Altenpflege muss Wahlkampfthema werden!

Von Antonín Dick
 

7-8/10

trend
onlinezeitung

Das erste Grummeln am Horizont der Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin im Jahr 2011 ist bereits zu vernehmen: Die Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen des Berliner Abgeordnetenhauses fordert die rot-rote Stadtregierung auf, angesichts des demographischen Wandels endlich damit zu beginnen, einen Bedarfsplan „Pflege für das kommende Dezennium 2010 bis 2020“ vorzulegen.

Ein solcher Bedarfsplan ist in der Tat dringend notwendig, keine Frage, aber er reicht nicht aus, denn es geht anerkanntermaßen mehr und mehr auch um die Art und Weise, wie gepflegt werden soll, konkret, es geht um die Frage
der strikten Einhaltung der Menschenrechte, nicht zuletzt auch im Bereich der Pflege von dementiell erkrankten Menschen, der sich kontinuierlich erweitern wird, weil die Menschen älter werden. Auf dem Kongress zur „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“, den das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Regierung der Bundesrepublik Deutschland am 8. Juni 2010 in Berlin ausrichtete, rückte die Menschenrechtsfrage in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Positive Beispiele der praktischen Umsetzung der Pflege-Charta aus der gesamten Republik wurden vorgestellt. Berlin war bezeichnenderweise nicht dabei. Anlässlich dieses Kongresses, an dem ich als einer der Erstunterzeichner zur Durchsetzung der Pflege-Charta als geltendes Recht der Bundesrepublik
teilnehmen durfte, habe ich auf Grundlage dieses halbamtlichen Dokuments Überlegungen zur „Humanisierung der ambulanten Altenpflege im Land Berlin“ vorgelegt. Sie wurden am Tag des Kongresses dank einer raschen Entscheidung der Redaktion der online-zeitung TREND der Öffentlichkeit vorgestellt.


In Vorbereitung der Abgeordnetenhauswahlen 2011 ist diese pflegepolitische Skizze, die eine ganze Reihe von praktikablen Vorschlägen zur Verbesserung der Menschenrechtslage im Bereich der ambulanten Altenpflege (unabhängige Beobachtungsstelle, Kooperation mit EU-Hauptstädten etc.) enthält, den pflege– bzw. gesundheitspolitischen Sprechern aller Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses mit ordentlichem Anschreiben zugeleitet worden: Minka Dott (LINKE), Jasenka Villbrandt (Bündnis 90 / Die Grünen), Stefanie Winde (SPD), Mario Czaja (CDU) und Kai Gersch (FDP). Erste positive Reaktionen liegen bereits seitens der Fraktionen der LINKEN und der Grünen vor.

Der Kern dieser Initiative: Es kann nicht angehen, dass angesichts der zu erwartenden Vorlage des Pflegebedarfsplans lediglich über Strukturierung, Quantifizierung und Finanzierung diskutiert wird. Es müssen endlich die Grundfragen von ambulanter Pflege auf den Tisch, am besten auf eine Vielzahl von Runden Tischen – die Fragen nämlich, die um das existentielle Thema ‚Menschenrechte in der Pflege alter Menschen’ kreisen. Tagtäglich finden im Bereich der Altenpflege Menschenrechtsverletzungen statt, an die man sich streckenweise schon gewöhnt hat. Den pflegepolitischen Sprechern der Fraktionen des Abgeordnetenhauses, allen Abgeordneten unseres
Stadtparlaments, muss aber eines klar sein: In der Bevölkerung Berlins wird über ambulante Pflege tagtäglich debattiert, in den Familien, in den Wohngebieten, in den Betrieben, auf der Straße, in den Redaktionsstuben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in der Presse Altenpflege kritisch problematisiert wird. Die politisch Verantwortlichen dieser Stadt müssen wissen, dass man sich mit noch so professioneller Bedarfsplanarbeit, die an
Schreibtischen von geschulten Entscheidungsingenieuren geleistet wird, nicht über die existentielle Frage, ob alte und hilfebedürftige Menschen menschlich oder unmenschlich behandelt werden, die sich tagtäglich in den nach außen abgeschotteten Wohnungen alter Menschen stellt, hinwegmogeln kann. Deswegen die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen.“ Deswegen der Pflege-Kongress. Deswegen die ständige Präsentierung von pflegekritischen Berichten und Debatten in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Deswegen die pflegepolitische Skizze, die in der Forderung gipfelt, für Berlin endlich einen Perspektivplan ‚Humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde im Land Berlin für den Zeitraum 2010 bis 2020’ zu entwickeln. Es ist eine Umkehr notwendig, ein neues Denken.

Die Art und Weise, wie alte und hilfebedürftige Menschen in unserer Stadt behandelt werden, bestimmt letzten Endes über das Gesamtniveau des gesellschaftlichen Zusammenlebens in unserer Stadt.

Gegenwärtig werden über weite Strecken gesellschaftlicher Reichtum und gesellschaftliche Armut in dieser Stadt als zwei getrennte Reiche angesehen. Die entsprechend ökonomisiert werden. Die entsprechend administriert werden. Lebensgenuss und Lebensqual, Lust und Schmerz, menschlicher Reichtum und menschliche Bedürftigkeit, Selbstbestimmung und Abhängigkeit, Tätigkeit und Leiden schließen einander über weite Strecken aus, obwohl
sie eigentlich zusammengehören. „Der reiche Mensch“, notierte Marx 1844 in Paris in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, „ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als innere Notwendigkeit, als Not existiert. Nicht nur der Reichtum, auch die Armut des Menschen erhält gleichmäßig – unter Voraussetzung des Sozialismus – eine menschliche und
daher gesellschaftliche Bedeutung. Sie ist daher das passive Band, welches den Menschen den größten Reichtum, den andren Menschen, als Bedürfnis empfinden lässt.“

Auf dem Berliner Kongress zur Pflege-Charta hat die Schmerztherapeutin Dr. Marianne Koch die gegenwärtig herrschende Lebensphilosophie, die unsere Republik charakterisiert, mit einfachen Worten kritisch auf den Punkt
gebracht, indem sie sagte: „Wir leben in einer genussorientierten Gesellschaft.“ Die Kongressteilnehmer applaudierten dankbar.

Diese Vereinseitigung ist die wahre Krankheit in unserer Gesellschaft, nicht die Zunahme von altersbedingten Krankheiten, und sie gilt es aufzulösen, und zwar entschieden. Es geht um das Zusammendenken dieser beiden von Marx herausgearbeiteten Pole menschlicher Existenz. Dies wäre der Ansatz zu einem neuen Denken in der Pflege und Versorgung alter Menschen, der noch der gediegenen Ausarbeitung harrte.

Wie pflegerische Tätigkeit unter menschenrechtswidrigen Voraussetzungen verkommen kann zur Ausübung martialisch-wilhelminischer Herrschaft des reichen, weil gesunden über den armen, weil altersschwachen Menschen, zeigt folgendes Protokoll eines ambulanten Pflegeeinsatzes einer Pflegefachkraft im Südwesten der Stadt Berlin:

Protokoll einer Zwangsmahlzeit

Mitschnitt eines ambulanten Pflegeeinsatzes vom 31. 08. 2009 in der Wohnung einer pflegebedürftigen Frau im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf von Berlin durch den in diesem Stadtbezirk beheimateten häuslichen Pflegedienst „Mit
Liebe pflegen“.

Die Bezugspflegekraft einer über neunzig Jahre alten und pflegebedürftigen Frau, eine ausgebildete Altenpflegerin und Hundebesitzerin, zwang die über neunzig Jahre alte und pflegebedürftige Frau im Rahmen eines ambulanten Pflegeeinsatzes gegen deren ausdrücklichen Willen zur Einnahme einer Hundemahlzeit. Dieser als Menschenmahlzeit deklarierte Eintopf bestand aus gekochten Muschelnudeln, ein paar halbgaren Möhrenscheiben sowie aus
sogenanntem Mischhack, einer Mischung aus Rindfleisch- und Schweinefleischgehacktem, das während des kurzen Kochvorgangs unverarbeitet in die brodelnde Nudelmasse gekippt worden war und sich dann als vielfach zerbröselte Fleischkörnchen in diese grau-weiß-rötliche Nahrungsmasse dunkel und undefiniert einlagerte. Für die Richtigkeit der Charakterisierung dieser Mahlzeit als Hundemahlzeit verbürgt sich eine examinierte Pflegefachkraft, die einen Tag später diese Nahrungsmasse ausführlich inspiziert hatte.

Wichtig zu betonen: Bei der pflegerischen Tätigkeit gemäß Pflegeleistungskomplex LK 6 (Hilfe zur Nahrungsaufnahme) ging es vorrangig, wie man sehen wird, nicht um ihren Gebrauchswert, die Sättigung des pflegebedürftigen Menschen, sondern um ihren sozialen Wert, die Einübung von Herrschaft über den pflegebedürftigen Menschen.

Die Dokumentierung der zwangsweise durchgeführten Abspeisung der pflegebedürftigen Frau mit dieser Hundemahlzeit geschah zwar illegal, dennoch nicht illegitim, denn hierbei ging es um den berechtigten Nachweis schwerer Menschenrechtsverletzungen. Die Durchführung einer Zwangsmahlzeit war bei diesem Pflegedienst kein Einzelfall, sie gehörte zum Standardverhalten gegenüber der wehrlosen, schwerstpflegebedürftigen Frau. Dazu kam: Diese Frau isst weder Nudeln noch Schweinefleisch. Und: Dieses Angebot an Mittagessen stand in völligem Gegensatz zum ärztlich angeordneten Speiseplan, der nach lebensmitteltechnischen Kriterien einer personzentrierten Schonkost konzipiert worden ist.

Der Name des im Südwesten Berlins agierenden ambulanten Pflegedienstes ist durch einen Decknamen ersetzt worden. Die Namen von pflegebedürftiger Person und Bezugspflegekraft bleiben aus datenschutzrechtlichen Gründen ungenannt.


Es ist 12.00 Uhr Mittag. Die Klientin sitzt am Esstisch im Wohnzimmer. Die Altenpflegerin steht in der Küche, kocht innerhalb weniger Minuten die Hundemahlzeit. Später wird sie, um eventuellen Kontrollen durch den MDK zu begegnen, in den Pflegebericht für diesen Mittagseinsatz die Unwahrheit eintragen, dass diese Hundemahlzeit angeblich ein Wunschessen der pflegebedürftigen Person gewesen sei. Sie schreibt: „Mittagessen gemeinsam zubereitet.“ Auf diese Weise gegen jede gesellschaftliche Kontrolle abgesichert, betritt sie nach zehn Minuten mit einem vollen Teller das
Wohnzimmer, in welchem die Klientin, die trotz altersbedingter Einschränkungen mit gespannter Aufmerksamkeit und großer Bebachtungsgabe des Kommenden harrt, am Esstisch sitzt. Die Klientin weiß, was Zwangsmahlzeiten sind, und sie weiß, dass ihr jetzt ein Zweikampf um ihre Würde mit der Altenpflegerin bevorsteht, der alle Wachsamkeit und Verteidigungskraft von ihr erfordert.

ALTENPFLEGERIN (setzt der Klientin die Hundemahlzeit vor und sagt ihr dann, ohne  
guten Appetit zu wünschen, in einer Mischung aus Triumphgefühl  und Leutseligkeit in der Stimme): Mittagessen!

KLIENTIN. (fängt nach anfänglichem Zögern vorsichtig mit dem Essen an, gibt  dann aus Furcht vor Revanche seitens der Altenpflegerin leise und fast mechanisch das folgende geheuchelte Urteil über die angebliche Qualität und Schmackhaftigkeit des vorgesetzten Hundemahls ab): Schmeckt gut.

ALTENPFLEGERIN: Sehr gut.

KLIENTIN (stöhnt, dann laut zur Altenpflegerin, um einen Grund zu haben,  sich dem ekelerregenden Fraß augenblicklich zu entziehen): Heiß!   (Hört prompt auf zu essen.)

ALTENPFLEGERIN: Bisschen pusten. (Fängt an, die Klientin zu füttern.)

KLIENTIN (voller Ekel protestierend).

ALTENPFLEGERIN. Frau D., da hängt was. (Füttert weiter). Nicht so böse sein.

KLIENTIN (würgt, stöhnt, schreit).

ALTENPFLEGERIN (die Patientin fütternd): Frau D., nicht brüllen.

KLIENTIN: (schreit auf.)

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt fütternd.)

KLIENTIN (stöhnt.)

ALTENPFLEGERIN: (unbeirrt fütternd.)

KLIENTIN (laut): Halt! Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Ja.

KLIENTIN: (stöhnend und schreiend): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Ja. Nicht so schreien bitte (Füttert.)

KLIENTIN: Weg!

ALTENPFLEGERIN. (unbeirrt weiterfütternd).

KLIENTIN: Weg!

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt weiterfütternd, dann plötzlich, die Klientin dahingehend  konditionieren wollend, dass die
Hundemahlzeit angeblich wie ein Festtagsmahl schmecken würde): Mmmmhhhhhhh!

KLIENTIN (das scheinheilige und plumpe Manöver der Altenpflegerin durchschauend): Geh weg!

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt fütternd).

KLIENTIN (laut): Schluss!

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt fütternd).

KLIENTIN (würgt, ächzt).

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt fütternd).

KLIENTIN (laut): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN (vorwurfsvoll): Sie spucken. (Füttert weiter.) Die Nase ’mal saubermachen. (Reicht ein Papiertaschentuch.)  Bitte schön. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (laut): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN (unbeirrt fütternd).

KLIENTIN (laut) Schluss!

ALTENPFLEGERIN. Frau D., jetzt ist gut. Wir essen Mittag. (Füttert unbeirrt weiter.)

KLIENTIN (unbeirrt und laut): Aufhören.

ALTENPFLEGERIN Frau D., nicht mit vollem Mund … Dann spucken Sie. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (laut). Schluss!

ALTENPFLEGERIN (unwirsch): Den Mund aufmachen! Den Teller leermachen Bitte. (Füttert weiter).

KLIENTIN (sich wehrend).

ALTENPFLEGERIN: Jetzt ist gut.

KLIENTIN (laut): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Frau D., ich mache doch gar nichts. Wir essen nur Mittag. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (stumm, voller Grimm.)

ALTENPFLEGERIN: (mit gespieltem Entgegenkommen): Ist doch gleich alle. Ist doch gleich Schluss. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (stumm, voller Grimm.)

ALTENPFLEGERIN: (füttert weiter.)

KLIENTIN (verweigert demonstrativ das Weiteressen.)

ALTENPFLEGERIN: Mund bitte auf.

KLIENTIN (laut): Weg!

ALTENPFLEGERIN: Frau D., was soll denn das!

KLIENTIN (laut): Weg! Schluss!

ALTENPFLEGERIN: (weiterfütternd): Wir sind doch keine Babies. (Nach weiterem Füttern.) Und wenn, dann benimmt
man sich doch, ’ne?

KLIENTIN (laut): Schluss!

ALTENPFLEGERIN: Frau D. !

KLIENTIN (laut): Weg!

ALTENPFLEGERIN: Hören Sie bitte auf. (Füttert weiter.) Ist gleich alle, ist gleich aufgegessen.

KLIENTIN (laut): Schluss! Schluss!

ALTENPFLEGERIN: Sind doch nur drei Happen, dann ist alles auf. Dann ist alles  aufgegessen.

KLIENTIN (protestiert, mit der Hundefraßmasse im Mund kämpfend.)

ALTENPFLEGERIN: Ist gleich aufgegessen. Und dann hören wir auf.

KLIENTIN (verzweifelt aufschreiend).

ALTENPFLEGERIN: Frau D.

KLIENTIN (laut): Weg!

ALTENPFLEGERIN: Jetzt ist bitte gut. Es ist alle. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (laut): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Na wenn Sie nicht vernünftig sind, können wir nicht aufhören.

KLIENTIN (laut): Schluss!

ALTENPFLEGERIN: Nein. Das bisschen muss noch bitte aufgegessen werden. Ist nicht mehr viel. Sie haben noch nicht viel gegessen heute.

KLIENTIN (laut): Schluss! (Trommelt aus Protest mit einem Besteckteil mehrere Male auf den Tisch.)

ALTENPFLEGERIN: Ich habe Zeit. (Füttert weiter.)

KLIENTIN (laut): Aufhören! Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Frau D., jetzt ist gut.

KLIENTIN (trommelt aus Protest mit einem Besteckteil mehrere Male auf den Tisch.)

ALTENPFLEGERIN: (füttert weiter.)

KLIENTIN (verzweifelt und laut): Schluss!

ALTENPFLEGERIN: (füttert weiter.)

KLIENTIN (verzweifelt und laut): Weg!

ALTENPFLEGERIN: (unbeirrt): So, der letzte, und dann ist Schluss. Dann haben Sie gut gegessen.

KLIENTIN (laut aufschreiend): Schluss!

ALTENPFLEGERIN: Frau D., Sie möchten bitte nicht mit vollem Mund reden.

KLIENTIN (verzweifelt): Aufhören!

ALTENPFLEGERIN: Ist doch nichts mehr da! Den Mund bitte saubermachen.

KLIENTIN (weigert sich.)

ALTENPFLEGERIN: Frau D., bitte. (Geht mit dem Geschirr in die Küche, um es  dort abzuwaschen.)

KLIENTIN (stößt lange und klagend auf.)

ALTENPFLEGERIN: (ins Wohnzimmer zurückkehrend, dann scheinbar ganz aufgeräumt, als wäre nichts
geschehen.) Kommen Sie ’mal, wir gehen auf Toilette, frische Schlüpfer anziehen. (Stille.)

ALTENPFLEGERIN: Frau D., wir gehen ’mal auf Toilette, ’nen frischen Schlüpfer anziehen.

KLIENTIN (trotzig, energisch um Würde ringend): Hier bleibe ich.

Der in der Küche stehende Topf ist noch zu Dreiviertel mit  Hundefraßmasse gefüllt, mit anderen Worten, der wehrlosen   Klientin stehen noch mindestens drei Zwangsmahlzeiten mit  diesem abscheulichen Fraß bevor. Hinter dem Rücken der Klientin marschiert indessen auch noch eine betrügerische  Ökonomie auf. Zur Sicherstellung eines noch zu erzielenden Extraprofits des Pflegedienstes kann in den Grundpflegenachweis  dann an drei aufeinanderfolgenden Tagen und fern aller gesellschaftlichen Kontrolle die fette Lüge „Mittagessen  gemeinsam zubereitet“ eingetragen werden, obwohl nur an einem einzigen Tag für die Klientin gekocht wurde.

Es ist dies ein authentisches Beispiel aus der Welt der ambulanten Altenpflege in Berlin, das sprachlos macht, sicherlich. Aber das Reden über Qualitätsverbesserung in der ambulanten Altenpflege im Großraum Berlin fängt genau bei dieser Sprachlosigkeit an. Nicht in höheren Regionen, in einer schon vorgefertigten Sprache eingeübter Einordnungsmechanik zur Selbstberuhigung. Es geht um die Würde des Menschen. An diesem hier vorgeführten Tiefpunkt pflegerischer Abgründe muss das Nachdenken über die Anerkennung der Würde des pflegebedürftigen Menschen und die Qualität der pflegerischen Arbeit ansetzen, wehrloses Nachdenken, so wehrlos wie die Menschen, die pflegebedürftig und hilflos sind, will man aufrichtig Menschenrechte sichern helfen und in diesem Sinne Veränderungen wagen. Die üblichen Beschwichtigungen mit Hinweis auf die fehlende Qualifizierung der Pflegekräfte greifen im vorliegenden Beispiel nicht: Die Pflegekraft ist fachlich bestens qualifiziert. Die üblichen Beschwichtigungen mit Hinweis auf die mangelnde finanzielle Ausstattung von ambulanter Pflege greifen im vorliegenden Beispiel nicht: Das diesbezügliche Pflegebudget wird seitens Pflegekasse und Sozialamt auf einem märchenhaft hohen Niveau von 5.500. – EURO gehalten. Es geht um Humanität, um eine Dimension jenseits von solchen Parametern wie Ausbildungsgrad oder Mittelbereitstellung, und diese Dimension ist bekanntlich invariant gegen Status, Eigentum, Herkunft oder Charakter eines Menschen, fast eine Naturkonstante. Humanität ist oder ist nicht, gleichgültig, unter welchen konkreten sozialökonomischen Bedingungen sie in Erscheinung tritt.  

Das vorgestellte Beispiel aus der Pflegepraxis dieser Stadt, und es ist nur eines von unzähligen, zeigt schlaglichtartig, wie verfehlt eine pflegepolitische Entscheidung der Verantwortlichen dieser Stadt wäre, die darauf hinausliefe, Bedarfsplanarbeit auf die politische Tagesordnung zu setzen, ohne gleichzeitig die Entwicklung einer humanitären Perspektive für alle gesellschaftlichen Lebensprozesse, die mit der Pflege und Versorgung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zusammenhängen, im Auge zu haben.

Inhaltlich intendierte Entwurfsarbeit im Sinne der Sicherstellung der universell geltenden Menschenrechte (Prognosetätigkeit 1) und ökonomische Bedarfsplanarbeit im Sinne der Sicherstellung der materiell-technischen Basis von Pflegearbeit (Prognosetätigkeit 2) sind zwei Seiten eines einheitlichen Prozesses pflegepolitischer Leitungstätigkeit.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.