Arm aber autonom
Zur sozialen Situation in den französischen „Überseegebieten“. Nach den jüngsten Reisen von Präsident Nicolas Sarkozy und Premierminister François Fillon in „Überseefrankreich“

von  Bernard Schmid

7/8-09

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20 Punkte im Abitur waren möglich, 20,92 Punkte hatte er bekommen. Ein solches Wunderkind – der junge Mann hält den französischen Rekord – hatte wohl einen Händedruck des Premierministers verdient. Und so kam es auch, als Premierminister François Fillon sich am vergangenen Donnerstag (o9. Juli) auf der als „Überseebezirk“ zu Frankreich zählenden Insel La Réunion aufhielt, wo der erfolgreiche Abiturskandidat wohnt. 

Keine Zeit hingegen hatte Fillon für andere Personen, die ihn gar zu gern treffen wollten. Etwa für jene 348 bisherigen Mitarbeiter im öffentlichen Schulwesen, die mit prekären Verträgen beschäftigt waren und denen ab August o9 nun die Arbeitslosigkeit droht. Ihnen wurde kein Händedruck zuteil, vielmehr warfen starke Sicherheitskräfte sie bei Fillons Ankunft aus dem Flughafen von Saint-Denis de la Réunion hinaus. Nicht  überhören konnte der Premier hingegen den Protest von Lastwagenfahrern, die lautstark hupten und Sirenen erklingen lieben: Aufgrund rückgängiger Staatsaufträge haben das Bau- und Transportgewerbe auf der Insel im Indischen Ozean, die insgesamt 800.000 Einwohner/innen zählt, bereits über 4.000 Arbeitsplätze verloren. 

Das war aber auch schon alles an Protest. Waren zu Anfang dieses Jahres sämtliche französischen „Überseebezirke“ – zwei in der Karibik, Französisch-Guyana sowie La Réunion – von heftigen sozialen Unruhen aufgewühlt, so blieb es dieses Mal während François Fillons Besuch weitgehend ruhig. 1.000 Anhänger seiner Regierungspartei UMP applaudierten ihm brav. Ansonsten wurde lediglich offenkundig, dass die „Generalstände für Übersee“ die Gesamtbevölkerung die Inselbevölkerung absolut kalt lassen. Diese Kongressinitiative war infolge der Unruhen – die sich „gegen das teure Leben“ richteten und eine Angleichung der Lebensverhältnisse an die „Metropole“, also das europäische Frankreich, forderten - durch die Pariser Regierung lanciert worden. Im Oktober o9 soll das französische Parlament neue Bestimmungen für die „Überseegebiet“ verabschieden. Auf La Réunion erntete die Initiative aber vorläufig nur Desinteresse. 

La Réunion ist das einzige französische „Überseedépartement“, in dem die soziale (Generalstreik-) Bewegung zu Anfang des Jahres 2009 von vornherein mit einer Niederlage endete: Am ersten Streiktag – dem o5. März – waren 30.000 Menschen auf den Straben mobilisiert, am zweiten (dem 1o. März) noch 15.000. Zum dritten Mobilisierungstag, anlässlich der frankreichweiten Demonstrationen am 19. März, kamen noch 5.000 Demonstrierende. Und am vierten Mobilisierungstermin, zum 1. Mai, waren es dann 700... (Angaben lt. einem Aktivisten von La Réunion auf der ‚Fête de Lutte Ouvrière’, am Pfingstwochenende.) 

Verantwortlich dafür waren damals, neben den Wetterbedingungen – (sub)tropischen Regenfällen am 10. März – u.a. auch die Tatsache, dass das lokale Establishment dem sozialen Protest auf der Insel von vornherein zum Teil den Wind aus den Segeln genommen hatte. Zu Anfang der Proteste wurde verkündet, dass „dasselbe Abkommen wie auf den Antillen“ - d.h. wie die in der Nacht vom o4. zum o5. März 2009 auf Guadeloupe abgeschlossene Vereinbarung zur Streikbeendigung (vgl. unten in diesem Artikel) - ohnehin auch auf La Réunion Anwendung finden werde. Also sozusagen kampflos. Es beinhaltete insbesondere eine Erhöhung aller Tieflöhne – bis zum 1,4fachen des gesetzlichen Mindestlohns SMIC – um 200 Euro pro Monat. Es wurden dann aber auf La Réunion, wo das Abkommen ohne Arbeitskampf und Streik übernommen wurde, nur 150 Euro statt 200.

Sarkozy auf den Antillen: Nicht ohne mein „Sicherheitsaufgebot“ 

Ein wenig „heiber“ geht es da auf den französischen Antillen zu, wo Fillons Chef – Staatspräsident Nicolas Sarkozy – 14 Tage früher zu Besuch war. Der umtriebige Sarkozy, der seinen Besuch auf den Karibikinseln seit dem Jahresbeginn mehrfach verschoben hatte, schien denn auch misstrauisch. Die 900 Mann Sondereinsatzkräfte der Gendarmerie, die dort ohnehin seit dem Generalstreik vom Januar bis März dieses Jahres stationiert waren, wurden verstärkt. Extra für seinen Besuch, der auf beiden Inseln – Guadeloupe und La Martinique – zusammen nur 28 Stunden dauerte, wurden sie nochmals aufgestockt. Nunmehr bewachten 2.100 Mann den Flughafen und die gesamte Route, die der Präsident abfuhr. In seine Reichweite kam nur, wer vorher dafür ausgesucht worden war. (Vgl. nähere Informationen dazu: http://bellaciao.org/fr/spip.php?article88224

Zwei Tage vor seinem Besuch vom 25. und 26. Juni o9 hatte Sarkozy in Paris sein Kabinett umgebildet. Und dabei war der bisherige „Übersee-Staatssekretär“, Yves Jégo, geopfert worden: Zu viele Zugeständnisse an die Streikenden habe er im Februar gemacht, tönte die Lobby der „Békés“ - jene „rein weibe“ Kaste aus Nachfahren der früheren Sklavenhalter, die auf den beiden zu Frankreich gehörenden Karibikinseln noch immer einen Grobteil der lokalen Ökonomie unter ihrer Kontrolle hat. Nichts anderes nimmt auch Jégo selbst an, der nun droht, fortan im Parlament heftige Kritik zu üben, und eine „sehr reiche Lobby“ für seine Entlassung verantwortlich macht. - Als seine Nachfolgerin wurde die 50jährige Marie-Luce Penchard zur „Übersee-Staatssekretärin“ ernannt (als erste selbst „in Übersee“ geborene Französin, die dieses Amt bekleidet). Es handelt sich um die Tochter von Lucette Michaux-Chevry, der langjährigen Senatorin (Oberhaus-Abgeordneten) von Guadeloupe und persönlichen Freundin von Ex-Präsident Jacques Chirac, deren Amtsführung vielen Kritiker/inneN als quasi-mafiös gilt. (Vgl. http://forums.france5.fr

Oberklasse hält Vereinbarung nicht ein 

Unterdessen beklagen sich auf Guadeloupe und La Martinique zahllose Menschen, dass die Vereinbarungen, die Anfang März o9 das Streikende besiegelten, durch die Staatsmacht und die überwiegend rassistische Oberschicht nicht eingehalten würden. Die Inselökonomie hängt weitgehend am Tropf  der „Metropole“, da kaum eine gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung mit ihrer näheren Umgebung – Lateinamerika und dem Karibikraum – stattfindet, sondern alles auf Festlandfrankreich ausgerichtet wird. Dies schafft Abhängigkeiten und Einfuhrmonopole, von denen vor allem die „Békés“ profitieren. Das Abkommen zum Streikende sah im März vor, dass die teilweise astronomischen Gewinnspannen für Importe aus Frankreich vermindert werden müssten. Es wurde eine Liste von 200 Grundbedarfsgütern aufgestellt, für die Preisnachlässe stattfinden müssen. Nur stellen die Menschen nun fest, dass genau diese Produkte nunmehr ständig angeblich „vergriffen“ sind und in den Regalen fehlen. Alle anderen Artikel hingegen wurden noch teurer. 

Auch die 200 Euro Lohnerhöhung für alle niedrigen Gehaltsgruppen, die das Abkommen festschrieb, werden oft nicht respektiert. Mehrere grobe Hotelketten und Ferienclubs – unter ihnen der Club Med - , die sich die „Mehrkosten“ locker leisten könnten, haben es vorgezogen, stattdessen die von der Erhöhung betroffenen Arbeitskräfte zu entlassen. 750 Hotelbedienstete kämpfen derzeit etwa gegen ihre Massenkündigung. Die Tankstellen sollen nun voll automatisiert werden, um die Arbeitskräfte ebenfalls „einzusparen“. Aufgrund der Nichteinhaltung sozialer Zugeständnisse vom Frühjahr sind auch die Feuerwehrleute am Flughafen der Inselhauptstadt von Guadeloupe, Pointe-à-Pitre, seit sechs Monaten ununterbrochen im Streik. 

Alles Gute kommt von oben. Auch die Autonomie? 

Nicolas Sarkozy kam nicht mit leeren Händen. Aber er zog es vor, die sozialen und ökonomischen Probleme einfach zu umgehen, indem er stattdessen eine Antwort auf eine ganze andere Frage gibt – die die Bevölkerung ihm nicht stellte, wohl aber die Inselparlamentarier von La Martinique. Das politische Establishment der Insel verlangte mehr Autonomierechte von der „Metropole“. Darüber möchte Sarkozy nun ein Referendum abhalten – auf La Martinique. Vorläufig nicht auf Guadeloupe, denn dort zeigten die Mandatsträger selbst sich reserviert gegenüber der Ideee, „mehr Autonomie ohne mehr Geld“ zur Verfügung zu haben. Ihr Misstrauen könnte vielleicht nach den jüngsten Ausführungen Sarkozys noch steigen. Er erklärte auf La Martinique: „Je autonomer eine Gemeinschaft ist, desto mehr muss sie sich selbst in die Hand nehmen, und desto mehr Verantwortung werden ihre Mandatsträger für ihre Weichenstellungen haben.“ Auch eine Rechtfertigung, um künftig vielleicht die Transferzahlungen zu reduzieren? 

Die geplanten Autonomierechte ähneln jenen, die Korsika in den letzten zehn Jahren sukzessive gewährt wurden - wobei eine Volksabstimmung im Juli 2003 dort eine knappe Mehrheit gegen konkrete Autonomiepläne des damaligen Innenministers Sarkozy ergab. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd7803/t247803.html

 Die Autonomierechte auf La Martinique dürften freilich – werden sie angenommen - überwiegend den Vertretern der örtlichen „politischen Klasse“ zugute kommen, nicht der Bevölkerung. Letztere weist eine Minderheit auf, die stattdessen lieber gleich die Unabhängigkeit von Frankreich erringen möchte – eine Forderung, die Sarkozy bei seinem jüngsten Besuch kategorisch ausschloss: „So lange ich Präsident bin, wird diese Frage nicht gestellt“- und eine Mehrheit, die vor allem gleiche soziale Rechte gegenüber Festlandfranzosen verlangt. Beiden wird die geplante Autonomie eher wenig Zufriedenstellendes bringen. Dennoch könnte der Vorschlag, in der Mitte zwischen den beiden Alternativen angesiedelt, eben darum als „Kompromisslösung“ verkauft und mit dieser Begründung zur Abstimmung gestellt werden. 

Risse im LKP 

Auf La Martinique erhielt Sarkozy von den etablierten Kräften aufgrund seines Vorstobes Applaus. Hingegen fiel der Empfang für ihn auf Guadeloupe, wo die sozialen Konflikte seit den Tagen der Französischen Revolution wesentlich schärfer ausfallen als auf der Nachbarinsel, weit verhaltener aus. Das „Kollektiv gegen Ausbeutung“ LKP, das von Januar bis März o9 den damaligen Generalstreik auf der Insel organisierte, rief zu einer „Aktionswoche“ gegen ihn auf. (Vgl. http://www.google.com/ ) An jedem Werktag wurden Strabenblockaden errichtet und die Streikenden in einem Dutzend Betrieben aktiv unterstützt, am Freitag Abend nahmen rund 500 Menschen an einer Saalveranstaltung teil (vgl. http://www.google.com/ ). Doch zur Abschlussdemonstration am Samstag kamen, je nach Angaben, nur 1.200 bis 3.000 Menschen. (Vgl. http://www.google.com/

Denn nicht nur, dass ein Teil der Bevölkerung nach 44 Tagen Generalstreik zu Jahresanfang momentan kampfesmüde ist. Denn auch das LKP steckt jetzt in der Krise. Neben unterschiedlichen Orientierungen der an ihm beteiligten Gewerkschaften und „Vereinigungen der Zivilgesellschaft“ spielen auch ungelöste objektive Interessenkonflikte eine Rolle. Der gröbte Arbeitgeber auf den Inseln, deren Ökonomie total auf Frankreich ausgerichtet wurde, ist der Staatsdienst. Aber Staatsbedienstete erhalten auf den französischen Antillen eine Teuerungszulage in Höhe von 40 Prozent – die den anderen sozialen Schichten nicht zugute kommt. Das LKP hat bis heute keine Diskussion um die Reform oder Abschaffung dieses Privilegs begonnen, da eine solche Debatte explosiven Charakter hätte. Denn viele seiner Wortführer sind Staatsbedienstete, was nicht Wunder nimmt, da die Gewerkschaften unter ihnen am stärksten verankert sind. Zwar ist auch diese soziale Kategorie von den hohen Lebenshaltungskosten betroffen und kann daher legitime ökonomische Forderungen stellen, zugleich ist sie gegenüber dem Rest der Bevölkerung noch relativ „privilegiert“. 

Nicolas Sarkozy nutzte unterdessen seinen Aufenthalt auf Guadeloupe, um dem LKP – das immer noch die radikalsten Kräfte bündelt – zu drohen: Er werde nicht hinnehmen, dass „das Streikrecht als Instrument für Propaganda und politische Destabilisierung benutzt“ werde. Die Autorität des Staates müsse und werde in jedem Falle  bewahrt bleiben. (Vgl. http://www.lutte-ouvriere-journal.org/) Auch komme es nicht in Frage, dass „eine Kategorie der Bevölkerung aufgrund ihrer Herkunft stigmatisiert werde.“ Dadurch bezeichnete er nicht etwa Rassismusopfer, sondern die weibe Gutsbesitzer- und Eigentümerkaste der „Béké“.

Editorische Anmerkungen

Der Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.