Die Anfänge der Logik und Dialektik in Griechenland
Teil 2: Die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens bei den Pythagoreern

von Athanase Joja

5-6/2019

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Der Begriff des apeiron war der entscheidende Sprung vom Sinnlich-Kon­kreten zur logischen Abstraktion; doch blieb das unbestimmte Unendliche seiner Natur nach materiell. Das apeiron war die materialistische Lösung der Frage nach dem Wesen der Realität. Es war dies die ideologische Po­sition der Sklavenhalter - der Händler und Handwerker -, die damals eine durchaus progressive Klasse darstellten, eine Klasse, die sich zur Materiali­tät der Welt bekannte und behauptete, daß Materie Bewegung sei.

Dieser Standpunkt entsprach jedoch nicht der Mentalität, den Anschauun­gen und Interessen der ländlichen Sklavenhalteraristokratie. Als Antwort auf die ionische Konzeption entwickelte die Sklavenhalteraristokratie ihre eigene Vorstellung von der Welt, und diese konnte nur idealistisch und me­taphysisch sein. Ihre Sprecher waren Pythagoras (etwa 580-500 v. u. Z.) und Parmenides (Ende des 6. Jahrhunderts bis 5. Jahrhundert v. u. Z.). Pythagoras wurde in Samos geboren, siedelte sich aber, um der Tyrannis des Polykrates zu entgehen, in der Stadt Kroton, nahe bei Sybaris, an. Beide Städte waren altgriechische Kolonien, und sie blieben es auch später, als sie Handelskolonien wurden.(16) Gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. u. Z. lag die politische Macht in Kroton in den Händen der Aristokratie. Um die aristokratischen Landbesitzer bei der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft zu unterstützen, gründete Pythagoras einen politischen und religiös-philosophi­schen Bund. Der pythagoreische Bund beherrschte die Regierung der Stadt, bis die Demokraten von Kroton, angeführt durch Cylon, die Herrschaft der Pythagoreer gewaltsam stürzten. Burnets Meinung, daß der pythagoreische Bund kein politischer, sondern ein rein religiöser gewesen sei, ist recht un­begründet.(17) Pythagoras, der nach Metapont fliehen mußte, war - nach dem erfolgreichen Aufstand der Demokraten - ein ideologischer und politischer Repräsentant der ländlichen Aristokratie, ein Parteiführer, ebenso wie Tha­ies ein bedeutender politischer Führer der Ionier war, ein Führer im Kampf für die Unabhängigkeit des Hellenismus in Ionien. Der Pythagoreismus ver­lieh allem Existierenden einen mystischen Charakter, schloß jedoch wissen­schaftliche Beschäftigung nicht aus. Lenin bemerkt zum Pythagoreismus: „NB: eine Verknüpfung von Ansätzen wissenschaftlichen Denkens und Phan­tasie ä la Religion, Mythologie"(18). Burnet bemerkt, es gebe „Beweise vom Zusammenhange zwischen Pythagoreismus und primitiven Denkformen"(19). So verbieten die Moralvorschriften der Pythagoreer, einen heruntergefal­lenen Gegenstand aufzuheben, einen weißen Hahn zu essen oder zu berühren, in einen Spiegel zu sehen, der neben einem Licht steht usw. Aber außer diesen mystischen und abergläubischen Bräuchen gibt es auch spekulative Beschäftigungen, die sich besonders in der zweiten Generation der Pytha­goreer zeigten, als diese sich in Akusmatiker (Hörende, Schweigende) und Mathematiker (Gelehrte) spalteten.(20) Jedoch selbst im Katechismus der Akusmatiker sind folgende Thesen in Form von Fragen und Antworten zu finden: „Was ist weiser? - Die Zahl. Was ist schöner? - Harmonie."(21) Die Zahlenmystik, die gewissen Formen des primitiven Denkens nahekommt, hat sich in mathematisch-philosophischen Betrachtungen über die Zahlen als Ausdruck der Relationen zwischen den Dingen entwickelt und brachte den wohlbekannten Panmathematismus der Schüler des Pythagoras hervor. Diese Entwicklung wurde durch den Glauben der Sekte ermöglicht, Kontem­plation, Wissenschaft seien die besten Mittel zur Läuterung, zur Befreiung vom „Rade der Geburt", von der Seelenwanderung.(22) Aber auf Grund der Klassenposition der Pythagoreer mußten Kontemplation und Wissenschaft letztlich zur Verflüchtigung der „ursprünglichen Materie" der Ionier, zu ihrer Entmaterialisierung in ideale Zahlenrelationen, mit einem Wort: zum Idea­lismus führen.

Wie Aristoteles bemerkt, „verlegten sich die sogenannten Pythagoreer auf die Mathematik und waren die Ersten, die sie weiter förderten, und ganz in sie hineingelebt, meinten sie, daß ihre Prinzipien Prinzipien alles Seienden wären. Da aber in der Mathematik die Zahlen von Natur das Erste sind, und sie in den Zahlen viele Ähnlichkeiten mit dem, was ist und wird, zu sehen glaubten, mehr als in Feuer, Erde und Wasser. .., und indem sie ferner die Eigenschaften und Verhältnisse der musikalischen Töne in Zahlen fanden, so hielten sie, da das andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen nachgebildet erschien, die Zahlen aber als das Erste in der ganzen Natur galten, die Elemente der Zahlen für Elemente alles Seienden und das ganze Himmelsgebäude für Harmonie und Zahl"(23). Aristoteles bemerkt richtig, daß die Pythagoreer - ähnlich wie die ionischen physiologoi - der Meinung sind, „daß die Zahl sowohl als Materie wie als Eigenschaft und Habitus des Seienden Prinzip ist"(24).

Neben dieser pythagoreischen Konzeption von der Zahl als materieller Ursache alles Seienden existiert jedoch die ebenfalls pythagoreische Kon­zeption der Zahlen als Modell und Paradigma, deren Nachahmung die exi­stierenden Dinge seien. Etwas später, nämlich dort, wo Aristoteles über die Platonische „Teilnahme" der Dinge an den Ideen spricht, bemerkt er: „Die Pythagoreer lassen die Dinge durch Nachahmung der Zahlen existieren, Plato aber durch Teilnahme, was nur ein anderes Wort ist."(25)

Einige Philosophiehistoriker(26) sehen einen Widerspruch, einen Irrtum des Stagiriten in seinem Bericht über diese doppelte Theorie, die er den Pytha-goreern zuschrieb. Für viele Kommentatoren(27) besteht jedoch kein unverein­barer Gegensatz zwischen den beiden Thesen: 1. die existierenden Dinge sind Zahlen, aus Zahlen hervorgegangen; 2. die existierenden Dinge ahmen Zahlen nach. Wahrscheinlich betrachtete der primitive Pythagoreismus die Zahlen in demselben Sinne als materiell, wie später Parmenides - ein Ver­fechter des erkenntnistheoretischen Idealismus - seine unbewegte und ein­heitliche Welt als materiell ansah; denn der Begriff des Materiellen existierte noch nicht, er wurde in allgemeinen Zügen erst von Anaxagoras (nous) und definitiv später von Sokrates ausgearbeitet. Der primitive Pythagoreismus führte natürlicherweise dazu, die Zahl als materiell zu betrachten: Die exi­stierenden Dinge sind Zahlen, sie werden durch Zahlen hervorgebracht, die Zahlen sind die Substanz alles Existierenden. Der Idealismus konnte sich nicht auf einmal herausbilden, sondern nur im beharrlichen Kampf gegen den spontanen Materialismus. Aristoteles - der Schüler von Sokrates und Piaton - stellt nachdrücklich fest, daß die ersten Philosophen glaubten, die Prinzipien alles Existierenden seien materieller Natur.

Am Anfang der griechischen Philosophie dachten die „Weisheitssucher" natürlich in materialistischen Termin. Der Idealismus der Pythagoreer und Eleaten bestand daher nicht darin, daß sie die Realität als immateriell betrachteten - ich wiederhole, sie hatten diese Meinung nicht deutlich und klar, sondern erst in statu nascendi -, im Gegenteil, sie behaup­teten die Materialität der Welten. Ihr Idealismus bestand vielmehr darin, daß 1. die Pythagoreer die Eigenschaften bzw. die Relationen der Dinge in selbständige Realitäten verwandelten, daß 2. die Eleaten (materiell) Exi­stierendes und Denken identifizierten und die (materiell) existierenden Dinge zwangen, dem (metaphysischen) Denken über sie zu entsprechen.

Später spiritualisierte der Pythagoreismus dann die Zahlen, isolierte sie von den Dingen und betrachtete die Dinge als Nachahmungen der Zahlen. „Die gnoseologischen Wurzeln des pythagoreischen Idealismus bestanden darin, daß die Philosophen des pythagoreischen Bundes die Zahlen von den Dingen losrissen, sie in selbständige Wesen verwandelten, verabsolutierten und vergöttlichten. Die heilige Monade (die Eins) ist nach der Anschauung der Pythagoreer die Mutter der Götter, das allumfassende Urprinzip und die Grundlage aller Naturerscheinungen. Die Zwei ist das Prinzip des Ge­gensatzes, der Negativität in der Natur. Die Natur bildet nach ihrer Ansicht den Körper (die Drei), welcher eine Dreieinheit des Urprinzips und seiner widersprechenden Seiten darstellt."(28)

Daß die Zahlen zuerst als materiell gedacht wurden, geht daraus hervor, daß sie als Summe von Punkten im Raum dargestellt wurden, z. B.:

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.  .
.   .   .
.   .   .   .

1+2 + 3 + 4=10. Auf diese Weise war leicht einzusehen, daß sie ma­teriell sein mußten und daß folglich das Existierende entweder selbst Ding sein oder aus Dingen bestehen mußte. Doch als sich der Idealismus - unter dem Einfluß der Klassenströmungen und als „taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der . .. Erkenntnis"(29) - weiterentwickclte, verwandelten sich diese (materiellen) Zahlen in die pythagoreischen idealen Zahlen, die Modelle der real existierenden Dinge sind. Sie wurden von der materiellen Welt losgelöst, hypostasiert und nahmen so die Platonischen Ideen vorweg. Deshalb schließen beide Aristotelischen Versionen einander nicht aus, son­dern repräsentieren die reale Entwicklung des Pythagoreismus.

Selbst die ursprüngliche Version - die Dinge sind Zahlen - stellt (wie bei Anaximander) einen Sprung dar, der durch seine Kühnheit beeindruckt, einen Sprung vom Sinnlich-Konkreten zum Logisch-Abstrakten. Aber diese Abstraktion kann nicht länger als konkret-allgemeine betrachtet werden, denn die Zahl enthält nicht mehr die Vielzahl und Vielfalt der Erscheinun­gen, obwohl sie dazu dient, diese auszudrücken.

Der Sprung über das Sinnliche hinaus ist jedoch offensichtlich und be­zeichnet ein wichtiges Datum in der Geschichte des Denkens. Die Physiker der Antike waren bekanntlich qualitative Denker; eine Ausnahme bilden nur die Pythagoreische Lehre und der Atomismus des Demokrit; in ihnen wurde eine quantitative Erklärung der Welt versucht. Diese Tatsache ist für die Geschichte der Mathematik und Physik, aber auch für die Geschichte der Logik und der Dialektik interessant, denn aus der sinnlichen Betrach­tung der Dinge entstand nicht nur der Begriff der Relation, sondern auch die Idee des Gegensatzes, die für das dialektische Denken wichtig ist.

Philolaos nahm an, daß die Zahl zwei eigentümliche Formen habe, die des Ungeraden und des Geraden.(30) Diesem arithmetischen Gegensatz ent­spricht ein kosmologischer - der des Begrenzten und des Unbegrenzten. „Die Natur aber ward in der Weltordnung aus grenzenlosen und grenzebildenden Stücken zusammengefügt, sowohl die Weltordnung als Ganzes wie alle in ihr vorhandenen Dinge."(31) Deshalb liegt der ganzen Welt der Gegensatz zu­grunde. Alle Dinge bestehen aus Gegensätzen: „Grenze - Grenzenloses, gerade Zahl - ungerade Zahl, Einheit - Vielheit, Rechts - Links, Männ­liches - Weibliches, Ruhe - Bewegung, Gerade - Gekrümmt, Licht - Schat­ten, Gutes - Böses, Rechteck - Quadrat.

Grundlegende philosophische Bedeutung maßen die Pythagoreer dem Ge­gensatz von Grenze und Grenzenlosem bei; die Grenze ist das Feuer, das Grenzenlose die Luft (das ,Leere'); die Welt atmet ,Leere', sie besteht aus der Wechselwirkung von Feuer und Luft. Diese älteste These der pythago­reischen Naturphilosophie war ursprünglich mit der Vorstellung von einem materiellen Urstoff verbunden; in der Folge wurde dieser Zusammenhang zerrissen, es blieb einzig die Zahlenmystik."(32)

Pythagoras' Gegensätze sind möglicherweise aus gewissen Positionen des primitiven Denkens hervorgegangen; zweifellos sind sie aber von den Anaxi-mandrischen Gegensätzen beeinflußt, die Sühne und Buße für ihre Gegen­sätzlichkeit und Störung zahlen. Die Pythagoreischen Gegensätze stehen bis zu einem gewissen Grade in einer statischen Beziehung zueinander; sie skiz­zieren nur die dialektische Wechselwirkung der Heraklitischen Gegensätze und selbst den Prozeß Geburt - Tod, der von allen existierenden Dingen durchlaufen wird, die aus dem Apeiron hervorgehen und in dieses zurück­kehren. Die Idee des Gegensatzes existiert jedenfalls im Pythagoreismus, denn die konkrete Realität ist das Resultat der Dialektik des Unbegrenzten und des Begrenzten. In diesem Sinne sagt Philolaos: „Notwendig müssen die vorhandenen Dinge alle entweder grenzebildend oder grenzenlos oder beides zugleich sein. Dagegen nur grenzenlos (oder nur grenzebildend) kön­nen sie wohl nicht sein."(33) Grenze und Unbegrenztes sind deshalb eine not­wendige Dualität für alles Existierende. Folglich ist alles eine Harmonie dieser Gegensätze (wohl gemerkt statisch aufgefaßt). Philolaos: „Harmonie ist des viel Gemischten Einigung und des verschieden Gesinnten Sinnesver­bindung."(34) In bezug auf diese Harmonie der pythagoreischen Gegensätze zitiert Lenin die Worte Hegels: „... so sind es trockene, prozeßlose, nicht dialektische ruhende Bestimmungen", und er fügt hinzu, „negative Bestim­mung der Dialektik"(35).

Der Prozeßcharakter des Materialismus der Ionier verschwand im ent­stehenden Idealismus der Pythagoreer; in diesem entstand eine „Harmonie" statischer, unbewegter Gegensätze. Aus dem dialektischen Denken der Ionier entwickelte sich das Gegenteil: die Metaphysik der Pythagoreer, in der je­doch die Dialektik noch nicht völlig verschwunden war. Die Gegensätze waren geblieben, sie schienen aber in bezug aufeinander unbeweglich gewor­den zu sein und gingen nicht mehr ineinander über. Vom Standpunkt der Methode aus, ist der Pythagoreismus - obwohl er Spuren des dialektischen Denkens bewahrt - der Beginn der metaphysischen Denkweise und gleich­zeitig des Idealismus, ein Vorläufer des Platonischen objektiven Idealismus.

Hat nicht der späte Piatonismus eine direkte Beziehung zum Pythagoreis-
mus? Aristoteles schreibt in bezug auf die Nachfolger Piatos: die nun behaupten, daß die Ideen existieren, und daß sie Zahlen sind . . ."(36). Die Beziehung wird zuerst zu Piatons Nachfolger Speusippos hergestellt, aber auch zu Piaton selbst. Es ist eine Tatsache, daß die Pythagoreer die dyna­mische Vorstellung von einer Welt, die sich durch die Energie der ewigen Selbstbewegung entwickelt, aufgaben und an ihre Stelle eine Vorstellung setz­ten, in der alle existierenden Dinge irgendwie voneinander isoliert sind. Auf keinen Fall erfassen sie aber die Ursache des Werdens, in dem genesis und phtor aufeinanderfolgen, sich dramatisch treffen und entgegengesetzt sind. Der diskursive Verstand erschien. Dies war ein notwendiger erkenntnis­theoretischer und logischer Prozeß. Die ursprüngliche umfassende Vorstel­lung - deren Echo, Fortsetzung und Vervollkommnung die Dialektik der Milesier ist - mußte verschwinden zugunsten einer detaillierteren, wenn auch weniger umfassenden Form der Erkenntnis.

„Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre eigne gei­stige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zu­nächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Hera-klit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehn begriffen."(37) Aber, so bemerkt Engels, diese Betrachtungsweise genügt nicht, um die Details zu erklären, aus denen sich das große Ganze zusammensetzt. Das Ganze muß in seine Bestandteile zer­legt, analysiert, zergliedert werden. Das Wissen um die Details, um die Bestandteile ist zweifellos unumgänglich, es führt jedoch zwangsläufig zur Herausbildung einer Denkweise, die das Verbundene trennt, das Bewegte unbewegt macht, d. h. zur metaphysischen Denkweise. Die ersten Anfänge dieser Denkweise erscheinen bei den Griechen mit den pythagoreischen Ma­thematikern, deren Weltvorstellung der qualitativen zum erstenmal eine quantitative, mathematische Interpretation der Natur entgegenstellt - eine Tatsache, die in der Geschichte des menschlichen Denkens von größter Wich­tigkeit ist, zugleich aber auch den Beginn der metaphysischen Denkweise be­deutet. (Allerdings wurde diese Denkweise von den Griechen nicht voll realisiert, denn sie waren noch immer Dialektiker, einschließlich der Eleaten, die trotz ihrer ultra-metaphysischen Weltanschauung große Meister der sub­jektiven Dialektik waren.)

Dianoia eröffnete den Weg für die formale Logik (die natürlich keines­falls mit Metaphysik identifiziert werden darf, obwohl gewisse ihrer Züge diese Denkweise begünstigten) ebenso, wie der logos des Heraklit, der von den milesischen Materialisten antizipiert worden war, die erste brillante systematische Manifestation der dialektischen Methode war.

Alle griechischen Philosophen bedienten sich der dialektischen Denkweise, und zwar einige von ihnen (die Milesier, Heraklit), um die objektive Dialek­tik zu behaupten, andere, um sie zu verneinen (die Eleaten). Die meisten benutzten sie jedoch, um eine Kompromißlösung zu finden zwischen dem Heraklitischen Werden und dem rationalen Kern in den Bemühungen der Eleaten, das Werden unbewegt zu machen, bei dem es sich um die Anfangs-clemente (in übersteigerter Form) des formaldemonstrativen Urteilens han­delte.

Der Pythagoreismus ist eine Brücke zur eleatischen Metaphysik und zum Platonischen Idealismus, aber gleichzeitig ein großartiger Versuch, die Welt mathematisch aufzubauen, ein beeindruckender Schritt zur logischen Abstrak­tion. Nicht ohne Grund führt Proklus die demonstrative Methode, die den Euklidischen „Elementen" zugrundeliegt, auf die Pythagoreer zurück. In diesem Sinne schreibt Brunschwieg: „In Euklids Elementen spiegeln sich die Resultate der Arbeit von Generationen vor Aristoteles wider, nicht nur die technische Arbeit der Entdeckung, sondern auch die methodologische Arbeit der Verbindung und des Beweises, die, in der Schule des Pythagoras begonnen, ihre Vollendung in den Schulen von Eudoxus und Piaton gefun­den hat."(38)

Der Pythagoreismus betrachtete die Welt als Kosmos, als eine Ordnung, eine Harmonie, die aus mathematischen Relationen besteht und durch diese ausgedrückt werden kann. In diesem Sinne erklärt Philolaos: „Lug aber nimmt gar nicht die Natur der Zahl und die Harmonie in sich auf. Denn er 'st ihnen nicht eigen. Der Natur des Unbegrenzten und Unsinnigen und Un­vernünftigen ist der Lug und der Neid eigen. Lug aber bläst auf keine Weise m die Zahl hinein. Denn als etwas Feindliches und Unversöhnliches steht der Lug ihrer Natur gegenüber, die Wahrheit aber ist etwas dem Geschlechte der Zahl Eigenes und Angeborenes."(39) Die Wahrheit sei der Zahl eigen und angeboren; sie sei Mittel zum Ausdruck der Wahrheit (wenn auch nicht, wie  Philolaos glaubt, die Wahrheit selbst); dieser Gedanke wurde durch die moderne Wissenschaftsentwicklung glänzend bestätigt.

Die Pythagoreer sahen in der Wissenschaft der Zahlen ein Paradies des Wissens. Mehr als 22 Jahrhunderte vor Kepler behaupteten sie mit unge­wöhnlicher Strenge und mit Enthusiasmus die Effektivität der mathematischen Sprache; ubi materia, ibi geometria, nam mundus participat quantitate. Das ist eine exakte Formel, wenn sie materialistisch aufgefaßt wird, d. h. in dem Sinne, daß arithmetische und geometrische Relationen Aspekte der sich be­wegenden Materie sind. Sie ist jedoch falsch, wenn diese Relationen ideali­stisch, als das Wesen der Materie aufgefaßt werden, ein Irrtum, den Pytha­goras nicht vermied, der aber nichtsdestoweniger fruchtbar war. L. Robin nimmt an, daß das (rationale) Denken dem Pythagoreismus seine ersten Erfolge verdankt in dem Bemühen, das abstrakte Wesen der Dinge zu finden, und daß die Pythagoreer in diesem Sinne physiologoi waren. Indem sie je­doch die Zahl als das Prinzip aller Dinge betrachteten, gingen sie weit über die Physik der Milesier hinaus und legten den Grundstein zur Metaphysik.

Es muß bemerkt werden, daß in dem Bemühen, das abstrakte Wesen der Dinge aufzudecken, Anaximander ein Vorläufer der Pythagoreer war. Trotzdem haben deren Anstrengungen, das Wesen der Dinge mathematisch zu bestimmen, von der qualitativen Ebene zur quantitativen überzugehen, eine große Bedeutung in der Geschichte des Denkens. In der Tatsache, daß sie über die Physik zur Metaphysik hinausgingen, liegt der Ausgangspunkt des Idealismus und ihr Grundmangel: der Sieg der Akusmatiker über die Mathematiker, der Sieg des mystischen Pythagoreismus über den wissen­schaftlichen.

Anmerkungen

16) Siehe V. V. Struve, D. P. Kallistov, Drevnjaja Grecija, Moskva 1956, S. 116.
17) Siehe J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 76 f.
18) W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 237.
19) J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 85.
20) Siehe L. Robin, La Pensee grecque, Paris 1923, S. 67.
21) Siehe ebenda, S. 68.
22) Siehe J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 86.
23) Aristoteles, Metaphysik A 5. 985 b 23 - 986 a 3.
24) Ebenda, A 5. 986 a 17-19.
25) Ebenda, A 6. 987 b 10-13.
26) Siehe z. B. Rivaud, Brehier u. a.
27) Siehe z. B. Robin, Milhaud, Burnet, Rey.
38) Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 73.

29) W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 344.
30) Siehe H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 44, fr. 5.
31) Ebenda, Bd. I, 44, fr. 1.
32) Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 74.
33) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 44, fr. 2.
34) Ebenda, Bd. I, 44, fr. 10.
35) W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", S. 235.
36) Aristoteles, Metaphysik, N 3. 1090 a 16.
37) F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: K. Marx/
F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 20.
38) L. Brunschwieg, Les Etapes de la philosophie mathematique, Paris 1912, S. 85.
39) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 44, fr. 11.
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S.20-28.
Athanase Joja war damals Mitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung zweier Aufsätze, die 1960/61 in Rumänien veröffentlicht wurden. Die deutsche Übesetzung besorgten Frau G. Richter und Herr Pomerenke.

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Siehe auch: Teil 1 - Die Ionischen Naturphilosophen