Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Die Haltung der NaO zum Reformismus
Eine Erwiderung auf den Beitrag des Genossen Manuel Kellner (März 2012)

von
Jakob (RSB), 18.4.2012

In seinem Beitrag „Neue revolutionäre Organisation und die Partei Die Linke geht Genosse Manuel (isl) auf die Ausführungen ein, mit denen der RSB im Mai letzten Jahres positiv auf den Aufruf zur Debatte seitens der SIB geantwortet hatte. Manuels Artikel hat das unzweifelhafte Verdienst, die unterschiedliche Herangehensweise zwischen isl und RSB an einigen zentralen Punkten zu benennen. Ich will diese Fragen mit einigen – so hoffe ich klärenden – Anmerkungen noch etwas deutlicher herausstellen, um so die Debatte zwischen den beiden Organisationen, wie auch innerhalb des Kreises der bisher am NaO-Prozess Beteiligten in konstruktiv klärender Weise voranzubringen.

Mit dem Etikett ‚reformistisch‘ ist wenig gesagt.“

Diese Zwischenüberschrift in Manuels Text ist eine seiner zentralen Ausführungen und darüber scheiden sich auch die Geister. Wir (damit meine ich nicht nur den RSB, sondern auch die anderen bisher am NaO-Prozess beteiligten Organisationen und Einzelpersonen) können sicherlich Manuel zustimmen, dass die Partei Die Linke mehrheitlich nur reformerisch ist, also noch nicht einmal das System überwinden will, geschweige denn dies auf revolutionäre Weise erreichen will. Manuel legt dar, dass die politische Einstellung „reformistisch“ schon ein großer Fortschritt ist, der gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Er legt den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten mit den ReformistInnen und hält die Abgrenzung von diesen im Grunde für sektiererisch. An einigen seiner Ausführungen will ich deutlich machen, wo die Differenzen zwischen isl und RSB liegen. Manuel schreibt:

Die Charakterisierung als „reformistisch“ ist heutzutage nach meinem Gefühl, um ehrlich zu sein, angesichts des bestehenden politischen Spektrums und des jeweiligen Einflusses der verschiedenen politischen Strömungen eher ein Kompliment denn eine Invektive [Schmähung].“

Dem kann ich und dem können wir in dieser Allgemeinheit zustimmen, denn auch der RSB kennt natürlich sehr wohl die Bedingungen in diesem Land, nicht zuletzt die realen Bewusstseinsstände in Betrieb und Gewerkschaft. Im Gesamtspektrum der politischen Meinungen der Bevölkerung ist eine reformistisch-sozialistische Einstellung etwas (vergleichbar) Fortschrittliches. Aber wie weit kommen wir mit dieser allgemeinen Feststellung, dass nämlich alles relativ ist? Für Manuel – und die isl – ist die Orientierung auf den Mitaufbau eines reformistischen Projekts recht zwingend aus der Wesensähnlichkeit von revolutionären und reformistischen Einstellungen abgeleitet. Das nächste Zitat macht dies deutlich:

Die positive Bedeutung des Begriffs „reformistisch“ liegt darin, das[s] eine „reformistische“ und eine „revolutionäre“ Konzeption das Ziel der Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft gemeinsam haben.“

Dieser Gedanke durchzieht quasi seinen gesamten Text, aber an keiner Stelle wird der Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen überhaupt auch nur ansatzweise benannt. Wir erinnern uns daran, dass Manuel in einem früheren Text von der Überholtheit dieser Differenz in der heutigen Zeit gesprochen hat, weil beide ja am selben Strang ziehen. Wenn in dem jetzt hier vorliegenden neuen Text (der im Namen – und sicherlich in gewisser Weise im Auftrag –der isl geschrieben wurde) die fundamentale Differenz nicht benannt ist, dann ist dies kein Zufall, sondern symptomatisch und wesentlich für die Herangehensweise mindestens von Manuel, wenn nicht großer Teile der isl.

Wir haben hier folgende Fragen:

Können wir in der Frage Reform oder Revolution überhaupt abstinent sein?
Ist uns denn die Frage „reformistische oder revolutionäre Politik“ gleichgültig?
Hat Genosse Manuel völlig verdrängt, worin die Fallstricke des Reformismus liegen?

 

Hier nur einige der für uns wesentlichen Erkenntnisse aus dem Verlauf der internationalen Klassenkämpfe:

  • Die Förderung reformistischer Illusionen führt die Massen regelmäßig in historische Sackgassen. Dies war nicht nur so bei der Allende-Regierung (Chile 1970-1973), sondern ist im Grunde in allen zugespitzten Klassenkampfsituationen immer regelmäßig dann der Fall, wenn die reformistischen Kräfte dominieren und die revolutionären Kräfte zu schwach sind, bzw. zu spät angefangen haben, als gesonderte Organisation anzutreten, die für den revolutionären Bruch eintritt (das markanteste Beispiel in Deutschland war 1918). Und sage uns bitte niemand, dass wir heute nicht in einer „revolutionären Periode“ leben. Hier geht es um Grundsätzliches, ganz abgesehen davon, dass der Kapitalismus heute in einer tief greifenden Systemkrise steckt und politische Veränderungen vielleicht schneller kommen, als manche heute noch denken. Auch in Griechenland hat vor fünf Jahren keine(r) mit so vielen Generalstreiks gerechnet. Eine revolutionäre Organisation entsteht nicht wie Phönix aus der Asche, sondern muss über Jahre und Jahrzehnte geduldiger Aufbauarbeit, Fusionen, Umgruppierungen usw. aufgebaut werden. Dass dabei – im Verlauf sich zuspitzender Klassenkämpfe – auch Menschen gewonnen werden können (wahrscheinlich sogar sicher gewonnen werden), die sich in reformistischen Organisationen radikalisieren – ist hoffentlich allen klar. Aber: Von nichts kommt nichts. Gibt es keine revolutionäre Organisation, kann sie auch nicht zum Kristallisationspunkt von positiven Umgruppierungsprozessen werden.

  • ReformistInnen haben nicht dasselbe Ziel wie RevolutionärInnen. ReformistInnen ist im Zweifelsfall die Bewahrung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung wichtiger als sich in ein ungewisses Abenteuer zu stürzen, in dem ihre partiellen Errungenschaften (Parlamentssitze, Bürokratenposten, Knete für Stiftungen etc.) gefährdet werden. Reformistisch beeinflusste Massen können in einem zugespitzten Klassenkampf sehr wohl für die Sache der Revolution gewonnen werden, aber die politischen Apparate der durch und durch reformistischen (parlamentaristischen) Organisationen eben nicht! Sie orientieren grundsätzlich auf die Sackgassen, wie wir sie immer wieder erlebt haben. Auch der Mai 68 beispielsweise wurde mit dem Abkommen von Grenelle und der Verständigung auf neue Parlamentswahlen abgewürgt. Auch hier waren die revolutionären Kräfte zu schwach und im entscheidenden Moment eben nicht auf derselben Seite der Barrikade wie die ReformistInnen (so viel zu den angeblich gemeinsamen Zielen).

  • Auch unabhängig von der Aktivität politisch engagierter Linker wird durch die massive Propaganda reformistischer Apparate ab einem bestimmten Punkt die Weiterentwicklung des breiten Massenbewusstseins behindert, weil diese Apparate unablässig auf die Nutzung der Mittel parlamentarischer Demokratie orientieren. Eine Lähmung der Selbstaktivität ist dann die Folge. Und das sehr wohl auch in „nicht-revolutionären“ Zeiten.

  • Nicht unerheblich ist auch das Absorbieren von Kräften der radikalen Linken, die meinen, sie könnten die „große Partei“ nennenswert verändern. Im Gegenteil: Die Apparate und die parteiinternen Verpflichtungen (darunter auch die „Machtkämpfe“) fressen diese GenossInnen auf. Nicht nur fehlen sie dann bei den außerparlamentarischen Aktivitäten revolutionärer Organisationen, sondern wir haben es meist sogar mit einem Prozess der „Entrevolutionierung von RevolutionärInnen“ zu tun (könnte das z. B. nicht etwa heute schon bei führenden Mitgliedern der Linkspartei in Duisburg der Fall sein, die bis vor nicht allzu langer Zeit Mitglieder der isl waren?).

Hier kommen wir zu einer weiteren wichtigen Differenz, die wir mit Manuel (und mit der Mehrheit der isl?) haben:

Nehmen wir einen Moment lang an, wir hätten dieselbe Einschätzung von dem Wesensunterschied von reformistischer und revolutionärer Politik. Dann könnte mensch immer noch der Meinung sein, eine Arbeit in der Partei Die Linke sei sinnvoll, weil damit revolutionäre Kräfte gesammelt werden können. Aber genau dies ist nicht das Ziel der isl-GenossInnen! Sie haben nach der Darstellung von Manuel (und nach allen uns zur Verfügung stehenden Erklärungen gilt dies für die isl insgesamt) die Vorstellung und das Ziel, die Partei nennenswert zu verändern und darüber  „Politik zu machen“. Dies ist eine totale Verkennung nicht nur der quantitativen Kräfteverhältnisse (die radikale Linke in der Partei umfasst – alle Strömungen zusammen genommen – gerade mal ein paar Hundert Mitglieder), sondern auch der Macht des Apparates (in der Partei, in der Stiftung, mit den Mandatsträgern usw.). Ich möchte hier nur ganz leise daran erinnern, dass nicht der Schwanz mit dem Hund wedelt.

Programm

Manuel schreibt:

Das Ziel der Überwindung des kapitalistischen Systems steht im neuen Programm der Partei Die Linke. Das ist ein Fortschritt gegenüber den früheren programmatischen Dokumenten.“

Und etwas weiter dann:

Aber weder die Praxis der Partei noch ihre Führung noch die wirklichen Ansichten der Mehrheit ihrer Mitglieder (oder auch ihrer Wählerinnen und Wähler) stimmen mit ihrem programmatischen Anspruch überein, den Kapitalismus überwinden zu wollen.“

Was ist an diesem Gegensatz eigentlich neu? Hier wird doch nur die altbekannte Zweiteilung (die SIB würde sagen „Dichotomie“) von Sonntagsreden (= revolutionäres Programm auf dem Papier) auf der einen Seite und der üblichen reformistischen bzw. auch nur reformerischen Praxis auf der anderen Seite reproduziert. Papier ist eben geduldig! Wenn damit die Linken (HalbrevolutionärInnen oder RevolutionärInnen) zur weiteren aktiven Aufbauarbeit animiert werden können, dann „passt’s scho“ und die Funktion dieses „papierenen“ Dokuments ist erfüllt!

Für uns – also für RevolutionärInnen, wozu wir ja bekanntlich auch die isl rechnen – ist doch das Programm nicht ein Stück Papier, geschrieben für’s Bücherregal, oder um unter bestimmten Leuten gute Stimmung zu machen! Entscheidend ist doch das Programm als gelebte Praxis. Und dass die Partei Die Linke nicht im entferntesten engagiert ist, das im Parteiprogramm niedergeschriebene Ziel in praktischer Politik zu verfolgen, weiß natürlich auch Manuel (und er schreibt es auch).
 

Ich will auf zwei Ebenen hinweisen, die bei Manuel bezeichnenderweise überhaupt nicht vorkommen:

  • Die gesamte Politik der Parteiführung und praktisch aller in der Öffentlichkeit wahrnehmbarer MandatsträgerInnen (die wenigen – bisherigen – NRW Landtagsabgeordneten zählen da nicht groß) ist ausschließlich darum bemüht, sich als Koalitionspartnerin einer SPD-geführten Regierung ins Gespräch zu bringen, bzw. dort, wo sie schon am Drücker sind, das bestehende System nach klassisch sozialdemokratischer Manier zu verwalten (Brandenburg, in den Kommunen, usw.) An keiner Stelle wird von Klassenkampf geredet, auch Manuel tut das nicht, auch die isl-GenossInnen in der Partei Die Linke tun es nicht. Damit meinen wir nicht den Gebrauch von Schlagwörtern. Aber ohne eine bestimmte Begrifflichkeit, die immer wieder erklärt werden muss, und ohne engagiertes Eintreten für bestimmte Inhalte lässt sich kein politisches Klassenbewusstsein bilden. Von dem erforderlichen Kampf der KollegInnen gegen das Kapital sollten wir reden, davon, dass wir uns entsprechend organisieren müssen, usw. Und die Frage ist entscheidend, welche Forderungen wir hier propagieren. Dies hängt übrigens nicht rein zufällig mit dem nächsten Punkt zusammen.

  • Die heutige verfahrene Klassenkampfsituation hängt zu einem ganz gerüttelt Maß mit der extremen Stillhalte- und Standortpolitik der Gewerkschaftsbürokratie zusammen. Sie ist ganz regelmäßig verantwortlich dafür, dass jeweils sich neu entwickelnde Mobilisierungen und Kampfsituationen bewusst in den Sand gesetzt und die KollegInnen bitter enttäuscht werden. Letztes Beispiel: der absolut schockierende Abschluss im ÖD, trotz toller Mobilisierung, großem Nachholbedarf, guter Ausgangsposition zur Führung eines Erzwingungsstreiks, großem Engagement für die Festgeldforderung usw. und dann so ein absolut verheerender Abschluss! Nicht anders ist es mit der verbrecherischen Initiative für die „Tarifeinheit“ oder mit dem Aufruf zum Streikbruch am Frankfurter Flughafen (beim Kampf der KollegInnen auf dem Vorfeld). Eine fortschrittliche Politik einer sich sozialistisch nennenden Organisation müsste also die Verantwortung der Gewerkschaftsbürokratie benennen, müsste sie überhaupt erst einmal beim Namen nennen, müsste die KollegInnen zum Weiterführen ihres Kampfes aufrufen usw., aber all dies tut die Partei nicht (und auch die isl tut es nicht, jedenfalls nehmen wir es nicht wahr). Dass die Partei dies nicht tut, hat einen klaren Grund: Sie setzt auf den strategischen Partner Gewerkschaftsführung. Der Klassenkampf spielt in ihrem Denken keine Rolle.

Die Rolle von Wahlen

Manuel stellt mit seiner halben Unterstellung, wir würden die Bedeutung der Wahlebene für die Arbeit der Revolutionäre nicht erkennen, einen Pappkameraden auf:

Aus diesem Grund fürchte ich eine Übertreibung der antiparlamentarischen Positionen und Warnungen wegen der damit einhergehenden Selbstbeschränkung und Selbstbehinderung linker und revolutionärer Kräfte, wobei der Verweis kleiner Grüppchen auf die Wichtigkeit der außerparlamentarischen Arbeit, der Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften usw. dann eher als Surrogat dient.“

Worum geht es wirklich? Grundsätzlich gibt es zwei diametral entgegengesetzte Positionen für eine Wahlbeteiligung. Die eine verfolgt das Ziel, mittels parlamentarischer Mehrheit gewisse Veränderung der Politik durchzusetzen. Dies ist offensichtlich die Position von Manuel (und der isl?), was in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt:

Die Enthaltung zum Nachtragshaushalt 2010 und zum Haushalt 2011 ist nicht von der Fraktion im Alleingang beschlossen worden. Man mag die Entscheidung für falsch halten, aber es gab Argumente dafür, die eine Mehrheit überzeugt hatten. Immerhin hatten SPD und Grüne eine vorsichtige Korrektur (gemessen an der Schröder-Fischer-Politik) vorgenommen, um wahlpolitisch Terrain gutzumachen und viele Forderungen der Partei Die Linke (wenn auch unzureichend natürlich) aufgegriffen. Nicht umsonst sind CDU und FDP gegen diese Haushalte Amok gelaufen und auch vor die Gerichte gezogen.“

Genau in dieser Politik liegt der Schwerpunkt nicht nur der Arbeit der Partei Die Linke, sondern auch der isl. Vom Standpunkt eines antikapitalistischen, revolutionären Ansatzes sind die hier benannten Veränderungen, die die Partei Die Linke erreicht hat, doch extrem bescheiden, um es mal ganz vorsichtig auszudrücken.

Und zur Stimmenthaltung bei der Budgetfrage haben revolutionäre SozialistInnen traditionell eine völlig andere Position. Der Haushalt einer bürgerlichen Regierung ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, das bestehende System zu verwalten und kann nicht aufgrund einiger gradueller Veränderungen in zweitrangigen Fragen so positiv beurteilt werden, dass wir uns hier enthalten könnten. Wir teilen hier ganz ausdrücklich die scharfe Kritik des Genossen Helmut Wendler, die dieser an der Praxis der isl-GenossInnen in NRW geübt hat. En passant: Der Druck zur parlamentaristischen Anpassung ist vor allem in Zeiten schwacher Klassenkämpfe und nur kleiner außerparlamentarischer Kräfte naturgemäß sehr groß. Wir befürchten, dass sich genau dies auch in NRW zeigen wird.

Das Beispiel NPA

Die entgegengesetzte Position wird heute beispielsweise von der NPA in Frankreich vertreten, die nicht dem Druck erlag, sich der Linksfront anzuschließen, die schließlich kein anderes Ziel verfolgt, als mit der PS die neue Regierung zu stellen. Die Linksfront versteht sich als linkes Korrektiv der PS und verfolgt in letzter Konsequenz die gleichen Ziele wie in Deutschland die Partei Die Linke. Der Präsidentschaftskandidat der Linksfront Mélenchon (von der Parti de Gauche, Linkspartei) schlägt im Wahlkampf radikale Töne an, grenzt sich aber an keiner Stelle prinzipiell von der PS und von einer Beteiligung an einer PS-geführten Regierung ab.

Wir müssen keine ProphetInnen sein, um zu wissen, was passieren wird und das ist der Grund weshalb die NPA an ihrem Kandidaten Philippe Poutou festhält und ihr antikapitalistisches, revolutionäres Programm präsentiert. Und es überrascht uns als RSB leider auch nicht wirklich, dass sich zurzeit der rechte Flügel der NPA – nebenbei gesagt, die politisch engsten FreundInnen der isl in der NPA – gerade von der NPA abspaltet, um sich der Linksfront anzuschließen. Diese Abspaltung wird sich bis Juni vollzogen haben. Die Mehrheit der NPA versucht sie noch vom Gegenteil zu überzeugen, aber inzwischen sind sich alle einig, dass dieser Weggang nicht mehr aufzuhalten ist. Warum vollzieht sich dies gerade heute?

Nach der Niederlage im Kampf gegen die Rentenreform verläuft seit mehr als zwei Jahren der Klassenkampf auf einem für französische Verhältnisse sehr niedrigen Level. Die Enttäuschung der Bevölkerung mit der Politik Sarkozys findet dann ihren Ausdruck in verändertem Wahlverhalten, was die Grundlage für den Aufschwung reformerischer oder reformistischer Parteien ist (da gibt es eine gewisse Parallele zur Agendapolitik unter Schröder und dem Entstehen der WASG und später der Partei Die Linke, die letztlich, nicht nur, aber auch von dem Abflauen der Montagsdemo-Bewegung profitierte). Die parlamentaristischen Illusionen, die von dem rechten Flügel der NPA jetzt mit dieser angeblichen „Dynamik der Kampagne Mélenchon“ verbunden sind, teilen wir ganz selbstredend natürlich überhaupt nicht.

Den Gegebenheiten der allgemeinen Klassenkampfentwicklung schenkt Manuel nicht die Beachtung, die erforderlich wäre, und dass er doch sehr stark an den Wahlerfolgen orientiert ist, zeigt das folgende Zitat:

Wie erklären wir uns, dass die NPA inzwischen wahlpolitisch vom Front de Gauche bei Weitem überflügelt worden ist, während vor der Lancierung der NPA Olivier Besancenot als der wichtigste Kandidat links von der Sozialdemokratie erschien? Oder glauben welche, der wahlpolitische Niedergang der NPA ginge einher mit einer mächtigen Erstarkung auf dem Felde der Organisationskraft und der außerparlamentarischen Mobilisierung? War das Scheitern der gerade gegründeten NPA bei der Europaparlamentswahl vom Juni 2009 nicht ein schwerer Rückschlag (knapp 5  %, aber keine Abgeordneten), obwohl das doch „bloß“ bürgerliche Wahlen waren? Hat der Verlust des Images – was eines der Markenzeichen der LCR war – für eine breitere linke Einheit zu stehen, der NPA nicht sehr geschadet?“

Mit der letzten Frage bezieht sich Manuel ganz zweifellos auf das Beharren der NPA auf einem eigenen Präsidentschaftskandidaten, was ja Manuels politische FreundInnen in Frankreich so scharf kritisieren und was sie jetzt zum Austritt bewegt. Mit anderen Worten: Für Manuel (und die isl?) ist die Einheit das wichtigste Ziel. Der konkrete Inhalt ist da offensichtlich zweitrangig. Wir halten es da lieber mit Liebknecht: Erst Klarheit, dann Einheit.

Eine letzte Frage will ich noch kurz anreißen, auch wenn sie in den Diskussionen der am NaO-Prozess beteiligten Organisationen bisher keine Rolle gespielt hat. Manuel schreibt:

Aber egal, ob ein größerer oder kleinerer solcher Zusammenschluss entsteht, auch wenn zum Beispiel nur SIB, RSB, isl und ein paar kleinere Kräfte sowie einige Individuen sich zusammentun würden – und das wäre ja unzweifelhaft schon ein Fortschritt gegenüber dem Ist-Zustand –, in jedem Falle würde sich die Frage nach dem Verhältnis zur Arbeit in der Partei Die Linke stellen.“

Zwei Anmerkungen:

Erstens: Über die mögliche Entwicklung von Umgruppierungsprozessen (die sehr wohl auch Kräfte, die aus der Partei Die Linke kommen, umfassen können) in der ferneren Zukunft sollten wir heute nicht spekulieren. Tatsache ist, dass die Herausbildung einer „Neuen antikapitalistischen Organisation“ (NaO) in der unmittelbar vor uns liegenden Phase (also der nächsten zwei, drei, vier Jahre) sich im Wesentlichen aus dem Spektrum der heute bestehenden linksradikalen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen speisen wird, wenn es denn überhaupt dazu kommt, was heute ja niemand weiß.

Und sicherlich wird so etwas nicht mit einem „Beschluss von oben“ geschehen können, sondern über die Herausbildung engerer organisatorischer Zusammenarbeit (nehmen wir mal den Arbeitsbegriff „gemeinsame Front“) und einer intensiven Phase der politisch-programmatischen Klärung wie auch – und daran liegt uns besonders viel – der gemeinsamen Praxis. Ohne dies ist alles andere Schall und Rauch.

Zweitens: Ich denke, dass die Selbstdefinition der neuen Organisation und ihre politische Abgrenzung zum Reformismus keine Zweideutigkeiten zulassen darf. Darüber wird sich dann im Verlaufe des weiteren NaO-Prozesses vieles von selbst klären.

Eine Gruppe oder Organisation, die sich zur Bildung einer NaO bekennt, sollte an deren Debatte und der Praxis teilnehmen, auch wenn sie wie die isl noch mit einem Bein in der Linkspartei arbeitet. Dies sollte auch gelten, wenn es zur Bildung einer gemeinsamen „Front“ antikapitalistischer Organisationen kommt.

Aber ich kann mir im Moment schlecht vorstellen, dass Mitglieder einer Neuen antikapitalistische Organisation auf Dauer gleichzeitig Mitglieder in der Linkspartei sind. Es kann doch nicht darum gehen, für zwei verschiedene Entwicklungen (Wahlaufschwung reformistischer Kräfte oder Aufschwung revolutionärer Organisationen) das richtige Ticket in der Tasche zu haben.

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Stellungnahme vom Autor.