Erkenntnistheoretische Grundbegriffe
§2 Kurze Geschichte der materialistischen Erkenntnistheorie

von Béla Fogarasi

12/2020

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In Ungarn waren bis 1945 in den Fragen des Materialismus völlig unrichtige Ansichten und Vorurteile verbreitet. Der reaktionäre Idealismus, der auf unseren Universitäten heimisch war, machte aus dem Materialismus eine Art Vogelscheuche und gab von ihm ein Zerrbild. Eines der herrschenden Vorurteile war, daß der Materialis­mus eigentlich eine „Erfindung" von Marx und Engels sei. Es ist dem­nach notwendig, darauf hinzuweisen, daß die materialistische Theorie und namentlich auch die Erkenntnistheorie keine „Erfindung" von Marx und Engels ist, daß ihre Grundelemente bereits auch in der Philosophie des Altertums aufgefunden werden können, daß die materialistische Erkenntnistheorie als eine herrschende Richtung sich durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurchzieht. Das Verdienst von Marx und Engels besteht darin, daß sie - wie über­haupt, so auch in erkenntnistheoretischer Beziehung - über die Be­schränktheiten des alten Materialismus hinausgingen, dessen Mängel beseitigten (eliminierten) und die Lehre des Materialismus mit den Errungenschaften der modernen Wissenschaft in Einklang brachten.

In der Frage der Erkenntnistheorie stehen im Allgemeinen zwei Auffassungen einander gegenüber. Nach der einen faßt das Bewußt­sein die materielle Welt richtig auf, macht sich ein Bild von der Wirklichkeit, bildet sie ab, oder, in philosophischer Sprache ausge­drückt, spiegelt sie wider. Das ist der Grundgedanke der materia­listischen Erkenntnistheorie. Nach der anderen Auffassung bringt das Bewußtsein das, was wir materielle Welt nennen, hervor. Daher sei die Welt Bewußtseinsinhalt, oder zumindest sei die Welt, die wir erkennen, nichts anderes als Bewußtseinsinhalt. Das ist der Grund­gedanke der idealistischen Erkenntnistheorie.

Der Kampf zwischen diesen beiden Auffassungen zieht sich durch die ganze Geschichte der Philosophie. Jedoch auch die kompromißleri­schen Auffassungen, die Ausgleichsversuche hatten zahlreiche An­hänger. Die prinzipienlose Versöhnung von zwei einander entgegen­gesetzten Auffassungen ist der sogenannte Eklektizismus, also in der gegebenen Frage der Standpunkt, daß sowohl der Materialismus als auch der Idealismus Wahrheit enthalten. Von wahrhaft großer Wir­kung waren aber immer nur die konsequenten Standpunkte.

Der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus zeigte sich in der Geschichte des griechischen Denkens zwar in primitiver Form, aber mit voller Klarheit. Bis Piaton herrschte in der Frage der Er­kenntnis im Allgemeinen die Theorie der Widerspiegelung. Piaton können wir als ersten bewußten Gegner der Widerspiegelungstheorie betrachten. Nach ihm widerspiegeln die Sinneswahrnehmungen nicht die Wirklichkeit, deren Wesen in reinen Ideen besteht. Doch auch Piatons Idealismus enthält in verkehrter Form ein Moment der Widerspiegelung: nach Piaton sind nicht die Ideen die Bilder der Dinge, sondern die Dinge sind die Bilder, sind Kopien der Ideen, die Dinge bilden die Ideen ab. Auf diese Weise erscheint der Gedanke der Widerspiegelung bei Piaton auf den Kopf gestellt, was überhaupt für den objektiven Idealismus kennzeichnend ist.

Aristoteles' berühmte Kritik an Piatons Ideenlehre beruht wesent­lich auf der richtigen, d. h. materialistischen Auffassung der Wider­spiegelung. Aristoteles schreibt: „Die Behauptung, die Dinge seien die Kopien der Ideen, heißt soviel wie leere Worte nebeneinander­stellen und in der Sprache poetischer Metaphern sprechen." Nach Aristoteles entnahm Piaton die Ideen der sinnlichen Existenz und erklärte sie dann für von ewig her existierende, primäre Wirklichkeit. Nach Aristoteles ist die Aufgabe der Wissenschaft die Erkenntnis des Seienden, deren Grundlage die sinnlichen Wahrnehmungen bilden. Die begriffliche Erkenntnis steht höher als die bloß auf den Sinnen beruhende Erkenntnis, aber auch diese begriffliche Erkenntnis ist eine Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die logischen Formen des wahren Denkens sind nach Aristoteles Abbildungen der Zusammen­hänge der Wirklichkeit.

Die großen griechischen materialistischen Denker sind anfangs in naiver, später in immer bewußterer Form Anhänger der Theorie der Widerspiegelung. Schon Demokrit macht darauf aufmerksam, daß „es schwierig ist, zu erkennen, welche Beschaffenheit die Dinge in ihrer Wirklichkeit haben". Demokrit weist auf die Unverläßlichkeit der Sinne hin, doch zieht er hieraus nur den Schluß, daß wir bei der durch die Sinnesempfindungen gegebenen oberflächlichen Erkenntnis nicht stehenbleiben dürfen, sondern tiefer in die Wirklichkeit eindringen müssen, um deren Wesen zu erkennen. Die wesenhafte Wirklichkeit besteht aus Atomen. Diese Erkenntnis spiegele die wahre Wirklich­keit wider.

Epikur steht auf dem Boden einer folgerichtigen materialistischen Wriderspiegelungstheorie. Die Seele gewinnt ihre Vorstellungen aus den sinnlichen Wahrnehmungen, die Empfindungen sind die Kri­terien der Wahrheit. „Daß die Körper existieren, davon zeugen die Empfindungen der Menschen, auf deren Grund man auch über das Nicht-Wahrnehmbare urteilen kann."(4)

Die Erkenntnistheorie der Stoa ist ebenfalls eine bewußte Stellung­nahme für die Widerspiegelungstheorie. Nach der Stoa ist die Seele eine Wachstafel, ihre Vorstellungen entstehen unter der Einwirkung der Dinge. Die durch die objektiven Dinge zustande gebrachten Vor­stellungen führen auf dem Wege von Erinnerung und Folgerung zur Bildung von Begriffen; diese jedoch haben keine objektive Existenz und haben nur in ihrer Beziehung auf das objektive Sein einen Sinn.

Die großen Denker der Renaissance bekannten sich sozusagen aus­nahmslos zum Standpunkt der Widerspiegelung, d. h. zur erkenntnis­theoretischen Auffassung des Materialismus. Welche große Rolle der richtigen materialistischen Auffassung der Erkenntnis im Denken der Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaft zukommt, können wir durch zahlreiche Zitate aus den Werken Keplers und Galileis be­legen. Keplers Zeitgenosse, der Mystiker Robert Fludd, behauptete, daß wir das Bild der Natur ausschließlich auf Grund abstrakter Begriffe bilden. Demgegenüber spiegeln nach Kepler die abstrakten Begriffe die realen Verhältnisse wider; deshalb sind unsere Begriffe den Dingen ähnlich; „denn was könnte einer Sache ähnlicher sein, als das Abgebildete dem Urbild"? Auf dem erkenntnistheoretischen Standpunkt der Widerspiegelung stehen im Allgemeinen die großen Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts.

Eine folgerichtige Widerspiegelungstheorie kann nur nach materia­listischen Gesichtspunkten ausgearbeitet werden. Der objektive Idea­lismus hält die Erkenntnis in gewissem Sinne ebenfalls für Widerspiege­lung. Zu welchen verkehrten Erklärungen der objektive Idealismus in der Deutung der Tatsache, daß unsere Ideen den Dingen entsprechen, sich genötigt sieht, veranschaulicht in sehr lehrreicher Weise Leibniz' Erklärung dieses Zusammenhangs. Nach Leibniz hat Gott sowohl die Dinge als auch den Geist erschaffen. Daß der Geist, d. h. unsere Gedanken den Dingen entsprechen, deutet Leibniz wie folgt: „Gott hat unserem Geiste eine Denkkraft verliehen, die mittels eigener Tätigkeit solche Resultate abzuleiten vermag, die den tatsächlichen Folgen der Dinge gänzlich entsprechen. Daher können aus der Idee des Kreises solche Wahrheiten abgeleitet werden, die der wirkliche Kreis zweifellos rechtfertigen wird."(5)

Der im 17. und 18. Jahrhundert herrschende mechanistische Materialismus erklärte im Allgemeinen die Erkenntnis in richtiger Weise für Widerspiegelung, aber infolge seiner Beschränktheiten war er nicht imstande, eine befriedigende, widerspruchslose, folgerichtige Widerspiegelungstheorie zu geben. Aus den Mängeln des mechani­stischen Materialismus ist die Tatsache zu erklären, daß ein Teil der Naturforscher in idealistischer Richtung die Erklärung für die Fragen suchte, die der mechanistische Materialismus nicht befriedigend be­antworten konnte. Die Mängel und Fehler des mechanistischen Materialismus überwand und verbesserte der dialektische Materialismus.

Fußnoten

4) Epikurs Brief an Herodot
5) Leibniz, Opera, ed. Gerhardt, Band VII, S. 261

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Béla Fogarasi, Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe, Berlin 1953, S.366 - 369

Aus der Vorgeschichte des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt (Main):

"Zu Pfingsten 1923 versammelten sich im Geraberg/Thüringen knapp zwei Dutzend vorwiegend junge sozialistische Intellektuelle (fast alles KPD-Mitglieder), um in einer »Marxistischen Arbeitswoche« über Theorie und Praxis zu diskutieren. Neben den Initiatoren Felix Weil und Karl Korsch (mit ihren Frauen Käthe und Hedda) waren u. a. Georg Lukács Friedrich Pollock, Konstantin Zetkin, Richard und Christiane Sorge, Karl August und Rose Wittfogel, Béla Fogarasi und seine spätere Frau Margarete Lissauer sowie Kuzuo Fukumoto aus Japan anwesend."

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