Erkenntnissse und Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie (Teil III)

von Helmut Mielke 

12/2019

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III. Die ionische Naturphilosophie

In unserem Zusammenhang kommt es auf die Darstellung der Lehren einzelner Philosophen nur insofern an, als sie zu einer bestimmten Richtung  oder Entwicklungsetappe etwas Wesentliches beigetragen haben. Wir be handeln deshalb nur die richtungweisenden, epochemachenden Probleme ihres Philosophierens.

Bei Thales von Milet (6. Jh. v. d. Z.), in den Anfängen der Philosophie in Griechenland also, stehen vor allem zwei philosophische Fragen im Mit-J telpunkt: die Frage nach dem Urstoff (nach dem Zusammenhang der Dinge) und das kosmologische Problem. Dies ist durchaus nicht zufällig oder willkürlich. Beide Probleme bewegten in der vorangegangenen mythologischen Periode ständig die Gemüter, und beide stehen in engem Zusammenhang mit der kosmologischen Fragestellung: Nach der Struktur des Weltganzen hängt unmittelbar die Frage zusammen, aus welchem Material die Götter die Welt erschaffen hätten. Für uns ist an den kosmologischen Vermutungen der ionischen Naturphilosophen nur der unmythologische Grundgedanke von Interesse, daß das Weltall einheitlich materiell sei und seit Ewigkeit existiere, also nicht durch das Wirken von Göttern entstanden sei.

Diese Hauptprobleme schließen weitere philosophische Gesichtspunkte und abgeleitete Probleme ein. Zu ihnen gehört in erster Linie das Problem von Einheit und Mannigfaltigkeit. Solange jedes Ding in seiner Individuali­tät betrachtet wurde, war ein Ansatz zur rationalen Naturerklärung schwer möglich. In der mythologischen Periode war anfänglich das Einzelding oder das Einzelwesen Gegenstand der Betrachtung. Durch Vergleich gelangte man zur Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die sodann begriff­lich fixiert wurden. Damit entstand das Problem des Einzelnen und Allge­meinen. Man entdeckte auf Grund von Ähnlichkeit und Übereinstimmung, daß es Klassen von Gegenständen mit gemeinsamen, wesentlichen Merkma­len gibt. Damit war die Grundlage für eine rationale Naturerklärung ge­geben. Wenn jedes Ding von jedem anderen wesenhaft verschieden wäre, etwas absolut Einzelnes darstellte, dann wäre eine rationale, den Keim der Wissenschaft in sich tragende Erklärung der Naturgegenstände unmöglich.

So treffen wir zu Beginn der Philosophie bereits auf ein relativ hochentwickeltes Abstraktionsvermögen mit der entsprechenden sprachlichen Ausdrucksform, dem abstrakten Begriff.

Charakteristisch für die ionischen Naturphilosophen (Thales, Anaximander und Anaximenes) ist ihr urwüchsiger Materialismus. Dieser zeigt sich einmal darin, daß sie eine Teilung der Welt in einen natürlichen und einen übernatürlichen Bereich gar nicht in Erwägung ziehen. Die Welt ist für sie einheitlich materiell. Die Existenz von Göttern leugnen sie zwar nicht, aber die Götter werden ihrer Individualität entkleidet, das anthropomorphe Mo­ment in der Götterlehre verschwindet. Sie setzen das Göttliche mit der Fä­higkeit zur Bewegung gleich, die der Materie innewohnt.(6) In diesem Sinne sind vermutlich auch die überlieferten Aussprüche des Thales zu verstehen, daß alles voller Götter und Dämonen sei und der Magnet eine Seele habe, sc daß die Feststellung von Capelle, „Thales' Anschauungen von Seele und Göttern, wie sie schon zu Platons Zeiten überliefert waren, stehen mit seiner Grundthese in keinem erkennbaren Zusammenhang"(7), fraglich wird. Somit steht auch das Problem von Materie und Bewegung am Anfang der philosophischen Naturbetrachtung. Im Zusammenhang damit ist auch die Lehre der ionischen Naturphilosophen von der Allbeseeltheit der Natur (Hylozoismus) zu sehen.

Der Hylozoismus der ersten griechischen Philosophen ist eine bemerkens­werte Erscheinung. Die „Beseeltheit" des Urstoffs ist eine Annahme, die einen rationellen materialistischen Kern enthält. Hält man sich vor Augen,daß die Mythologie bis dahin die weltanschauliche Basis der Griechen war,« dann ist dieser Lösungsversuch, so spekulativ er auch war, geradezu erstaunlich: in einer mehr allgemeinen Fassung besagt der Hylozoismus nichts anderes, als daß die auf den ersten Blick scheinbar tote und unbewegte Materie ursprüngliche und unabdingbare Eigenschaften besitzt, die sie zur Bewegung, Ordnung und Entwicklung befähigen. So ist der Hylozoismus einejfl spekulative Ahnung und Vorwegnahme des von der modernen Naturwissenschaft entdeckten Sachverhalts, daß die Materie immanente Eigenschaften besitzt, in denen die Möglichkeit und die Tendenz der Entwicklung ihrer Bewegungsformen bis hin zum Bewußtsein von vornherein angelegt ist. Die Annahme einer wesensimmanenten, ursprünglichen „Beseeltheit" der Materie machte alle religiös-idealistischen Spekulationen über die Entstehung und das Wesen des Bewußtseins überflüssig.

Die wesentliche und entscheidende Frage, die von allen Idealisten verneint wird, nämlich, ob die Materie aus sich heraus Schöpferkraft, d. h. die immanente Fähigkeit zur Entwicklung neuer Qualitäten besitzt, läßt sich u. E. schon grundsätzlich positiv am einfachsten Fall entscheiden, am Beispiel der Wechselwirkung der Eigenschaften von nur zwei Atomen verschiedener Grundstoffe, z. B. von Natrium und Chlor, die miteinander eine chemische Verbindung eingehen. Dem metaphysischen Denken ist hier philosophisch im Grunde schon eine unüberschreitbare Schranke gesetzt: Von den ursprünglichen „Wesenseigenschaften" der Atome ist ein Teil „verschwunden", d. h., er wurde - wie wir sagen würden - negiert, und im Molekül sind neue Eigenschaften spontan aufgetreten, die in ihrer realen Erscheinungsform nicht Eigenschaften der Atome waren und die doch notwendig und gesetzmäßig aus deren Eigenschaften hervorgehen. Damit ist freilich nur ein Teil den Frage beantwortet, denn wir sind hierbei noch ausschließlich im Bereich der unbelebten Natur verblieben; immerhin ist damit schon die Ungültigkeit der von idealistischen Philosophen oft stillschweigend gemachten Voraussetzung gezeigt, daß die Materie generell keine neuen Eigenschaften hervorbringen könne und daß es dazu eines überweltlichen geistigen Urhebers bedürfe. (Um Mißverständnisse zu vermeiden, müssen wir hier einfügen, daß natürlich kein idealistischer Philosoph die neuentstandenen Eigenschaften der Moleküle leugnen wird, aber die philosophischen Konsequenzen, auf die es gerade ankommt, werden übergangen.)

Den wirklichen Kern des Problems enthält aber die Frage: Wie können aus „toter" Materie Leben und Bewußtsein entstehen? Die einzelwissenschaftliche Begründung der Antwort auf diese Frage ist zwar noch nicht hinreichend, die neuesten wissenschaftlichen Forschungen sind jedoch vielversprechend. Es sei hier nur am Rande auf die geradezu faszinierenden Erkenntnisse der modernen Molekulargenetik, vor allem im Hinblick aut die Erbinformationen und die Synthese von Nukleinsäuren, hingewiesen. Als methodologischer Grundgedanke dient in der einschlägigen biologischen Forschung stets die Überzeugung von der Existenz natürlicher dialektischer Kausalbeziehungen bzw. Wechselwirkungen, auf die sich die Untersuchungen zu konzentrieren haben.

Der hylozoistische Grundgedanke, daß die Materie „beseelt" sei, enthält bereits im Keim eine Ahnung des von Lenin formulierten Sachverhalts, daß die Widerspiegelung eine universelle Eigenschaft der Materie sei. Eines der schwierigsten philosophischen Probleme auch und gerade der Gegenwart scheint uns darin zu liegen, diese allgemeine Formulierung Lenins unter Verwendung des Materials der modernen Naturwissenschaft zu konkretisieren. Dieser Leninsche Gedanke ist der methodologische und heuristische Leitfaden für eine naturwissenschaftlich begründete Negation jenes philosophischen Problemkomplexes, den schon Aristoteles mit Hilfe seiner Formlehre zu lösen versucht hat. Hauptanliegen ist die Beantwortung der Frage, warum die Entwicklung eine Höherentwicklung und damit keine zufällige Kombination von vorhandenen Elementen, sondern weitgehend und ihrem Wesen nach die Realisierung zweckmäßiger Möglichkeiten ist. Höchstwahrscheinlich wird der Informationsaspekt hier zu überraschenden Einsichten führen.

Der Hylozoismus betrachtet das Leben als ein Urphänomen der Materie. Auf den ersten Blick scheint dies eine Konzeption zu sein, die noch wesent­lich mit Überresten mythologischen Denkens behaftet ist, hatten doch auch die mythischen Kosmogonien oft eine beseelte Materie angenommen. Der prinzipielle Bruch der griechischen Naturphilosophen mit dem mythologi­schen Denken verpflichtet hier jedoch zur Skepsis. Viel wahrscheinlicher scheint es, daß vielmehr ihr Hauptanliegen, die Mannigfaltigkeit der Er­scheinungen der Welt auf ein Prinzip zurückzuführen, sie zum Hylozoismus führte. Leben und Bewußtsein mußten dem naiven Denken der Griechen als so aus dem Rahmen der anorganischen Natur fallend erscheinen, daß es unter Wahrung der materialistischen Grundposition naheliegend war, Leben und Beseeltheit als ursprüngliche Eigenschaften der Materie anzunehmen. Nur so glaubten die ionischen Materialisten die Vielfalt der Dinge, darunter auch die Erscheinungen der organischen Welt bis hin zum denkenden Men­schen, auf ein einziges Prinzip zurückführen zu können.

Diese Zurückführung auf ein Prinzip (bzw. einen Urstoff) setzt die An­nahme einer Entwicklung in der Natur voraus. Dadurch sind die ionischen Naturphilosophen spontane Dialektiker. Der Entwicklungsgedanke ist so­mit ursprünglich eine - wenn auch zeitbedingt spekulative -Leistung des philosophischen Denkens.

In dieser Hinsicht war die Philosophie allen Einzelwissenschaften weit vorausgeeilt, machte doch zu Beginn der Neuzeit der Stand der Naturwissen­schaft die metaphysische Methode, die die Dinge in ihrer Isolierung und scheinbaren Unveränderlichkeit betrachtete, geradezu zu einer notwendigen Etappe der wissenschaftlichen Forschung. „Die Dinge mußten erst untersucht werden, ehe die Prozesse untersucht werden konnten. Man mußte erst wissen, was ein beliebiges Ding war, ehe man die an ihm vorgehenden Ver­änderungen wahrnehmen konnte."(8)

Als Urstoff geben die einzelnen Denker verschiedene Stoffe an: Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Anaximander das Apeiron, einen unbestimmten, nicht in der Erfahrung gegebenen abstrakten Stoff. Beachtliche ist bei Anaximander die große Abstraktheit seines Prinzips, denn es enthält keine empirischen Qualitäten mehr. Über die Gründe, die Thales und Anaximenes veranlaßten, das Wasser bzw. die Luft als Urelement anzunehmen, gibt es eine Menge von Spekulationen, die in unserem Zusammenhang kaum von Interesse sind.(9)

Näher wollen wir jedoch auf das „Apeiron" des Anaximander eingehen! Er forderte, der Urstoff müsse das Merkmal der Unendlichkeit besitzen, da ein endlicher Stoff sich durch das ständige Hervorbringen von Einzeldingen erschöpfen würde. Der Forderung nach Unendlichkeit genüge aber kein empirischer Stoff.(10) Aus diesem Grunde postulierte er die Existenz eines Urstoffs, der jenseits aller sinnlichen Erfahrungen liege und der neben den Attributen der Unentstandenheit und Unvergänglichkeit vor allem die sehr wichtige Eigenschaft der qualitativen Unerschöpflichkeit besitze. Damit hat Anaximander spontan und spekulativ wesentliche Eigenschaften der Materie postuliert, deren Erkenntnis zu den Fundamentalsätzen des dialektischen; Materialismus gehört. Anaximanders dialektische Konzeption wurde im Verlaufe der historischen Entwicklung des Materiebegriffs durch den mechanischen Materialismus nicht mehr annähernd erreicht. Gerade die These von der qualitativen Unerschöpflichkeit der Materie ist einer der philosophischen  Eckpfeiler der dialektisch-materialistischen Materieauffassung.(11)

Die Einzeldinge entstehen bei Anaximander durch Ausscheidung, bei Anaximenes durch Verdichtung und Verdünnung.

Die materialistische Grundposition der ionischen Naturphilosophen zeigt sich darin, daß sie neben dem Stoff kein geistiges Prinzip anerkennen, daß sie den Urstoff für unerschaffen und unvergänglich halten, daß weder etwas aus dem Nichts entstehe noch in das Nichts vergehe.(12)

Charakteristisch für diese wie überhaupt für alle vorpythagoreischen griechischen Philosophen ist ihre ausschließlich qualitative Betrachtungs­weise der Natur. Dabei ist zu beachten, daß für sie keine starren Wirklich­keitsklötzchen im Sinne der mechanischen Atomistik existieren, sondern daß der Urstoff in seinen Zuständen und Erscheinungsformen qualitativer Um­wandlung fähig ist. Auch dies ist ein spontan dialektischer Gedanke.

Die wesentlichste Leistung der ionischen Naturphilosophen, so können wir zusammenfassend sagen, liegt weniger in exakten Ansätzen für die Na­turwissenschaften, sondern in der weltanschaulichen Fundierung der Grund­haltung einer echt wissenschaftlichen Naturerklärung und Naturforschung, die Natur aus sich selbst heraus zu erklären. Die einzelwissenschaftlichen Leistungen, die in dieser Periode erzielt wurden, z. B. die mathematischen Erkenntnisse des Thales, gehören nicht unmittelbar zu den naturphilosophi­schen Errungenschaften. Die Personalunion von Mathematiker und Philo­soph darf hier nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß in dieser frühen Periode eine solche Einheit von Philosophie und Einzelwissenschaft bestand, in der die Philosophie als komplexe und allumfassende Gesamtwissenschaft die Mathematik unmittelbar und vollständig einschloß. Was die Philosophie unmittelbar und wesentlich an der Mathematik interessierte, war deren ra­tionalistische deduktive Methode, mit der man scheinbar durch „reines Den­ken", scheinbar unabhängig von jeder Erfahrung, neue Erkenntnisse gewin­nen konnte. Dieser Zusammenhang tritt aber bei den ionischen Naturphi­losophen noch nicht bewußt in Erscheinung.

Die Überzeugung der ionischen Naturphilosophen, daß die Welt rational erklärbar sei, schließt den Gedanken von der Erkennbarkeit der Welt un­mittelbar ein.

Anmerkungen

6) Siehe G. Thomson, Die ersten Philosophen, S. 125.
7) W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 68.
8)  F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.! In: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 294.
9) Siehe etwa W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 71, Anm. 3; E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. 1/2, Hildesheim 1963, S. 262.
10) Siehe Aristoteles, Physik, T 8. 208 a.
11) Siehe W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. In: W. I. Lenin, Werke, I
Bd. 14, Berlin 1962, S. 262.
12) Siehe Aristoteles, Metaphysik, A 3. 983 b 7-11.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 130-135

Siehe dazu: