75 Jahre Frankfurter Schule Die GrünbergEpoche
Es begann mit einem Theorieseminar in Thüringen
Von Prof. Rolf Hecker
7/899
trend
online
zeitungBriefe oder Artikel:
kamue@partisan.net
ODER per Snail:
AntiQuariat
Oranienstr. 45
D10969 Berlin
Mit einer programmatischen Rede des Staatsrechtlers Carl Grünberg wurde am 22. Juni 1924 das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt (Main) eröffnet. Der aus Wien berufene Gelehrte wurde dessen erster Direktor. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten des Instituts sollte die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung stehen. Grünberg bekannte sich als Anhänger des Marxismus, wobei er betonte, daß er den Marxismus nicht parteipolitisch, sondern in rein wissenschaftlichem Sinne aufgefaßt wissen will: zur Bezeichnung eines in sich geschlossenen ökonomischen Systems, einer bestimmten Weltanschauung und einer fest umrissenen Forschungsmethode.Das Institut, die sogenannte Frankfurter Schule, ist heute vor allem mit Namen wie Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor W Adorno, Herbert Marcuse sowie mit Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg, also mit dem sozialwissenschaftlichen Paradigma einer »Kritischen Theorie« verknüpft. Im folgenden soll an deren Frühgeschichte, die »GrünbergEpoche« ' erinnert werden, die in einschlägigen Veröffentlichungen häufig verkürzt dargestellt oder ganz ausgeblendet wird. Das mag einerseits daran liegen, daß die in Moskau überlieferten Dokumente der Institutsgründer noch nicht ausgewertet werden konnten, andererseits daran, daß dies wohl nicht der Interessenlage des heutigen Instituts entspricht.
Die Vorgeschichte: Zu Pfingsten 1923 versammelten sich im Geraberg/Thüringen knapp zwei Dutzend vorwiegend junge sozialistische Intellektuelle (fast alles KPDMitglieder), um in einer »Marxistischen Arbeitswoche« über Theorie und Praxis zu diskutieren. Neben den Initiatoren Felix Weil und Karl Korsch (mit ihren Frauen Käthe und Hedda) waren u. a. Georg Lukács Friedrich Pollock, Konstantin Zetkin, Richard und Christiane Sorge, Karl August und Rose Wittfogel, Béla Fogarasi und seine spätere Frau Margarete Lissauer sowie Kuzuo Fukumoto aus Japan anwesend. Dieses »erste TheorieSeminar« bestärkte Felix Weil in seinem seit 1922 geplanten Vorhaben, Wege für eine jenseits des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes stehende marxistischen Einrichtung zu suchen. Sein Vater, der Multimillionär Hermann Weil, war bereit, eine Stiftung zu finanzieren. Als möglicher Leiter war zunächst der linkssozialistische Professor Kurt Albert Gerlach vorgesehen, der jedoch im Oktober 1922 verstarb. Dann gab es Verhandlungen mit dem Historiker und EngelsBiographen Gustav Mayer. Gleichzeitig würde Grünberg ins Gespräch gebracht.
Über die Personalfragen schrieb der ungarische Philosoph Béla Fogarasi in einem bisher unveröffentlichten Brief am 20. Februar 1924 an den Direktor. des Moskauer MarxEngelsInstituts David Rjazanov: »Das Institut sollte nach außen einen offiziellen Charakter tragen, in einem freien Verhältnis an die Frankfurter Universität angegliedert sein, so daß zwischen der Universität und dem Institut eine Personalunion bestehen sollte ... Diese Kombination war ganz auf Grünberg zugeschnitten, der für die bürgerliche Welt die nötige Autorität besitzt, nach innen aber die Möglichkeit einer kollektiven marxistischen Forschungs und Erziehungsarbeit in unserem Sinne gesichert hätte.« Rjazanov war über das Frankfurter Projekt erstmals im September 1922 während eines Kuraufenthalts in Bad Elster von Grünberg in Kenntnis gesetzt wurden. Der russische MarxEngelsForscher kannte Grünberg aus seiner Emigrationszeit in Wien (19091915).
Das Institut profilierte sich in den folgenden Jahren mit Forschungen zur Geschichte des Sozialismus, zur Wirtschaftsgeschichte und Geschichte der Kritik der politischen Ökonomie. Ein untrennbarer Bestandteil der Tätigkeit wurde die Zusammenarbeit mit dem Moskauer MarxEngels Institut bei der Herausgabe der ersten MarxEngelsGesamtausgabe (MEGA).
Bereits einen Monat nach Grünbergs Antrittsrede traf Rjazanov in Frankfurt (Main) ein. In seinem Gepäck der Beschluß des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale über die »vollständige Ausgabe der Werke und Briefe von Marx und Engels mit historischkritischen Kommentaren«. Neben Grünberg und Weil waren Friedrich Pollock und Henryk Grossmann als Assistenten des Direktors sowie Rose Wittfogel, die die Bibliothek des Instituts leitete, in die Abstimmung des gemeinsamen Vorgehens einbezogen. Am 20. August 1924 wurden die gemeinsame Herausgabe einer Schriftenreihe vereinbart sowie ein Gesellschaftsvertrag über die Einrichtung einer MarxEngelsArchivVerlagsgesellschaft m.b.H. hinterlegt. Damit war der Weg frei für die Herausgabe der MEGA in Deutschland.
Aus einer Aktennotiz Weils über die Verhandlungen mit Rjazanov gehen weitere wichtige Details hervor, u. a. wie die Kopierarbeiten des MarxEngelsNachlasses in Frankfurt (Main) vorbereitet werden sollten. Weiterhin übernahm Weil die Aufgabe, die Verhandlungen mit dem SPDVorstand über einen Vertrag zur Unterstützung der MEGA zu führen. Außerdem wurde mit Eduard Bernstein Einigung über die Benutzung der bei ihm befindlichen MarxDokumente erzielt. Nachdem diese Fragen gelöst waren und der Moskauer Korrespondent in Berlin, Boris Nikolaevskij, mit der Inventarisierung und Kopierung des MarxEngelsNachlasses begonnen hatte, schrieb am 20. Januar 1925 Rjazanov an Grünberg: »Nachdem die vorbereitenden Arbeiten der Marx EngelsGesamtausgabe so weit vorgeschritten sind, daß das Erscheinen des ersten Bandes in diesem Frühjahr als gesichert erscheint, fühle ich mich veranlaßt, Ihrem Institute und persönlich Ihnen meinen besonderen Dank für die wertvolle Unterstützung, die Sie uns während der Ausführung dieser Arbeiten zuteil werden ließen, auszusprechen.« Grünberg antwortete: »Ich bewundere gleichermaßen Ihre Arbeitskraft, Ihre zielbewußte Energie und Ihren Enthusiasmus. Sie allein machen es möglich, Ihren großen Arbeitsplan, der an sich die Arbeitskraft eines einzelnen übersteigt, als durchführbar erscheinen lassen. Daß das Institut für Sozialforschung und ich selbst stolz sind und auch weiterhin auf das Äußerste bemüht sein werden, Ihnen behilflich zu sein, versteht sich von selbst. Handelt es sich doch dabei um Förderung ebensowohl der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit, als auch der großen Sache des Sozialismus.«
Der erste MEGABand erschien 1927. Bis 1928 wurden der gesamte MarxEngelsNachlaß aus dem SPDArchiv, MarxEngelsMaterialien aus Familienbesitz und unzählige Dokumente aus deutschen Archiven in Frankfurt kopiert. Der Austausch von wissenschaftlichen Arbeiten fand in jenen Jahren seinen Niederschlag in den von Grünberg und Rjazanov herausgegebenen Publikationsreihen, dem »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung« und dem zweisprachig erscheinenden »MarxEngelsArchiv«. Den Herausgebern stand ein Wissenschaftlerkreis zur Verfügung, der einen freien Meinungsaustausch über den Marxismus versprach. Hier finden sich die Anfänge einer philologisch orientierten MarxEngelsForschung.
Die Zusammenarbeit zwischen den Instituten war freilich nicht immer konfliktfrei. Vor allem galt es, den akademischen Standard der MEGA zu sichern und sie nicht zu einer »Volksausgabe« in Parteiinteressen werden zu lassen. Rjazanov befand sich in einer schwierigen Situation gegenüber den Erwartungen der Komintern, während Weil forderte, in der wissenschaftlichkritischen Ausgabe »jeden unsachlichen Ton« zu vermeiden. Er schrieb an Rjazanovs Stellvertreter Ernst Czóbel: »Ich werde deshalb auch Garantien in irgend einer Form verlangen müssen, daß die Gesamtausgabe auch tatsächlich unseren Ankündigungen entspricht, und ich will keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß ich nicht gewillt bin, meinen, unseren und Grünbergs guten Namen kompromittieren zu lassen.«
Im Frühjahr 1928 deutete sich an, daß die Anfangsschwierigkeiten der MEGA überwunden waren, das Konstrukt der gemeinsamen Verlagsanstalt nicht mehr notwendig war. Darüber hinaus konnte der 66jährige Grünberg nach einem Schlaganfall die Institutsleitung nicht mehr ausüben. Bis 1930 wurden die Geschäfte von Pollock geführt. Rjazanov sprach von bevorstehender »Scheidung«. Hintergrund waren die veränderte Politik der KI gegenüber der Sozialdemokratie und die Aufkündigung der Archivarbeiten seitens des SPDVorstandes. Rjazanov mußte den Gesellschaftsvertrag am 14. August 1928 lösen, er wollte jedoch kooperative Kontakte aufrechterhalten.
1931 übernahm Max Horkheimer die Leitung des Instituts für Sozialforschung. Mit ihm verlagerte sich die Forschung auf die Soziologie. Nach dem Machtantritt emigrierte das Institut nach Genf, später an die Columbia University in den USA.
Die Erforschung der erfolgreichen Kooperation bei der Herausgabe der MEGA wird jetzt durch die Erschließung des in Moskau befindlichen Briefwechsels zwischen den beiden Instituten möglich werden, eine Dokumentenpublikation mit über 100 Briefen wird noch in diesem Jahr in der Reihe »Beiträge zur MarxEngelsForschung. Neue Folge« (Argument Verlag) erscheinen.
Quelle: ND 26./27. Juni 1999 S.15