Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

„Reformen“ paketweise beschlossen.
Einschränkung des Streikrechts sorgte für Aufregung. Neuer Reformterror in Bälde in Aussicht
7-8/07

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Nicolas Sarkozy ist der Speedy Gonzalez der französischen Politik. Nachdem er in der vergangenen Woche kurz die internationale Bühne zur Profilierung nutzte und in drei Tagen quer durch Afrika hechelte –- einen höchst brisanten Libyendeal und eine für Disput sorgende Programmrede in Dakar eingeschlossen (vgl. dazu nebenstehenden Artikel) -- , ist nun wieder die französische Innenpolitik dran. Das Hauptaugenmerk gilt dabei im Moment den sozial- und wirtschaftspolitischen Themen. Auch wenn Sarkozy am 1. August in Evry auch verkündete, die „Innere Sicherheit“ bleibe nach wie vor ein prioritäres Thema, und es werde „keine Pause im Kampf gegen die Unsicherheit“ geben. Im Laufe des Juli hatte Sarkozy unter anderem einen Vorstoß zum starken Ausbau der Videoüberwachung übernommen, mit dem Argument, es gebe in Frankreich „nur eine Million Überwachungskameras, während es in Großbritannien bereits 25 Millionen gibt.“ (Real wird die Anzahl der Kameras in GB, „dem“ Vorreiterland bei der Videoüberwachung im öffentlichen Raum, derzeit auf 4,3 Millionen geschätzt, darunter rund eine Million in London. Aber wer wird es denn so genau nehmen, Monsieur Sarkozy...)

Noch bevor er Anfang August in den dreiwöchigen Urlaub in Richtung seines Lieblingslands, den USA, entfleuchte, kündigte Präsident Sarkozy am 1. August einen neuen, verstärkten Reformterror für den Herbst an. „Rechnen Sie damit, dass es (Anm.: nach dem Ende der Urlaubsperiode) sehr stark wieder los gehen wird“ rief er seinen leicht verdatterten Minister anlässlich der mittwöchlichen Kabinettssitzung zu. Und die Wirtschaftstageszeitung ‚Les Echos’ schlagzeilte am Donnerstag: „Sarkozy verspricht einen Herbst, (der) reich an Reformen (sein wird).“ Doch zu den einzelnen schon angekündigten Maßnahmen später. Zunächst drängt sich ein Überblick über das, was allein in dieser Woche alles beschlossen bzw. in die Wege geleitet worden ist, nahezu auf.

Beschlossen...

1. Prinzipiell beschlossen worden ist die Verringerung der Anzahl von Staatsbediensteten in den öffentlichen Diensten. Nicolas Sarkozy hatte diese bereits im Wahlkampf angekündigt. So hatte er bei seiner Fernsehdebatte mit Ségolène Royal vom 02. Mai 2007 in Aussicht gestellt, dass unter seiner Präsidentschaft zukünftig nur jeder zweite altersbedingte Abgang aus den öffentlichen Diensten ersetzt werden würde. (FUSSNOTE 1 ) Im Gegenzug solle die Hälfte der eingesparten Lohn- und Gehaltskosten auf die Reduzierung des Haushaltsdefizits, und die andere Hälfte auf die künftige Anpassung (an die Inflation) bzw. Erhöhung der Einkommen der verbleibenden Staatsbediensteten aufgewendet werden. Kritiker erkannten darin die perfide Methode, bei den vorhandenen Staatsbediensteten ein finanzielles Interesse am Abbau von Stellen zu erwecken – sie also mittels in Aussicht gestellten Geldes dazu zu bringen, der Aussage zuzustimmen, dass „die Hälfte der Kollegen unter uns eigentlich gar nicht nötig wäre“.

Nunmehr verkündet die bürgerliche Presse allerdings ‚überrascht’ und/oder frohgemuts, der tatsächlich durchgeführte Abbau von Stellen falle gar nicht so rabiat aus wie angekündigt. So schlagzeilt die Wirtschaftstageszeitung ‚La Tribune’ vom 1. August: „Die Anzahl der Staatsbediensteten wird weniger stark (ab)sinken als vorhergesehen“, und ihr Konkurrenzblatt ‚Les Echos’ vom selben Datum: „Zahl der Staatsbediensteen: Sarkozy weicht seine Regel auf.“

Tatsächlich ist nunmehr geplant, dass im kommenden Jahr (2008) insgesamt 22.700 Stellen von Staatsbediensteten, durch Nichterneuerung der altersbedingten Abgänge, gestrichen werden sollen. Bei strikter, konsequenter Anwendung der von Nicolas Sarkozy aufgestellten Faustregel (jede zweite frei werdende Stelle solle nicht neu bestzt werden) wären rund 35.000 Arbeitsstellen weggefallen. Dies führt manche Teile der Presse schon dazu, von unerwarteter Milde u.ä. zu schreiben. Faktisch rührt die Verringerung der Anzahl abzubauender Stellen jedoch vor allem daher, dass bestimmte Ministerien etwas schwächer von der Regel betroffen sein sollen als andere:

Die dem Justizministerium unterstehende Verwaltung soll nicht verringert, sondern im Gegenteil sogar noch ausgebaut werden. Konkret sollen 1.600 neue Stellen von Staatsbediensteten im Bereich der Justizverwaltung entstehen, weil nämlich neue Gefängnisplätze eröffnet werden. Konkret sollen in Bälde neun zusätzliche Haftanstaltern in Betrieb gehen. Nunmehr werden die ersten der rund 11.000 neuen Haftplätze, deren Schaffung die konservative Regierung unter Chirac/Raffarin/Sarkozy im Frühsommer 2002 beschlossen hatte, nunmehr bezugsfertig werden.
Das Forschungs- und Hochschulministerium und die ihm unterstehenden wissenschaftlichen Einrichtungen sowie Universitäten sollen keine Stellen verlieren. Dies hängt damit zusammen, dass dieser Sektor durch die neue Regierung für „prioritär“ erklärt worden ist. Denn er hat eine entscheidende Bedeutung für die Stellung des nationalen Standortstaats im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb
Das staatliche Schulwesen soll nicht die Hälfte, sondern nur ein Drittel der Stellen verlieren, die durch Abgänge aufgrund Erreichens Rentenalters oder sonstiger Faktoren frei werden. Das bedeutet, dass nicht (wie im Juli verkündet) 17.000 Stellen, sondern „nur“ zwischen 10.000 und 15.000 Stellen abgebaut werden. (Im Mai/Juni war seitens der Regierung zunächst noch von 10.000 abzubauende Stellen ab Schuljahresanfang die Rede gewesen.) Damit kommt die Regierung lediglich auf ihre ursprüngliche Ankündigung zurück, bevor diese Anfang Juli nachträglich verschärft worden war. Andernfalls hätte die Regierung auch schon früh im kommenden Schuljahr 2007/08 einen harten Konflikt mit den Lehrergewerkschaften riskiert. Abzuwarten bleibt, ob dieser nunmehr entschärft worden ist. Zudem sollen 6.000 neue Stellen entstehen, die allerdings keine Arbeitsplätze für Lehrer, sondern Stellen für ein wesentlich prekäreres Personal sind. Es handelt sich um die Beschäftigung von Hilfskräften, die neu geschaffene Betreuungsfunktionen, etwa eine Hausaufgabenhilfe für bedürftige Schüler/innen, übernehmen.


2. Am Mittwoch dieser Woche (1. August) nahm das französische Parlament in dritter und letzter Lesung das Gesetz über die „Autonomie der Universitäten“ definitiv an. (Vgl. dazu http://www.trend.infopartisan.net/trd7807/t417807.html ) Ein früherer Vorstoß aus den Reihen des bürgerlich-konservativen Regierungslagers zur Einführung einer solchen „Hochschulautonomie“ war zu Ende des Jahres 2003 noch durch einen studentischen Streik, der zwar rasch in sich zusammenbrach, aber dennoch hinreichend Druck entfalten konnte, abgewehrt worden. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1203/t221203.html  )

Zur Verabschiedung einer Gesetzesvorlage ist ein Beschluss beider Kammern, der Nationalversammlung und des Senats (Oberhauses), erforderlich. An der Debatte der Nationalversammlung nahmen auf beiden Seiten – Regierungslager und Opposition -- nur rund 20 Abgeordnete teil, obwohl die Annahme des Entwurfs nicht ohne wichtige Konsequenzen bleiben wird. Binnen fünf Jahren müssen nun alle französischen Hochschulen finanzpolitisch „autonom“ werden, können/dürfen/müssen eigene Finanzierungsmittel im privaten Sektor akquirieren und können die Entlohnung von Forschern und Lehrkräften z.T. unter Marktbedingungen aushandeln. Die Machtposition des Universitätspräsidenten wurde erheblich gestärkt. (Denn Autonomie bedeutet in diesem Sinne keineswegs jene der Selbstverwaltungsorgane von Studierenden oder Lehrenden!)

3. Ebenfalls am Mittwoch nahm das französische Parlament das Paket zu „Arbeit, Beschäftigung und Kaufkraft“ (abgekürzt TEPA) an. Dieses beinhaltet insbesondere die Steuergeschenke an Besser- und Bestverdienende -- wir berichteten ausführlich -- sowie die Steuer- und Sozialabgaben-Befreiung von Überstunden. Der ganze Spaß soll voraussichtlich 13 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Gegen dieses Gesetzesbündel liegt unterdessen eine Verfassungsklage der sozialistischen Parlamentsopposition vor. Ihr zufolge führt das in dem TEPA-Gesetzesbündel enthaltene „steuerliche Schutzschild“, das Vermögensbesitzern und Beziehern hoher Einkommen eine nicht überschreitbare Obergrenze ihrer Gesamtsteuer (inklusive der Großvermögenssteuer ISF) garantiert, das Solidaritätsprinzip ad absurdum. Zudem werde dadurch, dass diese steuerliche Obergrenze – nach Abzug der Sonderabgaben zur Sanierung des Sozialversicherungssystems, CSG und CRDS, die durch alle Personenkreise inklusive Arbeitslose und Rentner/innen zu zahlen sind – künftig bei nur noch 39 Prozent liege, das Prinzip der Besteuerung vorhander Großvermögen an und für sich aufgegeben. Denn ihre Eigentümer werden in Zukunft de facto nicht stärker besteuert werden können als (bessere) Normalverdiener, während bisher die Grundidee lautete, dass sie in Anbetracht ihrer bereits gebildeten und angehäuften Vermögen auf ihre Neueinkünfte wesentlich stärker zur Kasse gebeten werden sollen. Dies wird nunmehr unmöglich gemacht.

...und noch ausstehend: die Finanzierung!

Bislang ist der Scheck noch ungedeckt. Denn das Projekt einer Anhebung der Mehrwertsteuer (französisch TVA) von derzeit 19,6 % auf möglichweise 24,6 % wurde vom damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Jean-Louis Borloo im Juni zu früh ausgeplaudert – acht Tage vor dem entscheidenden zweiten Durchgang der Parlamanetswahlen. Geschätzt wird, dass deswegen rund 60 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei (UMP) in der Stichwahl durchfielen. Eine Stange von UMP-Politikern haben Borloo diese Ungeschicklichkeit noch immer nicht verziehen; eine Reihe von knackigen Zitaten wurden vor ein paar Wochen in ‚Libération’ veröffentlicht. Vorgeworfen wird Borloo nicht, dass er lauthals mit dem Gedanken spielte, die Konsumbesteuerung, also die unsozialiste Steuerform überhaupt (da sie nicht proprotional zum Lohn oder Verdienst ausfällt und die ärmeren Haushalte, die einen größeren Anteil ihres Einkommens für den täglichen Verbrauch ausgeben, proportional zu ihren Ressourcen stärker belastet), stark anzuheben. Dieses Vorhaben wird vielmehr von weiten Teilen des Regierungslagers geteilt, da ihnen klar ist, dass nur auf diesem Wege eine Gegenfinanzierung für die bereits getätigten Steuergeschenke bereitgestellt werden kann. (Es sei denn, dass 3 Prozent jährlichen Wachstums verzeichnet werden, aber „wenn das Wörtchen wenn nicht wär’ ..“) Vorgeworfen wird Borloo wohl aber, dass er zu früh losplauderte: sehr schlechte Kommunikationsstrategie! Borloo rasselte seinerseits durch und wurde nach den Parlamentswahlen vom Wirtschafts- und Finanzminister, seinem Traumjob, zum Umweltminister „zurückgestuft“. In seinen Augen und aus Sicht der übrigen bürgerlichen Regierung wurde er dadurch degradiert.

Und da wäre sie schon wieder, die Debatte um die Erhöhung der Konsumsteuern!

Nach dem kleinen Unfall im Vorfeld der Parlamentswahlen hat die Regierung bei dem Thema vorläufig erst einmal zurückgesteckt. Doch da die verteilten Geschenke nun aber einmal finanziert werden wollen, wohl nicht für lange Zeit. Eine prima Rechtfertigung steht auch längst bereit, sie war bereits zum Wahlabend am 17. Juni (zweiter Durchgang der Parlamentswahlen) parat: Die so genannte „soziale Mehrwertsteuer“ oder ‚TVA sociale’ wird dazu dienen, die nationale Produktion gegen die Überschwemmung mit Importen zu nutzen. Und diese Logik geht so: Französische wie ausländische Hersteller werden eine erhöhte Mehrwertsteuer, zum Beispiel fünf Prozent plus (eben von derzeit 19,6 auf 24,6 Prozent), auf ihre Produkte angewendet sehen. Die französischen Firmen werden dann aber, aufgrund ihrer staatsbürgerlichen Tugend, ihre Preise nicht entsprechend in die Höhe schnellen lassen. Vielmehr werden sie sich darin erinnern, dass sie ja zugleich im Inland nunmehr weniger Sozialabgaben und „Lohnnebenkosten“ bezahlen, weil diese ja genau auf die TVA (Mehrwertsteuer) umgewälzt worden sind. Also werden sie, bei gleichbleibender Gewinnspanne, ihre Preise senken, in einer Weise, dass die erhöhte Mehrwertsteuer nicht zu einer Erhöhung der Verbraucherpreise für ihre je eigenen Produkte führt. Nur die dummen ausländischen Hersteller werden ihre Importe verteuert sehen, und dadurch an Marktanteilen verlieren (ohne zusätzliche Gewinne zu erzielen, da die 5 Prozent Erhöhung, die dem Konsumenten abgeknapst werden, ja an den französischen Staat gehen). Der Fiskus gewinnt dabei, und die nationalen Produzenten ebenfalls. Diese Vorstellung vertritt insbesondere Sarkozys Redenschreiber Henri Guiano, ein traditioneller Gaullist und ehemaliger EU-Skeptiker, der gerne in seinen patriotischen Idealen und Wunschvorstellungen von einem möglichst souveränen Nationalstaat schwebt.

Eine Idee, die zwar beim ersten Herangehen nachvollziehbar klingt, aber so kaum funktionieren wird. Was ist, wenn etwa die Aktionäre oder der US-amerikanische (oder sonstige) Mutterkonzern einer französischen Firma derart auf der kurzfristig zu erzielenden Gewinnmarge besteht, dass es zu keiner Absenkung der Produktpreise kommt? Was ist, wenn umgekehrt die Importeure ihrerseits bei ihren Verbraucherpreise heruntergehen – bei einigen Produkten ‚made in VR China’ dürfte da bestimmt noch eine Marge bestehen? Und was aber ist in Sektoren los, wo gar keine „erdrückende“ ausländische Konkurrenz herrscht, etwa im Baugewerbe (und bei seinen Zulieferern, Handwerkern, ..), wo die Preise durch die TVA-Erhöhung aber dennoch nach oben gedrückt werden? Kurzfristig wurde der Gedanke überlegt, man könne die Mehrwertsteuer-Erhöhung nur auf besonders intensiv der internationalen Konkurrenz ausgesetzte Sektoren wie etwa die Automobilindustrie anwenden. Das aber wäre mit geltendem EU-Recht unvereinbar und könnte durch Brüssel sanktioniert werden: Es würde den Tatbestand einer gezielten staatlichen Hilfe für bestimmte Firmen erfüllen. Also „Wettbewerbsverzerrung“.

Sarkozys Ausweg: Der blassblaue Politiker Eric Besson, allgemein in der Medienlandschaft nur bekannt als „der Verräter“ (da er Ende 2006 den Wahlkampf von Ségolène Royal als ihr Wirtschaftsberater führte, im Januar 07 eine aggressive Studie über den „beängstigenden“ Kandidaten Nicolas Sarkozy vorlegte – und im April zu Sarkozy überlief, um im Juni Staatssekretär zu werden), wurde mit der Erstellung einer Studie über die „Machbarkeit“ der so genannten TVA sociale beauftragt. Der Mann, seines Amts Staatssekretär „für wirtschaftliche Vorausschau und die Bewertung der öffentlichen (Wirtschafts-)Politik“, ging sogar in einigen Nachbarländern, u.a. Deutschland und Dänemark, spazieren, um sich die dortige Mehrwertsteuer-Politik anzugucken. Ursprünglich sollte er zum 31. Juli dieses Jahres einen detaillierten Rapport abliefern.

Weil Eric Besson aber schlicht und einfach feige ist, begnügte er sich damit, eine „einfache Notiz“ (so Presseberichte) vorzulegen, worin er lieblos die „Vor- und Nachteile“ der Idee einer solchen Mehrwertsteuererhöhung auflistet. Sarkozy bzw. sein Premierminister François Fillon war sich’s nicht zufrieden. Besson muss also den Sommer über „nachsitzen“. Jetzt hat er für Ende August seinen Bericht abzuliefern. Im Herbst wird man also vermutlich weiter von dem Thema reden.

In einer Erklärung vom Motag, 30. Juli bezeichnet unterdessen ATTAC Frankreich die Idee der so genannten TVA sociale als „antisoziale Idee“, die wirtschaftlich nicht funktionieren und zudem die Kaufkraft der finanzschwächsten Haushalte schmälern werde. (Vgl. ‚Le Monde’ vom 1. August)

Einschränkung des Streikrechts

Beschlossen worden ist am Abend des Donnerstag, 2. August nun auch die viel erwartete Einschränkung des Streikrechts durch Einführung eines ‚Service minimum’ (Notdiensts, Mindestbelegschaft). Zuvor hatte in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag die Nationalversammlung einem Entwurf zugestimmt, der gegenüber dem vom Senat (Oberhaus) angenommenen Text jedoch in einigen Punkten abwich. Daraufhin wurde am Donnerstag Vormittag ein (in solchen Fällen obligatorischer) Vermittlungsausschuss zwischen beiden Kammern gebildet. Da die Regierung jedoch die, für Notfälle vorgesehene, „Eilprozedur“ für die Verabschiedung der Gesetzesvorlage gewählt hatte, wurde der Kompromissentwurf bereits am Nachmittag zur definitiven Verabschiedung vorgelegt.

Unmittelbar betroffen sind im Moment hauptsächlich Verkehrsbetriebe, die Personentransport im Nah- oder Fernverkehr betreiben. Konkret also insbesondere die Bahngesellschaft SNCF sowie regionale oder städtische Buslinien- und Metro-Betriebe. Ab dem Jahr 2008 ist an eine Ausweitung der neuen Bestimmungen, „falls sie sich bewährt haben“ (wie in einer Bilanzierung festzustellen sein wird), auf andere öffentliche Dienste gedacht. Die Tatsache, dass Premierminister François Fillon m 16./17. Juli öffentlich ausplauderte, er wolle alsbald einen solchen ‚Service minimum’ auch im staatlichen Schuldienst einführen, hat ihm jedoch nicht zum Vorteil gereicht. Präsident Nicolas Sarkozy tobte vor seinen Beratern (im Wortlaut zitiert nach ‚Le Canard enchaîné’ vom 25. Juli): „Diese Art, den Ton zu verschärfen, kann die Leute nur aufbringen und unnötige Spannungen hervorrufen. Vom Service minimum im Schulwesen zu sprechen, während es darum geht, ihn in den Transportbetrieben einzuführen, ist nicht intelligent. Das droht die Gewerschaften in Erregung zu versetzen. Wenn ich darauf achte, nicht zu viel auf einmal auf die Waagschale zu bringen, dann nicht dafür, dass der Premierminister das Gegenteil anstellt.“ Eine interessante Vorführung im Hinblick auf die delikate Übung, das politische Gleichgewicht zu halten: „...nicht zu viel einmal auf die Waagschale legen...“ Das bedeutet, dass es in der Sache keinerlei Dementi gibt, wohl aber daran gedacht wird, die einzelnen Vorhaben nur stückweise der Öffentlichkeit zu präsentieren... Aufgrund seines Fauxpas musste Premierminister Fillon jedenfalls einen Rückzieher machen, aufgrund dessen jetzt wiederum die rechtsextreme Presse tobt (vgl. etwa ‚National Hebdo’ vom 2. August), die Regierung habe keinerlei Autorität, mache ständig Rückzieher und wolle es sich nicht mit den Gewerkschaften verscherzen, statt in Sachen Einschränkung des Streikrechts jetzt endlich hart durchzugreifen. Die Rechtsopposition knüpft nun mal dort an, wo sie nur kann...

Nach wie vor nicht enthalten – die rechtsextreme Presse versäumt nicht, es zu beklagen -- im Text ist die Dienstverpflichtung streikender Angestellter gegen ihren Willen. Dies wäre auch mutmaßlich nicht durchsetzungsfähig, denn wie wollte man das garantieren? Um in Stoßzeiten des Personenverkehrs einen reibungslosen „Notdienst“ zu gewährleisten, benötigt man bereits bis zu 90 Prozent des Personals (denn sonst drücken sich die Leute in den bereit gestellten Verkehrsmitteln tot). Wohl aber erschwert das neue Gesetz die Aufnahme eines Streiks in den z.Zt. hauptbetroffenen Transportbetrieben im Ansatz, indem die Fristen für die vorab erforderliche Anmeldung, zwingend gestaltete Verhandlungsrunden usw. für eine erhebliche Ausdehnung der Vorwarnperiode sorgen. Statt bisher nach 5 Tagen kann die Periode für die Auslösung eines Streiks in den Transportbetrieben bis auf maximal 16 Tage ausgedehnt werden.

Vor allem an einem Punkt wurde der Entwurf durch den rechten Flügel des Regierungslagers beträchtlich verschärft. Bislang sah der Entwurf „lediglich“ vor, dass den Beschäftigten eine individuelle Erklärungspflicht, im Sinne einer Informationspflicht für den Arbeitgeber, 48 Stunden vor Ausbruch eines Arbeitskampfs zukommen solle. Zu diesem Zeitpunkt sollten die einzelnen Beschäftigten also für sich persönlich erklären, ob sie an dem bevorstehenden Streik teilnehmen werden oder nicht. Dies solle den Verkehrsbetrieben eventuelle Umbesetzungen von Personal erlauben. Was aber passieren würden, falls die abhängig Beschäftigten diese Information nicht abgeben würden, oder falls die Entwicklung anders verlaufe als einmal vorher angekündigt, war bislang nicht klar.

Durch Aufnahme einer Zusatzbestimmung in das Gesetz wird nunmehr verfügt, dass abhängig Beschäftigte mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen bedroht werden, falls sie ihrer Informationspflicht nicht nachkommen – oder falls sie sich entgegen vorheriger Ankündigung dann doch an einem Ausstand beteiligen. Ungeklärt ist dabei freilich, ob dies nur in einer Richtung gelten wird (also erklärte Nichtstreikende nicht nun doch noch teilnehmen können) oder aber in beiden Richtungen (d.h. dass auch vorab erklärte Streikteilnehmer nicht mehr nachträglich „zurückrudern“ können). Erstere Version vertritt der Generalsekretär des Gewerkschafsbunds Force Ouvrière (FO), Jean-Claude Mailly, der erklärte, diese Bestimmung verletze das Prinzip der Rechtsgleichheit (in diesem Falle zwischen streikwilligen und nicht streikwilligen Angestellten) und sei deshalb juristisch anfechtbar.

Über diesen Punkt Gedanken angestellt hat auch die Wochenzeitung ‚Le Canard enchaîné’, und hält anscheinend die zweitgenannte Variante für plausibel. In seiner Ausgabe vom Mittwoch, 1. August vermutet das kritische Blatt, dies könne noch zu schönen Komplikationen führen. Was, wenn etwa ein Streik angekündigt wird, aber ganz knapp vorher noch eine Einigung stattfindet: „Müssen“ die erklärten Streikteilnehmer dann dennoch ihren Arbeitskampf durchführen? Und was, wenn Streikwillige entgegen vorheriger Erklärung doch noch „zurück können“: Gesetzt den Fall, dass der Arbeitgeber zuvor strategische Umbesetzungen seines Personals für das Streikdatum vorgenommen hat, und der Arbeitsplatz des oder 0der „rückkehrwilligen“ Beschäftigten also aus diesem Grunde bereits besetzt ist? Kann der/die dann doch nicht Streikende auf Beschäftigung, oder wenigstens Bezahlung, bestehen? „Sollte dies der Fall sein“, verspricht der ‚Canard enchaîné’, „dann dürften die Gewerkschaften, die einen guten Sinn für Humor haben, mit dieser Vorschrift bestimmt zu spielen verstehen...“

Ansonsten vertritt die Zeitung die Auffassung, dass, falls das Streikrecht in der Praxis tatsächlich streng eingeschränkt werde, dann nur noch das gezielte Bestreiken ausgewählter, strategischer Sektoren helfe. Also „heute die Lokführer, morgen die Fluglotsen“... Wen die Zeitung da nur mal nicht die französischen Gewerkschaftsapparate in ihrem Kampfeswillen überschätz!

Der Gewerkschaftsbund CGT hat angekündigt, eine Klage vor dem Verfassungsgericht gegen das neue Anti-Streik-Gesetz voranzutreiben und zu begleiten. Die CGT verfüge über die 60 Abgeordneten, die dazu erforderlich sind, und werde deren Verfassungsklage mit einem eigenen Rechtsgutachten begleiten. Im geltenden französischen Recht kann das Verfassungsgericht nicht von „einfachen“ Bürgern, sondern nur von 60 Abgeordneten oder Senatoren (und nur VOR der Verkündung des betreffenden Gesetzes im Amtsblatt, nicht nachträglich) oder von Verfassungsorganen wie Präsident und Premierminister angerufen werden. Diese Konzeption diente ursprünglich, unter der Französischen Revolution, dazu, dass der politische Voluntarismus der gewählten Vertreter der Nation nicht durch die Richter (als nicht demokratisch legitimierte Experten) „gefesstelt“ werden dürfe. Heute ist sie allerdings eher ein Hindernis für demokratische Kontrolle, da die durch die Legislative verabschiedeten Gesetze, sind sie einmal in Kraft getreten, nicht mehr durch das Verfassungsgericht aus dem Verkehr gezogen werden können – sondern nur durch einen neuen gesetzgeberischen Akt außer Kraft gesetzt oder ausgetauscht werden können.

Am Dienstag Nachmittag, 31. Juli fand auch die durch die CGT zu Anfang des Monats beschlossene, und im Nachhinein vor allem durch SUD/Solidaires unterstützte, Mobilisierung gegen das neue Anti-Streik-Gesetz statt. Rund 2.000 Menschen, für die hochsommerliche Periode keine schlechte Anzahl, demonstrierten in Paris neben der Nationalversammlung. Im Inneren des Abgeordnetenhauses lieferten die Repräsentanten der Parlamentsopposition dieses Mal einen demonstrativen Abwehrkampf: Die französische Sozialdemokratie hatte beschlossen, bei diesem Themen ihren oppositionellen Willen unter Beweis zu stellen. Doch konnte dies die Annahme der Vorlage durch die konservative Abgeordnetenmehrheit nicht verhindern. Und ihre eigene Argumentation war zum Teil eher ambivalent: So bemängelte sie an der Gesetzesvorlage der Regierung Sarkozy/Fillon einerseits, dieser garantiere „den Nutzern keinen wirklichen ‚Service minimum’“ (da auch unter Anwendung der neuen Vorschriften die Züge nicht notwendig fahren würden) sondern verbreite nur „eine Illusion“ – und kritisierte ihn andererseits als „Angriff auf das Streikrecht“. Darin scheint eine gewisse Doppelbödigkeit der Argumentation zu liegen.

‚Le Canard enchaîné’ lässt zwei Beschäftigte in einer Karikatur dazu sagen: „Nach dem ‚Service minimum’: Demnächst müssen wir vielleicht um ein ‚Droit de grève minimum’ (Mindest-Streikrecht) kämpfen“. Tja, falls es so weiter geht... Für den September 2007 hat die CGT allerdings bereits Ausstände gegen die Änderungen am Streikrecht angekündigt. Die Boulevardpresse (‚Le Parisien’) tobte im Laufe dieser Woche bereits, dann finde doch die Rugby-Weltmeisterschaft statt, und stimmte einmal mehr das uralte Lied von der Erpressung, Geiselnahme usw. an. Nichtsdestotrotz ist für den September wohl „trotz Rugby-WM“ (Bernard Thibault, CGT) mit sozialen Konflikten diesbezüglich zu rechnen.

„Ein reformreicher Herbst“
Und was soll der kommende Herbst sonst noch bringen?

Bei Medikamenten soll es einen stärkeren Selbstbehalt der Sozialversicherten als bisher geben. Bereits seit 2004 gilt ein Prinzip des Selbstbehalts der Patienten, von einem Euro pro Arztbesuch. (Eine Arztkonsultation kostet in Frankreich, bei Allgemeinärzten, etwas über 20 Euro. Normalerweise bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung 70 Prozent der Behandlungskosten aller Art zurück, und den Rest übernimmt ggf. eine privat bzw. über den Arbeitgeber abgeschlossene Zusatzversicherung, ‚mutuelle’. Den Selbstbehalt in Höhe von einem Euro bei ärztlichen Konsultationen dürfen aber weder die eine noch die andere Versicherung zurückerstatten, dies wird ihnen durch die „Krankenkassenreform“ von 2004 gesetzlich untersagt. Es soll die Patienten „verantwortungsbewusst machen“, damit sie nicht missbräuchlich oder übertrieben oft zum Arzt gehen. Bei Dauerbehandlungen wie AIDS-Therapien usw. entfällt der Selbstbehalt pro Praxisbesuch bzw. wird bei einer jährlichen Obergrenze gedeckelt.)

Nunmehr plant Nicolas Sarkozy, zusätzlich bei jedem Arztbesuch, aber auch jedem ärzlichen Rezept, jedem einzelnen verschriebenen Medikament einen weiteren Selbstbehalt von 50 Cents einzuführen. Dieser neue Selbstbehalt, genannt ‚franchise médicale’ (medizinischer Freibetrag), soll nach Auskunft des Präsidenten die medizinischen Forschungskosten beim Kampf gegen die Alzheimer-Krankheit finanzieren helfen. Im Vorfeld waren jährliche Obergrenzen für den neuen „Freibeitrag“ bei Praxisbesuchen von 100 oder 200 Euro im Gespräch, zuletzt führte Präsident Sarkozy allerdings eine Summe von „nur“ 50 Euro im Munde.

Die Regeln für die jährliche Neufestsetzung des gesetzlichen Mindestlohns, SMIC, sollen „reformiert“ werden. Dies geht aus der ‚Lettre de mission’, der Aufgabendefinition, die Nicolas Sarkozy seinem Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand in den letzten Tagen zuschickte, hervor. Die bisherigen Regeln zur jährlichen Anpassung des SMIC (dem die Regierung, so sieht es das Arbeitsgesetzbuch bisher zwingend vor, mindestens die jährliche Preissteigerungsrate im vergangenen Jahr plus 50 % des durchschnittlichen Anstiegs der übrigen Löhne und Gehälter hinzufügen muss) waren dem Arbeitgeberlager bisher stets ein Dorn im Auge. Gefordert wurde aus seinen Reihen bislang insbesondere, dass (1) statt der Regierung, deren Entscheidung potenziell immer für politischen Druck anfällig ist, eine „unabhängige Expertenkommission“ für die jährliche Neufestlegung des Mindestlohns zuständig sein solle. Und (2.) möchte das Arbeitgeberlager, dass der SMIC nicht mehr länger als Stunden- und (bei Vollzeitarbeit) Monatslohn, sondern nur noch als jährlicher Mindestverdienst definitiert werden soll. Dies würde es erlauben, sämtliche Jahressonderzahlungen, Prämien usw. einzuberechnen, um zu überprüfen, ob die Grenze des gesetzlichen Mindestlohns erreicht worden ist. Man darf darauf gespannt sein, wie die Regierung die geplante „Reform“ des Mindestlohns ins Auge fassen wird.

Die Regeln zur Festlegung der Regeln für die „gewerkschaftliche Repräsentativität“ (d.h. die Spielregeln für die gesetzliche Vertretungsmacht von Gewerkschaften etwa bei Tarifabschlüssen, deren Festlegung historisch durch das Nebeneinander mehrerer konkurrierender Gewerkschaftsverbände unabdingbar geworden war) sollen gründlich überarbeitet werden. Auch hier darf man auf die Ergebnisse gespannt sein. Als solche wäre eine Veränderung an diesem Punkt tatsächlich notwendig, da die derzeit bestehenden und seit 1966 geltenden Regeln der „Repräsentativ“ das Monopol eines Clubs anerkannter gewerkschaftlicher Dachverbände festschreiben. Einige der dazu gehörenden Organisationen, etwa der christliche Gewerkschaftsbund CFTC, sind aber in Wirklichkeit nur sehr begrenzt „repräsentativ“. Dennoch darf man sehr darauf gespannt sein, wie die konservative Regierung dieses äußerst heikle Thema anpacken wird. Wahrscheinlich nicht im Sinne der Interessen der Lohnabhängigen.. Vorstellbar wäre etwa, entweder, eine weitere Zersplitterung der Landschaft der betrieblichen Interessenvertretung, wenn (wie Sarkozy 2006 forderte) das Antreten gewerschaftsfreier Listen zu Betriebsratswahlen rechtlich erleichtert wird. Oder aber, zumindest im gewerkschaftlichen Bereich, wäre an eine faktische Konzentration der durch anerkannte Gewerkschaftsbünde auszuübende Rechte auf wenige, etwa zwei, Dachverbände zu denken. Unter der Voraussetzung, dass die in Frage kommenden Dachverbände das Spiel mitspielen und sich „verantwortungsbewusst und konstruktiv“ zeigen. Dies wiederum gilt im Moment für die eher rechtslastige sozialliberale CFDT ohnehin; es würde voraussetzen, dass der zweite in Frage kommenden Dachverband, die CGT, zur stärkeren Integration in irgendeine Form der „Sozialpartnerschaft“ bereit ist. In diesem Falle wäre denkbar, dass den kleineren, daneben bestehenden Dachverbänden ihnen bisher zuerkannte Rechte entzogen werden.

Die „Vereinfachung und Vereinheitlichung des juristischen Rahmens“ der Arbeitsverhältnisses: Dahinter steht das seit längerem von Nicolas Sarkozy gehegte Projekt einer Aufweichung des Kündigungssschutzes, und faktischen Zusammenlegung von befristetem und unbefristetem Arbeitsvertrag (CDD und CDI). Kernidee: Je länger jemand beschäftigt worden ist, desto stärker soll sein oder ihr Kündigungsschutz ausfallen, d.h. desto höher soll die finanzielle Abfindung im Falle einer Entlassung ausfallen.

- Nicht zuletzt: Die „Spezial-Rentenregime“ sollen ab 2008 dringend reformiert werden. Dies forderte Präsident Sarkozy in seinem Brief an Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand, der seine Aufgabendefinition enthält. Dahinter steckt nichts anderes als das Vorhaben, die bisherigen, vergleichsweise günstigen Rentenregelungen für bestimmte Berufsgruppen (insbesondere Lokführer und andere Bahnbeschäftigte, sowie Angestellte der Stromversorgungsgesellschaft EDF) auszuhebeln. Diese Berufsgruppen hatte sich historisch das Recht erkämpft, u.a. aufgrund der damals vorherrschenden Arbeitsbedingungen (Stichwort: Dampflokomotive), früh in Rente zu gehen – viele Kategorien von Bahnbediensteten etwa mit 50 bzw. 55 Jahre. Geschichtlich diente dieses Erkämpfen besonderer „Vergünstigungen“ durch bestimmte Gruppen von Staatsbediensteten als „Lokomotive“ für andere Beschäftigte, die ihrerseits dann versuchen konnten, ähnliche oder vergleichbare Bedingungen andernorts zu erkämpfen. Längst hat sich dieses Verhältnis aber umgekehrt und ist auf den Kopf gestellt worden: In der konservativ-liberalen, ständig via Medien in die Köpfe getrommelten Propaganda sind heute die Staatsbediensteten die „wahren Privilegierten“, denen es zu Unrecht besser ergehe als anderen Beschäftigtengruppen. Zudem scheuten sie „das Risiko“, da ihre Arbeitsplätze durch ihren Status gesichert seien, während die Beschäftigten in der Privatwirtschaft das Arbeitsplatzrisiko trügen. (Was stimmt, wobei aber Letztere auch wesentlich besser bezahlt werden! Zumal viele Staatsbedienstete, sofern sie öffentliche Dienstleistungen erbringen – wie Bahnbedienstete, insbesondere das rollende Personal, oder Krankenschwestern im staatlichen Gesundheitswese – auch in weit überdurchschnittlichem Maße abends, nachts, an Wochenenden oder in Urlaubsperioden malochen.)

Nicolas Sarkozy forderte in seinem Brief an Minister Xavier Bertrand, er solle „die Regeln für die Spezialregime mit denen der anderen (Renten-)Regime konvergieren lassen“. Dies bedeutet, in normale Sprache rückübersetzt, dass alle vorteilhaften Sonderregelungen abgeschafft werden sollen, was für das Jahr 2008 geplant ist. Dieses Thema kündigt ordentlichen Zündstoff für soziale Konflikte an, sobald es angepackt wird. Nun wird auch klar, warum die Regierung es eilig hatte, das Streikrecht in den öffentlichen Transportbetrieben so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Die linskliberale Tageszeitung ‚Libération’ hatte also Recht, als sie im Frühsommer schrieb: „Die Reform des Streikrechts ist die Voraussetzung für die Reform der ‚Spezialregime’.“ Quod erat demonstrandum...

Vollbeschäftigung?

Grundsätzlich hat Präsident Nicolas Sarkozy seinem Arbeits- und Sozialminister in seiner Aufgabendefinition ferner zum Ziel erhoben, in den nächsten fünf Jahren „die Vollbeschäftigung“ (le plein emploi) anzustreben.

Dass es nach Ablauf dieser Periode keine Erwerbslosen mehr geben würde, ist zwar reichlich unrealistisch. Allerdings trifft es zu, dass die geplante bzw. anlaufende neoliberale Umwälzung tatsächlich neue Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der Durchsetzung neuartiger Bedingungen – erheblich erleichterte Kündigungsmöglichkeiten, extreme Prekarisierung, geringe Bezahlung - schaffen und die widerstrebenden (potenziellen) Arbeitskräfte nunmehr in diese Beschäftigungsverhältnisse hinein zwingen wird. Dieses Phänomen eines Rückgangs der Erwerbslosigkeit, bei gleichzeitiger Zunahme prekarisierter Beschäfigungsverhältnisse, ist ein EU-weit allgemein festzustellendes Phänomen (vgl. dazu aktuell http://jungle-world.com/seiten/2007/31/10348.php  ). Das typische Profil eines Erwerbsverhältnisses, das derzeit in Frankreich vom durchschnittlichen „Langzeitarbeitslosen (ab ein Jahr)“ bei geringer Qualifizierung eingegangen wird, sieht derzeit so aus: Teilzeitarbeit bei Entlohnung mit der Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns (d.h. der Hälfte des monatlichen Mindestlohns, der bei Vollzeitarbeit garantiert wird). Das bedeutet netto rund 500 bis, mit Überstunden, circa 600 Euro pro Monat.

Am 1. August dieses Jahres vermeldet die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ bereits auf ihrer Titelseite: „Die Arbeitslosigkeit war seit 25 Jahren noch nie so tief“ (wie heute). Laut offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosenrate derzeit 8 Prozent, auch wenn diese Berechnung nach wie vor umstritten ist. Im März dieses Jahres hatte das Nationale Statistikamt INSEE, nach heftigem Streit vorab (die Gewerkschaften hatten den politisch Verantwortlichen eine Manipulation der Zahlen vorgeworfen), darauf verzichtet, wie alljährlich im März ihre jährliche Studie zum Thema Arbeitsverhältnisse & Arbeitslosigkeit vorzulegen. Alljährlich werden normalerweise im März die Arbeitslosenstatistiken aufgrund der Ergebnisse dieser Studie revidiert. Aber in diesem Jahr ging es darum, wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl eine spürbare Korrektur nach oben (von gut 8 Prozent auf rund 9 Prozent) zu verhindern. Nunmehr soll die jährliche INSEE-Studie im Herbst 2007 nachträglich veröffentlicht werden.

Tatsache ist aber anscheinend, dass die Anzahl der registrierten Arbeitslosen wirklich gesunken ist. Diese liegt seit Mai 2007nunmehr erstmals seit langen Jahren unterhalb der Zwei-Millionen-Grenze, mit 1,962 registrierten und amtlich als solchen anerkannten Erwerbslosen im Juni dieses Jahres. Allerdings hängen nur rund 25 Prozent der Abgänge aus der Arbeitslosenstatistik mit der erklärten (Wieder-)Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses zusammen. Der größere Teil des Rückgang der Erwerbslosenzahlen hängt vielmehr mit den ‚Radiations’, also dem amtlich verfügten Hinauswurf aus der Arbeitslosenstatistik zusammen. ‚Le Monde’ vom 1. August zitiert diesbezüglich folgende Zahlen, bei denen leider nicht angegeben wird, auf welchen Zeitraum sie sich beziehen (mutmaßlich aber das erste Halbjahr 2007): „151.555 Fälle von Abwesenheit bei Kontrollen bzw. Nicht-Rückmeldungen sowie 44.185 Streichungen aus der Arbeitslosenstatistik (als Sanktion). Die ‚Erklärungen der Wiederaufnahme eines Arbeitsverhältnisses’ bilden nur ein Viertel der registrierten Motive für die Streichung (einer Person) beim Arbeitsamt.“

Nun können sich hinter einem Teil der Nicht-Rückmeldungen beim monatlichen Rückmeldeverfahren sowie der Abwesenheit bei Kontrollen oder bei Vorladungen zum Arbeitsamt ebenfalls „Fälle“ verbergen, in denen Personen erneut eine Lohnarbeit gefunden bzw. aufgenommen haben. Denn normalerweise muss die Wiederaufnahme einer Arbeit innerhalb von drei Tagen beim Arbeitsamt (französisch ANPE) angegeben werden. Viele Betroffene versäumen dies, melden sich dann aber nicht zurück und fliegen deshalb nach dem monatlichen Rückmeldeverfahren aus der Statistik. Unzweifelhaft bilden die Rauswürfe jedoch ebenfalls einen wachsenden Anteil an den Abgängen aus der Arbeitslosenstatistik.

Just eine halbe Woche zuvor, am 26. Juli, hatte die Wirtschaftstageszeitung ‚Les Echos’ auf ihrer Seite Eins getitelt: „Kontrolle der Arbeitslosen: Die Sanktionen nehmen um ein Vielfaches zu.“ Ihrem Bericht zufolge hat sich die Zahl der verhängten Sanktionen – Sperren des Arbeitslosengelds ab zwei Monaten und/oder Streichung von der Liste der registrierten Arbeitslosen – in 2006 gegenüber dem Vorjahr 2005 verdreifacht. Erleichtert worden ist dies dadurch, dass ein Dekret vom 2. August 2005 die Sanktionen nunmehr staffelt und den Arbeitsämtern eine größere Palette von Strafmaßnahmen zur Verfügung stellt: Es gibt nun nicht mehr länger nur „die definitive Streichung oder nichts“, sondern eine ganze Spannbreite von Sanktionen ab der zweimonatigen Sperre (bei der die Person ebenfalls vorübergehend aus der Statistik herausfällt) aufwärts. Deshalb zögern die Bediensteten der Arbeitsämter immer weniger, solche Sanktionen auch real zu verhängen und das vorhandene Instrumentarium anzuzwenden. ‚Les Echos’ zufolge wurden zuvor in 18 Prozent der Fälle „verdächtiger Dossiers“ Sanktionen verhängt, nunmehr (2006) aber in 57 Prozent der Fälle. Ursächlich dafür sind sowohl versäumte Vorladungen als auch bspw. das Ablehnen einer „angebotenen“ Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses.

Da neben den Arbeitsämtern selbst auch die Präfekten (die juristischen Vertreter des Zentralstaats in den Départements, u.a. Chefs der Polizei- und Ausländerbehörden und Inhaber der Rechtsaufsicht über die Kommunen) nunmehr Sanktionen gegen Erwerbslose verhängen können, ist die o. zitierte Zahlenangabe noch unvollständig. So stieg die Anzahl der durch die Arbeitsämter verhängten Strafen im Jahr 2006, ‚Les Echos’ zufolge, von zuvor 7.200 auf nunmehr 24.800. Die Gesamtzahl der verhängten Sanktionen beträgt demnach jedoch 41.700. Derselben Quelle zufolge erwägt Nicolas Sarkozy eine Intensivierung der Kontrollen, die durch die Gewerkschaften jedoch abgelehnt werde. Letztere beriefen sich darauf, dass die Gesamtzahl der Sanktionierten (anteilsmäßig rund 2 %) gegenüber jener der registrierten Arbeitslosen noch immer gering sei, so dass kein genereller Betrugsverdacht gegenüber den Beziehern von Arbeitslosengeld ausgesprochen werden könne. Aufgrund des registrierten Rückgangs der Arbeitslosenzahl, so ‚Les Echos’, seien jedoch auch die Kontrollen tendenziell eher im Rückfluss befindlich.
 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 06.08.07 zur Veröffentlichung.

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