Die amerikanische Verfassungskrise  (Teil VI)
Kritische Anmerkungen zum Artikel von Iwan Nikolajew


von Jörg Finkenberger

12/2020

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Ehe wir wieder darangehen, über die amerikanische Krise selbst weiter zu schreiben, in der Zwischenzeit noch ein zwei Sachen über ihre Wirkung auf die Gemüter überall. Die Literatur über die derzeitige Krise der Gesellschaften ist von der Krise selbst nicht gut zu trennen. Nehmen wir folgendes schöne Beispiel:

Die Agonie des US-Imperialismus
Die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes auf den Trümmern des neoliberalen Weltmarktes
von Iwan Nikolajew

Mich interessiert grad weniger, was er beschreibt, sondern eher, wie. Man hat immerzu den Eindruck, dass die Leute den einzelnen politischen Kräften und sogar den Prozessen viel mehr an Bewusstheit und Organisiertheit zuschreiben, als diese haben können. Eine Krise, lehrte die Erfahrung, kann zu Diktatur führen. Dikatur, lehren die Klassiker, ist die am meisten brutale Herrschaft der herrschenden Klassen insgesamt. Die verfeindeten Parteien repräsentieren beides die herrschende Klasse. Ergo:

Die USA stehen nach der Wahl am Rande eines Bürgerkrieges. Verhindert werden kann ein Bürgerkrieg und ein Zerfall der USA unter kapitalistischen Bedingungen unter Umständen nur eine Diktatur, ob zivil oder militärisch, ist gleichgültig. Alternativ eine „Regierung der nationalen Einheit“. … Für die US-Bourgeoisie wird es sehr kompliziert werden, ihren Fraktionskampf untereinander zu mäßigen und sich auf einen Kompromiß im Sinne einer „Regierung der nationalen Einheit“ hinzubewegen. Auch eine „Regierung der nationalen Einheit“ ist ein Moment des bürgerlichen Ausnahmestaates und geht mit großer Repression gegen die Arbeiterklasse vor, denn beide Fraktionen des Kapitals einigen sich auf dem Rücken der Arbeiterklasse, wenn sie sich überhaupt einigen können. …

WTF? Niemand hat von so etwas gesprochen, wie kommt man überhaupt darauf? Die verschiednen Fraktionen der Herrschenden sind nicht zuerst von dem Bewusstsein angetrieben, dass sie sich untereinander einigen müssen. Die Weltgeschichte sähe recht anders aus sonst. Kurz vorher standen die verfeindeten Parteien am Rand, sich die Hälse abzuschneiden, ergo müssen sie eine Einheitsregierung bilden.

Solche heissgelaufene Logik findet sich überall in dem Text, völlig random gemischt mit eher realistischen Auffassungen. Aber die fixe Idee wird durchgehalten, dass überall jetzt schon die Kräfte der Diktatur am Werk sind; wenn doch, wie sie selbst einräumen, diese Kräfte im Laufe der Krise und der Konflikte sich erst konstituieren!

Dieselben Regierungen, denen die Krise einerseits die Handlungsfähigkeit nimm, entfalten andererseits sagenhafte Weitsicht und ungeheure Macht; die Krise, noch ehe sie voll entfaltet ist, ist eigentlich schon bewältigt; die Diktatur, die auf der einen Seite aus der Krise hervorzugehen droht, ist auf der anderen Seite schon an ihrem Beginn anwesend und vollauf Herrin der Lage. Überall derselbe rätselhafte Zeitsprung, wo die Lösung eines Konflikts schon anwesend ist vor dem Konflikt. Das aber geschieht in Wirklichkeit nur an einem einzigen Ort, im menschlichen Geist des Theoretikers; dies ist die grosse Zeit des auf dem Kopf stehenden Denkens. Und „die Massen“, das soll man nicht vergessen, bestehen geradesogut aus Theroetikern wie die „politische Avantgarde“ auch:

Wir sehen, daß das traditionelle Kleinbürgertum, welches von der Stilllegung von Branchen im „Corona-Notstand“ betroffen ist, nicht vom Kapital zur „Leistungsgemeinschaft/Volksgemeinschaft“ gezählt wird… das bisherige traditionelle Kleinbürgertum in seiner sozialen Zusammensetzung, behindert die Weltmarktkonkurrenz des deutschen Kapitals und muß wenn nötig auch, physisch vernichtet werden

 

Umgekehrt wird ein Schuh draus: das Kleinbürgertum fürchtet, dass es nicht zur „Leistungsgemeinschaft“ gezählt werden wird, wenn es wirklich darauf ankommt. Die Ahnung der Diktatur und der „physischen Vernichtung“ der Überflüssigen hat die grösste Macht auf diejenigen, die innerlich von ihrer eventuellen Notwendigkeit am ehesten überzeugt sind. Wer das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz vom 27.3.1933 vergleicht, handelt nicht einfach aus Sorge, dass derlei wieder passieren könnte, sondern aus Empörung, zu Unrecht zu den Unerwünschten gezählt zu werden. Der ganze Rest der Gesellschaft, die Regierungen eingeschlossen, haben nicht die leiseste Ahnung, warum so etwas überhaupt zur Debatte steht und wie man auf so etwas kommt.

Der argwöhnische Verstand der Theoretiker sieht allzuglattes Funktionieren, wo man genauer betrachtet eine Desintegration der Apparate und der Gesellschaften sähe. Wie laufen denn die Dinge im so gut organisierten Deutschland? Auf Twitter habe ich jemanden neuerdings von einer „völlig zerschossenen Krisenkommunikation“ schreiben sehen. Das ist vollkommen richtig. Die Regierungen sind keineswegs in der Lage, einen derart eisern-einheitlichen Willen zu bilden, wie man sie ihnen zuschreibt. Dabei haben sie es mit einer Lage zu tun, die im Kontext des Katastrophenschutzes noch nicht einmal überaus komplex ist.

Nach 1929 war nicht Heinrich Brünig der, der den Faschismus gemacht hat. Die Kommunisten haben es bekanntlich trotzdem behauptet. Wird man nicht sagen, dass das ein Fehler war? Das dicke Ende kommt am Ende, nicht am Anfang der Krise. Die Aufregung in manchen Kreisen über die Bekämpfung der Epidemie ist aber nicht irrelevant: sie sagt viel aus. Aber etwas anderes, als diese Leute selbst meinen.

Editorische Hinweise

Der Beitrag erschien am 12.12.2020 auf der Website des Autors "Das grosse Thier": https://dasgrossethier.wordpress.com/2020/12/12/die-amerikanische-verfassungskrise-vi/

Dort können die zuvor erschienenen Teile (I II III IV V) gelesen werden.