen Artikel über die Misere in der kolonisierten Kabylei, der berbersprachigen Region im Nordosten Algeriens. Und nach den Massakern vom 08. Mai 1945 in den algerischen Städten Sétif und Guelma war Camus drei Wochen lang als Journalist auf Aufklärungsmission vor Ort unterwegs, während fast die gesamte übrige französische Presse die mit dem Kriegsende in Europa zeitlich zusammenfallende brachiale Repression in Nordafrika verteidigte.

Als aber der bewaffnete Unabhängigkeitskampf ab 1954 ausbrach, hielt Camus sich tatsächlich zurück, aus Sorge um das Schicksal der Europäer in Algerien – als ein algerischer Student am Ausgang des Saals der Nobelpreisverleihung in Stockholm Ende 1957 Fragen an ihn richtete, erklärte Camus: „Ich bin für das Recht, aber vor dem Recht noch für meine Mutter.“ Dieser Satz (inhaltlich tatsächlich kritikwürdig, da im Gegensatz zu einer universalistischen Position stehend) wurde oft herausgelöst und isoliert zitiert. Er gibt aber nicht das gesamte Denken Camus zutreffend wieder. Ein anderer algerischer Student, der bei ihm in den Räumen des Verlegers Gallimard zitiert, erntete zwar Ablehnung von Camus für das Ansinnen nach nationaler Unabhängigkeit Algeriens – aber Camus brach kurz darauf in Tränen aus, mit den Worten: „Und was ist, wenn dieser Junge Recht hat?“ Auch in Algerien hat man übrigens bis vor kurzem Camus auf einige wenige vermeintliche Positionen reduziert und offiziell geschnitten, wie etwa anlässlich einer Pressekampagne rund um seinen 50. Todestag im Winter 2009/10 deutlich wurde. Dies ist jedoch dabei, sich zu ändern. Und im November 13 war in Guelma ein Kolloquium über ihn angesetzt.

Seine mitunter schwankend erscheinende Position zur organisierten antikolonialen Bewegung hängt aber auch mit Camus‘ Bruch mit der, in Form der KP oft autoritären, französischen Mehrheitslinken zusammen. Dabei schlug er einen etwas anderen Weg als Jean-Paul Sartre ein: Sartre war gegenüber dem Stalinismus französischer Prägung ebenfalls kritisch, entschied sich jedoch 1952 dazu, den kritisch-solidarischen Wegbegleiter für die KP zu spielen, weil sie als einzige Partei antikoloniale Positionen zu haben schien. Mit ihr brach Sartre 1956 infolge der Repression in Ungarn. Wie unglaublich tief der damals vollzogene Bruch mit Sartre bei Camus nachwirkte, zeigt sich zum Teil erst jetzt – am 07. August 13 wurde ein bislang unbekannter Briefwechsel zwischen Camus und Sartre bekannt, und in den zahlreichen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt über Camus wird ebenfalls ein neues Schlaglicht auf ihre Auseinandersetzung geworfen. Camus war beinahe traumatisiert davon, dass Sartre 1952 über ihn angemerkt hatte, er sei „bürgerlich“ geworden.

Umso windiger ist es, wenn heute etwa der Abgeordnete und frühere Präsidentenberater unter Nicolas Sarkozy, Henri Guaino, sich zum lauten Fürsprecher Camus‘ aufschwingt – und dabei vor allem festhält, er habe mit Sartre und damit dankeswerter Weise mit der dogmatischen Linken gebrochen und sei ansonsten ein Liebhaber von „Tragik“ gewesen. Guaino hatte im November 2009, wenige Wochen vor dem fünfzigsten Todestag, die Überführung der Asche Camus‘ ins Panthéon – den „Tempel der Republik“ im Pariser Zentrum – vorgeschlagen. Das Vorhaben scheiterte damals an der Tochter Camus‘.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Eine leicht überarbeitete und leicht gekürzte Fassung dieses Artikels erschien am 28. November 13 in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’