Die Organisationsdebatte geht weiter

Endlich eine neue
antikapitalistische Organisation
?

von Robert Schlosser (Bochum)

7-8/11

trend
onlinezeitung

I.

Die Autoren des Diskussionsbeitrages („Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“) schreiben, dass sie zwar nicht mehr für den Barrikadenkampf zu gebrauchen sind, dafür aber jede Menge Erfahrung einbringen können. Geradezu als Dementi auf diese Erfahrung heißt es jedoch am Schluss des Diskussionsbeitrages:

„Keine Angst vor der eigenen Courage. Eigentlich muss mensch nur 2 Sachen wissen, um loszulegen: ‘Eure Ordnung ist auf Sand gebaut’ und ‘Etwas besseres als den Tod finden wir überall’.“

Aus meiner Sicht hört sich das sehr blauäugig an und ich spüre nichts von der vielen Erfahrung, auf die sich da berufen wird. Das hört sich eher so an, als wollte da jemand loslegen, der eben über eins nicht verfügt: viel Erfahrung! 

Diese Gesellschaftsordnung ist nicht auf Sand gebaut, sondern auf Privateigentum und Lohnarbeit, abgesichert durch eine allgegenwärtige Bürokratie und einen riesigen staatlichen Gewaltapparat, die sich obendrein auf demokratische Legitimation berufen können. Dieser „Sand“ ähnelt doch eher einem schwer zu knackenden Beton, an dem sich Generationen von SozialrevolutionärInnen unterschiedlichster Richtungen und Glaubensbekenntnisse, die Zähne ausgebrochen haben! 

Redaktionelle Hinweise

Wir veröffentlichten in der Märzausgabe einen Beitrag der
„Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“ zur Gründung einer antikapitalistischen Organisation. Darüber entwickelte sich eine Debatte, die durch das TREND TEACH IN seinen ersten Bilanzpunkt erfuhr. Die Statements wurden in der Juniausgabe des TREND veröffentlicht.

Es scheint so, als dass die Debatte weitergehen würde. In unserer Sommerausgabe 7-8/11 werden wir weitere Texte zu dieser Frage
publizieren.

Die "SchönebergerInnen" haben mittlerweile einen Blog eröffnet, der ebenfalls  die Debatte begleitet.

Auch heute noch verkünden revolutionäre Parolen, dass selbst in hochentwickelten kapitalistischen Ländern das Proletariat nichts zu verlieren habe als seine Ketten. Diese Fehleinschätzung wird nicht dadurch realistischer, dass man sie in den Worten des Märchens der „Bremer Stadtmusikanten“ (Etwas besseres als den Tod finden wir überall) reformuliert. Zweifellos wird dadurch aber deutlicher, dass es sich bei dieser Einschätzung um ein Märchen handelt. Die große Masse der LohnarbeiterInnen in Ländern wie Deutschland hat einiges zu verlieren und sofern sie erneut anfangen sich in größerem Umfang zusammenzurotten und zu kämpfen, geschieht dies gerade in der Absicht der Verteidigung dessen, was Staat und Kapital ihnen einst zugestanden haben und was sie ihnen jetzt nehmen wollen. Das beweisen gerade die Massenproteste in Frankreich, Griechenland und Spanien. Ein neues, zeitgemäßes Klassenbewusstsein wird sich nur in diesen Verteidigungskämpfen entwickeln lassen. Die Frage lautet nicht, wie die Autoren meinen, „Reform oder Revolution“, sondern sie lautet: Wie kann aus dem Kampf für soziale Reform eine sozialrevolutionäre Massenbewegung werden und was könnte eine antikapitalistische politische Organisation tun, um diesen Prozess zu unterstützen und zu fördern? Bei diesem Kampf um soziale Reform geht es nicht um Dinge wie die „Neugestaltung eines Jobcenter-Eingangs“ sondern um grundlegende soziale Interessen aller Lohnabhängigen, wie etwa die Länge der Lebensarbeitszeit etc. Der Kampf um soziale Reform ist Klassenkampf, sofern er um die allgemeine Durchsetzung vitaler Lebensinteressen aller Lohnabhängigen im Kapitalismus geht und sofern sich daraus eine Massenbewegung entwickelt. Wenn Sozialrevolutionären beim Kampf um soziale Reformen nichts anderes einfällt, als die „Neugestaltung von einem Job-Center-Eingang“  - von der man sich als Revolutionär abzugrenzen habe - dann stellt das aus meiner Sicht ihre für unverzichtbar erklärte „Klassenorientierung“ in Frage, demonstriert vielmehr ein grundlegendes „Missverständnis“ davon, was Klassenkampf ist und wie er sich entwickelt.

Beschäftigt man sich ein bisschen mit dem „ökonomischen Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft“ und betrachtet, wie sich das heute Geltung verschafft, dann wird im Übrigen schnell klar, dass der auf Sozialpartnerschaft basierende Sozialreformismus lange ausgespielt hat. Seit Ende der Rekonstruktionsperiode des kapitalistischen Weltmarktes, mit Eintritt der Weltwirtschaftskrise von 1974/1975, gibt es praktisch keinerlei Spielräume mehr für partnerschaftlichen Sozialreformismus, der für partielle Besserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von LohnarbeiterInnen im Kapitalismus sorgen will. Es dominiert die soziale Reaktion auf der ganzen Linie. Wer, wie die Sozialdemokratie, an dieser Partnerschaft mit dem Kapital festhält, kann deshalb nur noch die soziale Reaktion mitgestalten (was sie nach Kräften tat und weiter tun wird, sofern sie die Macht dazu hat). In einer ökonomischen Dynamik sich verschärfender Widersprüche der Kapitalverwertung und tieferer Kriseneinbrüche sind einzelne soziale Reformen nur auf dem Wege des Klassenkampfes durchzusetzen und in diesem Klassenkampf lauert die Hydra der sozialen Revolution. Eine Sache, die man aus der Geschichte lernen kann, wenn man denn will. Die Preisgabe des Sozialreformismus ist ein Angebot an die Sozialrevolutionäre, das sie annehmen sollten. 

Die 2 Sachen also, die angeblich ausreichen, „um loszulegen“ gehören aus meiner Sicht gerade zu den größten Irrtümern der zahlenmäßig doch sehr überschaubaren Zahl von SozialrevolutionärInnen in entwickelten kapitalistischen Ländern. 

II.

Für den Zusammenschluss zu einer neuen antikapitalistischen Organisation seien 5 Punkte „nicht verhandelbar“:

1.  Konzept des revolutionären Bruchs

2.  Keine Mitverwaltung der kapitalistischen Krise

3.  Klassenorientierung

4.  Einheitsfrontmethode

5.  (Eine gewisse) organisatorische Verbindlichkeit 

Was die „Einheitsfrontmethode“ anbetrifft, so werden die Autoren einigermaßen konkret. Damit kann man sich auseinandersetzen, was ich aber an dieser Stelle nicht tun will und nicht tun werde, weil das für mich ein „Nebenschauplatz“ ist.

Warum die „Mitverwaltung“ eines kapitalistischen Aufschwungs nicht ebenfalls ausgeschlossen werden soll, verstehe ich nicht. (Es sei denn, man setzt kapitalistische Verhältnisse sowieso mit Krise gleich, was heute geradezu Mode ist. Siehe dazu das Manuskript „Alles Krise oder was?“ auf meiner Homepage „Bedingungen sozialer Emanzipation“)

Zu Punkt 1 „Konzept des revolutionären Bruchs“ heißt es auch:

„Die neue Organisation wird revolutionär sein oder sie wird gar nicht sein.“

Revolutionär muss das Projekt also auf jeden Fall sein, aber welchen sozialen Inhalt der revolutionäre Bruch haben soll, welche Ziele angestrebt werden, dazu steht fast nichts geschrieben. Ist da alles verhandelbar?? Hauptsache „revolutionär“??? Ist es das, was wir aus der Geschichte von Kommunismus, Anarchismus, Sozialismus lernen können?

Es existieren auch heute noch reichlich „Konzepte des revolutionären Bruchs“, deren historische Bezugspunkte ihrem sozialen Inhalt nach nicht nur praktisch gescheitert sind, sondern obendrein - im Verlauf ihrer praktischen Umsetzung - mehr und mehr soziale Emanzipation ausschlossen und unterdrückten.

In diesem Zusammenhang ist die kurze Beschäftigung der Autoren mit dem Trotzkismus und der Frage „der Haltung zur Sowjetunion“ interessant, weil man nämlich eine „Unvereinbarkeit“ erst dann feststellt, wenn „Stalinismus“, abgesehen von Exzessen, gerechtfertigt wird. Ansonsten darf „die Haltung zur Sowjetunion“  sehr unterschiedlich ausfallen. Es geht aber durchaus nicht nur um „die Haltung zur Sowjetunion“, sondern um Kritik eines „Konzepts des revolutionären Bruchs“. Der Trotzkismus in all seinen unmöglich zu erklärenden“ Varianten hat nämlich eine Gemeinsamkeit: der uneingeschränkt positive Bezug auf die „Oktoberrevolution“, wie die nach allen Regeln der Aufstandskunst bewerkstelligte Machtergreifung durch die Bolschewiki genannt wird. (Das gilt selbstverständlich für alle MLer genau so, kennzeichnet also alle übrig gebliebenen oder neue gegründeten „bolschewistischen“ Organisationen.)

Die „Oktoberrevolution“ war die perfekte Vollendung eines „Konzeptes des revolutionären Bruchs“. Sie war Produkt der sich zuspitzenden sozialen Auseinandersetzungen, der Klassenkämpfe in Russland und sie war Produkt der „genialen“ Strategie Lenins und ihrer Umsetzung durch die bolschewistische Partei. Was sie nicht war, das kann man im Kommunistischen Manifest nachlesen:

„Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Sofern die proletarische Bewegung“ in Russland selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ war, hatte sie keine sozialistischen Ziele. Sofern sie sozialistische Ziele verfolgte, war sich nicht die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“.

Der soziale Widerspruch zwischen einer minoritären Klasse von LohnarbeiterInnen und der Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung war vorprogrammiert. Er eskalierte am Ende des Bürgerkriegs und als sich das Scheitern der NÖP abzeichnete. (Wie sich herausstellte, beruhte das viel beschworene Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern einzig auf der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den Zarismus. Es existierte kein tragfähiges, allseits akzeptiertes Programm sozialer Revolution und Neugestaltung der Gesellschaft; nicht zuletzt, weil dafür die entscheidenden Voraussetzungen fehlten.) Die von Stalin geführte bolschewistische Partei hat diesen Widerspruch auf ihre Weise gelöst: Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und Zwangsarbeit der bäuerlichen Bevölkerung, sowie Industrialisierung ebenfalls mit den Mitteln der Zwangsarbeit für die wachsende Zahl von IndustriearbeiterInnen. In ihren Anfängen war die Sowjetunion zweifellos ein „Arbeiterstaat“ , aber dass bedeutete in diesem Land nicht eine Klassenherrschaft der Mehrheit über die Minderheit. In der Stellungnahme aus Berlin-Schöneberg lese ich hingegen folgendes:

„Ein Arbeiterstaat ist noch kein Sozialismus und schon gar kein Kommunismus, sondern (wie jeder Staat) eine Form der Klassenherrschaft (nur diesmal der Mehrheit über die Minderheit statt wie bis dato umgekehrt) ...“

Diese allgemeine Formel ist durch Geschichte widerlegt.

Ein neues „Konzept des revolutionären Bruchs“ kann aus meiner Sicht überhaupt nur durch ebenso kritische wie würdigende Überwindung des Konzepts des Bolschewiki erarbeitet und zur Erfolg versprechenden Grundlage einer neuen antikapitalistischen Organisation werden. Gelingt das nicht, dann ist eine solche „neue“ Organisation, von Anfang an ein tot geborenes Kind.

Zu einem solchen neuen „Konzept des revolutionären Bruchs“ gehört nicht zuletzt ein Programm, dass eine grundlegende Kritik am Kapitalismus formuliert und praktische Ziele festlegt. Nur darin könnte sich die inhaltslos allgemein bleibende „Klassenorientierung“, die die Autoren verlangen ausdrücken. Wie ein solches Programm in Anbetracht der theoretischen Vielfalt und Beliebigkeit der linksradikalen Szene heute erstellt und diskutiert werden soll, ist mir schleierhaft.

III.

Die Autoren begrüßen es aufs Schärfste“, dass Avanti sogar von einem „neuen kommunistischen Projekt“ spricht. Zu den Inhalten/Zielen einer sozialen Revolution kommt aber erstaunlich wenig.

Buchstäblich kein Wort wird da über die Eigentumsfrage verloren, geschweige denn auch nur skizziert, was im Lichte der realsozialistischen Erfahrungen an die Stelle des kapitalistischen Eigentums treten soll. Da, wo in aktuellen sozialen Auseinandersetzungen die Eigentumsfrage konkret aufgeworfen wird, wo sie sich praktisch aufdrängt, wird sie nicht einmal erkannt. So heißt es:

„Das eher kümmerliche Klassenbewusstsein in Deutschland (auch viele Kolleginnen echauffierten sich über die faulen, ouzo-trinkenden Griechen, denen „wir“ jetzt unter die Arme greifen müssen) korrespondiert mit einem offenkundigen Desinteresse „bürgerbewegter Proteste“ an der „sozialen Frage“. Hunderttausende auf der Straße gegen ‘Stuttgart 21’ und Castor-Transporte, traurige 2000 Leute bei der Bundestags-„belagerung“ anlässlich der Verabschiedung des Sparpakets.“ 

Wenn also hunderttausende auf die Straße gehen, um Kapital und Staat die Entscheidungsmacht über die Frage, welche Energie produziert werden soll, streitig machen oder wenn sie Landesregierung und Bundesbahn die Entscheidungsmacht über eine bestimmte Investition (Stuttgart 21) streitig machen, dann hat das für die Autoren nichts mit der „sozialen Frage“ zu tun, sei „bürgerbewegter Protest“. Wenn Menschen dafür streiten und kämpfen, was produziert wird und welche Investition getätigt wird, dann sehen die Autoren darin offenbar keine sozialistische Tendenz, sondern ausschließlich „bürgerbewegten Protest“.

Was würden die Autoren sagen, wenn in irgend einem oder sogar mehreren Betrieben, die Belegschaften verlangen würden, bestimmte Investitionen zu unterlassen oder andere Produkte herzustellen, und wenn sie ihre Forderungen in Demonstrationen Nachdruck verleihen würden? Ich bin sicher, dass sie das als neuen Anfang einer kommunistischen Arbeiterbewegung feiern würden. Das die sozialistische Tendenz aber in einer demokratischen Bewegung zum Ausdruck kommt, ist sie bloß „bürgerbewegter Protest“.

Wer war da eigentlich auf der Straße, in Stuttgart gegen das Bahnhofsprojekt und anderswo gegen Castor-Transporte und AKWs? Was für „Bürger“, wenn nicht in ihrer Mehrheit Lohnabhängige? Waren das vielleicht mehrheitlich Selbständige, kleine Warenproduzenten oder gar Kapitalbesitzer? Scheinbar werden LohnarbeiterInnen hier bloß als Bürger wahrgenommen, weil sie nicht als betriebliche Delegation aufmarschieren. 

Wie kommt es dazu, dass die sozialistische Tendenz in der demokratischen Bewegung vollständig übersehen wird? Offenbar ist es der falsche Ort, an dem LohnarbeiterInnen sich einmischen in die Entscheidung, was hier produziert werden soll.

1.  Für die Autoren bleibt Der Betrieb (...) der zentrale Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: In seiner Struktur materialisiert sich die gesellschaftliche Macht des Kapitals.
Um das zu verstehen, muss Mensch nicht studiert haben: Streiks in der Automobil- oder Maschinenbauindustrie haben eine andere Wirkung als ein Flashmob bei Schlecker.“

Mir scheint, dass man unbedingt ganz lange einen bestimmten Marxismus studiert haben muss, um diese Argumentation nachvollziehen zu können. Schlecker ist demnach kein Betrieb, oder zumindest kein richtiger Betrieb. Es mangelt ihm wohl an „Arbeiterklasse“. Die findet man dagegen in der Automobilindustrie und im Maschinenbau. Den Maschinenbau in Deutschland sollten sich die Autoren aber noch einmal genauer anschauen, denn allzu oft handelt es sich hier um recht kleine mittelständische Betriebe, in denen obendrein „das Proletariat“ aus recht gut verdienenden Facharbeitern besteht. Wieso ein Streik in irgendeinem dieser mittelständischen Betriebe mit etwa 100 bis 300 LohnarbeiterInnen eine andere Wirkung haben soll, als ein Flashmob bei Schlecker, weiß ich nicht. Worin die so selbstverständlich zu erkennende große Bedeutung eines solchen Streiks liegen soll, etwa im Vergleich zum „bürgerbewegten Protest“ bei Castor-Transporten oder Stuttgart 21 (die immerhin die geballte Staatsmacht auf den Plan rufen) weiß ich auch nicht. Hier wird nicht nur ein (zu) hohes Lied auf den Betrieb oder eine bestimmte Sorte von Betrieben, gesungen, sondern auch noch eins auf den Streik als Wunderwaffe der Bedrohung des Kapitals. Der Streik ist aber alles andere als eine Wunderwaffe. (Die Anti-AKW-Bewegung musste – leider! - ganz ohne Streiks der Belegschaften in den AKWs auskommen. Sie hat vor dem Hintergrund der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima aber auch so eine ganz ordentliche gesellschaftliche Wirkung entfaltet!) Er ist nur eine Waffe und dazu noch eine, die nur auf sehr begrenzte Zeit durchzuhalten ist. Schließlich muss bei allem – meist nur bei den Revolutionären vorhandenen - revolutionären Elan in Rechnung gestellt werden, dass auch Streikende auf materielle Versorgung angewiesen sind. Demonstrieren, Gebäude besetzen etc. kann man jeden Tag, streiken nicht! Die sozialen Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital / Staat produziert viele unterschiedliche Formen und ein Streik ist nicht deshalb schon Klassenkampf, weil er im Betrieb stattfindet. Ob die sozialen Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital tatsächlich zum Klassenkampf werden, hängt weniger von den Formen ab, als von den Inhalten. Ob es also um die Interessen aller LohnarbeiterInnen geht (nicht nur die eines Betriebes oder einer Branche) und ob sich tatsächliche eine breite Bewegung der LohnarbeiterInnen zur Durchsetzung ihrer Interessen entwickelt. (Welche Formen das auch immer annehmen mag. Streiks selbstverständlich eingeschlossen.)
Der Idealisierung betrieblicher Streiks, die Betonung von Ort und Form des Kampfes, steht die Geringschätzung, Umgehung der inhaltlichen Fragen der sozialen Auseinandersetzung gegenüber. Die Autoren stellen sich in eine Arbeiterbewegungs-Tradition (deren Spektrum vom radikalen Syndikalismus bis zum Marxismus-Leninismus reicht), die gescheitert ist und keinen Neubeginn eines „kommunistischen Projektes“ zulassen wird. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital hat keinen anderen zentralen Ort, als eben die Gesellschaft als G
anzes und sie betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Solange der Betrieb als zentraler Ort dieser Auseinandersetzung angesehen wird, können die sozialen Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital sich kaum zum Klassenkampf entwickeln und schon gar nicht zu einer sozialen Revolution.
Mit ihrem Verständnis und Herangehen hätten die Autoren vermutlich den beginnenden Kampf für die Pariser Kommune und andere große, revolutionäre Massenbewegung auch nur als „
bürgerbewegten Protest“ wahrgenommen, weil die Auseinandersetzung nicht an ihrem „zentralen Ort“ ausgetragen wurde. Man könnte auch beklagen, dass der „zentrale Ort“ für den Sturz Mubaraks in Ägypten ein Platz in Kairo war und nicht irgendein großer Industriebetrieb, bzw. mehrere davon.

2.  Die ‘Traditionalisten’ müssen zunächst die schlichte Tatsache zur Kenntnisnehmen, dass sich verändernde Verwertungsbedingungen natürlich auch die ‘Arbeitswelt’ und damit Konturen, Zusammensetzung und Kampfkraft der ArbeiterInnenklasse verändern. Die Entwicklung von Klassenbewusstsein verläuft bei Leiharbeitern und Mini-Jobbern, ‘Freelancern’ und 2-Frau-‘Belegschaften’ im Einzelhandel anders (schwieriger) als im Großbetrieb mit Tarifbindung. In vielen marginalisierten Sektoren geht’s nicht um das Bewusstsein der „Klasse für sich“, sondern zunächst um die elementare (Selbst)erkenntnis der ‘Klasse an sich’.“
Als ob heute
LohnarbeiterInnen in Großbetrieben mit Tarifbindung über die „elementare (Selbst)erkenntnis der ‘Klasse an sich’“ verfügten! Die Beschäftigten in den Großbetrieben verstehen sich heute mehrheitlich gerade nicht als Teil einer Klasse von LohnarbeiterInnen, eher als LohnarbeiterInnen eines speziellen (Groß-)Betriebes mit bestimmten Privilegien und sofern sie kämpfen, kämpfen sie gerade um ihr besonderes Interesse als „Belegschaft“, dass sich fest macht an höheren Löhnen etc. Wenn sie kämpfen, dann gegen den Verlust an Zugeständnissen „ihres“ Kapitals und sie kämpfen ohne das Bewusstsein, Teil einer „Klasse an sich“ zu sein. (Bei Einführung von Hartz IV haben die Belegschaften der industriellen Großbetriebe sich u.a. deshalb nicht gerührt, weil sie hofften, das beträfe sie nicht wirklich, sie seien damit nicht als Teil der Klasse gemeint.) Aus diesen Auseinandersetzungen in solchen Großbetrieben heute Klassenbewusstsein zu entwickeln wird auch deshalb nicht leichter, weil die Belegschaften durch ständige „Restrukturierungen“ immer kleiner werden und die Fluktuation mittels Leiharbeit etc. immer größer wird.
Klassenbewusstsein ist sowieso gesellschaftliches Bewusstsein, dass gerade deshalb erst dort beginnt, wo gedanklich über den angeblich „zentralen Ort“ der Auseinandersetzung hinausgegangen wird, die Leute anfangen sich nicht als Teil eines Betriebes sondern als Teil einer sozialen Klasse zu verstehen. Diese Klasse zeichnet sich speziell nicht durch Arbeit aus, sondern durch die spezielle Form der Lohnarbeit, die Lohnarbeitslosigkeit für einen Teil der Klasse immer mit einschließt (ein Grund, weshalb ich es für angebracht halte besser von Lohnabhängigkeit der Klasse zu sprechen) . Es gibt nach wie vor arbeitende Klassen (z.B. hierzulande die kleine Schar der Bauern), die nicht lohnabhängig sind und trotzdem einen wesentlichen Beitrag zu materiellen Reproduktion der Gesellschaft leisten.
Der Blick auf den Betrieb, speziell den industriellen Großbetrieb, versperrt den Blick auf das, was Klassenbewusstsein auszeichnet. Der beabsichtigte Bruch mit dem „Traditionalismus“ - besser gesagt, mit einem bestimmten „Traditionalismus“ - bleibt im Ansatz stecken. Es reicht nicht aus, die neue Zusammensetzung der Klasse der LohnarbeiterInnen festzustellen!
Ich befürchte ferner, dass der Betrieb bei dieser Sicht der Dinge nicht nur der „zentrale Ort“ der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital sein soll, sondern dass damit auch festgeschrieben werden soll, wo im Sozialismus/Kommunismus die Entscheidungen über das „was“ der Produktion gefällt werden sollen. Hier muss jedoch die Selbstverwaltung in den Betrieben ihre Grenzen haben. Der Betrieb ist weder der „zentrale Ort“ der gesellschaftlichen Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital, noch darf er im Sozialismus/Kommunismus der „zentrale Ort“ gesellschaftlicher Produktionsentscheidungen sein. Würde der Betrieb zum zentralen Ort über das „was“ der Produktion, dann wären automatisch alle jene aus dem demokratischen Planungsprozess ausgeschlossen, die noch nicht oder nicht mehr im Produktionsbetrieb wären. (Vergl. Prokla 155 „Sozialismus?“ speziell Artikel von Demirovic „Rätedemokratie und das Ende der Politik“) Oder noch einmal unter anderem Gesichtspunkt zugespitzt formuliert: Ob Atomstrom produziert wird, darf nicht den Belegschaften von Atomkraftwerken überlassen werden!

IV.

Verschiedenes

Die Autoren wollen Widersprüche „strategisch bearbeiten“ und sichten und bewerten daher alle möglichen in Frage kommenden Kräfte in Bezug auf ihr antikapitalistisches Potential.

Klar also, dass „die Frauenfrage“ nicht fehlen darf. Erstaunlicher Weise bleiben sie in diesem Zusammenhang nicht beim allgemeinen Festhalten an einem „Konzept des revolutionären Bruchs“, sondern formulieren ein ganz konkretes Ziel sozialer Emanzipation:

„Hausarbeit gehört abgeschafft und vergesellschaftet, sprich ausgelagert und professionalisiert. Das wird im Kapitalismus nicht funktionieren, weshalb es für uns dabei bleibt: Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau, ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus.“

So sehr ich es begrüße, dass in diesem Fall mal konkret gesagt wird, was man anstrebt, sowenig kann ich mich damit anfreunden.

Was steht uns da im Ernstfall „ins Haus“?

Vermutlich werden wir Menschen auch nach einem sozialrevolutionären Umbruch in Häusern leben. Wie soll man sich das dann vorstellen, wenn die Arbeit, die so im Haus anfällt „ausgelagert und professionalisiert“ wird. Kommen dann regelmäßig Putzkolonnen in die Wohnungen und Häuser? Wird das Essen ausschließlich in großen Kantinen oder Restaurants produziert? Und was heißt da überhaupt Professionalisierung??? Wird HausarbeiterIn zu einem neuen Beruf?

Man könnte böswillig unterstellen, hier entwerfen Männer, denen daran gelegen ist auch künftig nichts mit Hausarbeit zu tun zu bekommen, ein Programm für die Befreiung der Frau. Im Übrigen ist dieses „kommunistische“ Programm – Abschaffung der Hausarbeit durch Auslagerung und Professionalisierung – für all jene Geschäftsleute und „besser verdienenden Leistungsträger“, die heute 12 und mehr Stunden für das jeweilige Unternehmen aktiv sind, sowieso Realität. Aus meiner Sicht ist das also ein bürgerliches Programm, das weder etwas mit sozialer Emanzipation der Menschen zu tun hat, die von dieser Hausarbeit befreit sind, noch für jene, die sie leisten müssen. Es funktioniert im Kapitalismus schon ganz ordentlich ohne Befreiung der Frau!

ñ     Wie immer sich das häusliche Leben verändern wird (etwa durch Wohn- und Hausgemeinschaften), die Menschen, die Wohnung und Haus bewohnen, sollten das eine wie das andere z. B. sauber halten, solange sie dazu physisch in der Lage sind; und sie sollten selbstverständlich die Zeit dazu haben (Verkürzung der Arbeit in gesellschaftlichen Industrien), diese Aufgabe gemeinschaftlich-arbeitsteilig ohne viel Stress zu bewältigen. (Dies übrigens eines der großen Felder, auf denen die hierarchische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern fallen muss, damit aus der „Befreiung der Frau“ was werden kann. Nicht die Abschaffung von Hausarbeit, sondern die Aufhebung der hierarchischen geschlechtlichen Arbeitsteilung auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ist der Schlüssel für Frauenemanzipation!)

ñ     Essenszubereitung kann eine sehr kreative und lustvolle Beschäftigung sein, die jeder Mensch lernen und ausüben sollte. Diese Kunst gehört zu den wichtigsten, grundlegenden produktiven Tätigkeiten des Menschen. Das zu erlernen gehört sozusagen zu einer polytechnischen Grundausbildung, die ihren Namen verdient! Auch im Kommunismus wird nicht jeder Mensch die Tätigkeit eines Neurochirurgen ausüben können, aber er sollte ein Essen zubereiten können, ohne gleich für die ganze Gesellschaft Essen erstellen zu müssen. Es macht Spaß für einen kleinen Kreis und einen netten Abend das Essen zu kochen.

Dies alles schließt natürlich nicht aus, dass es gut ausgestattete gesellschaftliche Einrichtungen, etwa Großküchen in Betrieben, Schulen, Krankenhäusern etc. geben muss. Aber Hausarbeit generell durch Auslagerung und Professionalisierung abschaffen zu wollen, das ist für mich ein bürgerliches Programm – sei es als ein Programm für Reiche oder ein „proletarisches“ Programm, das Verfügbarkeit von Menschenmassen für Industrien in einer ursprüngliche Kapitalakkumulation schafft - und wäre für mich Grund genug, aus einer Organisation, die das anstrebt schnell wieder auszutreten. Frauenbefreiung ist damit sowieso nicht zu bewerkstelligen. Die verlangt anderes. 

Zur „Gewerkschaftsfrage“:

Die Autoren sind bekennende Anhänger der Einheitsgewerkschaft und nennen dafür 2 Gründe:

„Erstens sind große und starke Gewerkschaften schlagkräftiger als kleine. Zweitens hat die Einheitsgewerkschaft im 'kollektiven Gedächtnis' der ArbeiterInnenklasse in Deutschland … einen besonderen Stellenwert ...“

Ich beginne mal mit dem zweiten Argument, indem auf das angeblich vorhandene „kollektive Gedächtnis der ArbeiterInnenklasse in Deutschland“ Bezug genommen wird. Die Existenz dieses Gedächtnisses würde ich rund heraus bestreiten. Die LohnarbeiterInnen bilden in Deutschland schon lange keine politisch selbständige Klasse mehr. Es gehört zu den größten Erfolgen bürgerlich-kapitalistischer Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg, dass damit eine solch „kollektives Gedächtnis“ weitgehend ausgelöscht ist. Die deutsche Sozialdemokratie im Allgemeinen und speziell ihre gewerkschaftlichen Abteilungen haben daran großen Anteil. Die Sozialdemokraten haben es in Zusammenarbeit mit christlichen Gewerkschaftern geschafft, dass die deutschen Einheitsgewerkschaften den Antikommunismus und die Ablehnung des Klassenkampfes (keine politischen Streiks zur Durchsetzung von Forderungen, in denen die Interessen aller LohnarbeiterInnen zum Ausdruck kommen) zu ihren Grundlagen machten. Der „besondere Stellenwert“, den die DGB-(Einheits-)Gewerkschaften in Deutschland haben, ist nicht bestimmt durch das „kollektive Gedächtnis der ArbeiterInnenklasse“, sondern durch die (Selbst-)Verpflichtung auf die Zusammenarbeit mit dem Kapital.

Weil das so ist, - und damit wäre ich beim ersten Argument der Autoren - , sind diese „großen und starken Gewerkschaften“ auch überhaupt nicht schlagkräftig. Sie müssen eher zittern, dass sich die Arbeitgeberverbände, ihre Sozialpartner, nicht einfach auflösen. Würden die das tun, brächen diese „großen und starken“ Einheitsgewerkschaften zusammen wie ein Kartenhaus. Die DGB-Gewerkschaften in ihrem jetzigen Zustand sind ganz und gar abhängig und verwiesen auf ihre partnerschaftlichen Anerkennung durch das Kapital. Für die überwältigende Mehrheit ihrer Mitglieder sind diese Gewerkschaften so eine Art überdimensioniertes Anwaltskollektiv, dessen Dienste man gegen eine geringe Gebühr in Anspruch nimmt. In Gewerkschaften wie der IGM beschränken sich die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Mitglieder auf Beitragszahlungen und die Wahl von Vertrauensleuten; das ist so „demokratisch“ gewollt und wird von den meisten Mitgliedern auch so widerspruchslos akzeptiert.

Die Autoren verweisen auf die „traumatische Erfahrung des Hitlerfaschismus“, der erst durch die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten und Kommunisten an die Macht kommen konnten. Glauben sie allen Ernstes, solche Einheitsgewerkschaften, wie sie im DGB heute zusammengefasst sind, hätten den Machtantritt Hitlers verhindern können?

Die größeren französischen Richtungsgewerkschaften sind zweifellos nicht viel besser als der DGB, aber sie sind längst nicht so ein Bollwerk gegen den Klassenkampf der LohnarbeiterInnen, der  – wenn er diesen Namen verdient – seinem Inhalt nach und in seinen Formen immer ein politischer Kampf ist.

Weil die Autoren bekennende Anhänger der Einheitsgewerkschaft sind, schlagen sie nicht „sowas .. wie 'RGO-Politik'“ vor. Eine RGO-Politik würde auch ich nicht vorschlagen, aber „sowas wie“ schon. „Sowas wie“ die SUD in Frankreich, würde der Entwicklung einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland ausgesprochen gut tun, nämlich dann, wenn man die Inhalte von Gewerkschaftspolitik höher bewertet, als deren einheitliche Form. Aber auch das – sowas wie SUD in Deutschland - ist nicht einfach durch strategische Sichtung von Kräfte und toleranten Umgang mit Richtungen herbei zu führen. 

V.

Abschließend:

Gäbe es eine politische Organisation, die konsequent

  • für die Rente mit 60,
  • eine Begrenzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden die Woche bei vollem Lohnausgleich,
  • eine Begrenzung von Nacht- und Schichtarbeit auf „unökonomisch“ sinnvolle und notwendige Bereiche,
  • r eine Selbstverwaltung der Sozialversicherungen durch die Versicherten, Bestreitung der Kosten durch das Kapital und Beseitigung aller privaten Sozialversicherungen, #
  • für die Anhebung des Arbeitslosengeldes I und Verlängerung der Dauer seiner Auszahlung,
  • r die Abschaffung der indirekten Steuern und drastische Erhöhung der direkten Steuern auf hohe Einkommen,
  • für unendgeldlichen öffentlichen Nahverkehr,
  • für gebührenfreies Studium,
  • für eine einheitliche Ganztagsschule bis zum 10. Schuljahr streiten würde,

um nur einiges zu nennen, wofür es sich im Kapitalismus zu streiten lohnt, dann wäre das sicher eine antikapitalistische Organisation, die aber keineswegs sozialistisch zu nennen wäre, weil sie mit all diesen Forderungen das System der Lohnarbeit (noch) nicht grundsätzlich in Frage stellt. Antikapitalistisch wäre diese Organisation allerdings, weil alle diese Forderungen und Ziele bzw. jede einzelne von ihnen,  nur im erbitterten Kampf gegen das Kapital durchgesetzt werden könnten.

Sie wäre außerdem eine Klassenorganisation von LohnarbeiterInnen, weil sie mit solchen Forderungen Ziele formulierte, die nicht nur im Gegensatz zu den Interessen des Kapitals stehen, sondern – auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft – grundlegende soziale Interessen aller LohnarbeiterInnen zum Ausdruck bringen. Sie könnte damit – indem sie für die LohnarbeiterInnen in allen gesellschaftlichen Streitfragen Partei ergreift - beitragen zu einem „Parteibildungsprozess des Proletariats“, dem einzig möglichen und realistischen nächsten Schritt, den man hierzulande tun könnte; nicht ausgehend von den aktuellen Wünschen der modernen LohnarbeiterInnen, sondern von deren objektiven Arbeits- und Lebensbedingungen, die kontinuierlich weiter nach den ökonomischen Bedürfnissen des Kapitals zugerichtet werden.

In all diesen Forderungen und Zielen kämen insofern sozialistische Tendenzen zum Ausdruck, weil sie prinzipiell soziale Ein- und Vorsicht und nicht das ökonomische Kalkül von kapitalistischer Privatwirtschaft und Staat zu ihrem Leitfaden machten.

Der Kampf um solche Forderungen und Ziele würde aber vor allem eins: er würde der immer tiefergehenden Spaltung der Klasse der LohnarbeiterInnen entgegenwirken, indem er deren Konkurrenz untereinander abschwächt und soweit aufhebt, soweit das im Kapitalismus möglich ist. Ohne eine solche tendenzielle Aufhebung der Konkurrenz unter den VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft kann man aber jede Aussicht auf soziale Revolution vergessen (und dieser Kampf ist keiner, den man auf betrieblicher Ebene führen und gewinnen kann).

Kapital und Staat arbeiten schon aus rein ökonomischen Interessen nach Kräften daran, diese Konkurrenz anzustacheln. Alle Maßnahmen zur „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ zielen darauf ab. Jedes Stück „Abbau des Sozialstaates“ bewirkt Verschärfung der Konkurrenz unter Lohnabhängigen und damit nicht nur Aussicht auf eine größere Menge unbezahlter Mehrarbeit, sondern auch Schwächung und Brechung von Widerstand und Widerstandspotential. Es reicht nicht aus zu verstehen, dass der Warencharakter der menschlichen Arbeitskraft Grundlage der kapitalistischen Mehrwertproduktion ist. Man muss auch verstehen, dass darauf die Konkurrenz unter den VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft beruht und damit die gesellschaftliche (nicht betriebliche) Macht des Kapitals. Wenn es nicht gelingt, dieser Konkurrenz schon auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu begegnen, dann wird wohl kein noch so großes Elend zu einer erfolgreichen sozialen Revolution führen. (Mindestens aber würde die Einleitung einer solchen Revolution, die das Kapitalverhältnis überwindet, immens erschwert.)

Heute ist die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern so groß wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus. Wie der Kampf um die Verteidigung zugestandener sozialer Reformen geführt wird, ob man das Feld sozialer Reformen den Reformisten überlässt, das wird darüber entscheiden, ob die Perspektive einer sozialen Revolution Gestalt annehmen kann. Dieser Kampf ist zu führen gegen das „blinde Wirken von Angebot und Nachfrage“, gegen die „Gesetze des Marktes“ (nicht nur des „Arbeitsmarktes“). Er umfasst sowohl den Widerstand gegen den ungebrochenen Privatisierungswahn, wie auch den Kampf gegen die Demontage sozialer Zugeständnisse. Keine Frage, das ist ein langer und komplizierter Weg, voller reformistischer Fußangeln und Selbstschüsse, auf den man sich da machen müsste. 

Wir sind meilenweit entfernt von einer solchen antikapitalistischen Organisation, weil die Kritik am Kapitalismus beliebig geworden ist und die versammelte antikapitalistische Linke zwar kritisiert und beklagt, dass von Kapital und Staa

  • die Lebensarbeitszeit verlängert wird
  • Nacht- und Schichtarbeit ausgedehnt, allein um des Profits willen
  • die „Lohnnebenkosten,“ für das Kapital gesenkt werden und die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen eine Farce ist
  • das Arbeitslosengeld gesenkt und die Dauer seiner Auszahlung verkürzt wurde
  • Hartz IV eingeführt wurde
  • die Besteuerung besonders der hohen Einkommen gesenkt und die indirekten Steuern erhöht und ausgebaut wurden  der öffentlich Nahverkehr verkommt und teuer ist
  • Gebühren für das Studium eingeführt wurden
  • eisern an der rigiden Auslese im 3-gliedrigen Schulsystem festgehalten wird
  • usw.

man aber nicht in der Lage ist, sich auch nur auf die wichtigsten naheliegendsten Ziele zu verständigen, die sich aus den kapitalgetriebenen Veränderungen ergeben, und kontinuierlich gemeinsam dafür zu streiten. Die theoretische Kritik am Kapitalismus ist heute genauso buntscheckig und vielfältig wie die Ziele, die die verschiedenen Grüppchen und Zirkel daraus ableiten. Alle sozialrevolutionären Richtungen, die sich im Laufe der Klassenkämpfe in der bürgerlichen Gesellschaft nach und nach herausgebildet haben, bestehen heute in nahezu gleicher Bedeutungslosigkeit nebeneinander. (Das Internet macht's möglich.)

Im Unterschied zu den Zeiten großer Erfolge und verheerender Niederlagen der „traditionellen Arbeiterbewegung“ hat sich weder eine bestimmte theoretische Richtung (mit entsprechenden Grundanschauungen und einer daraus abgeleiteten Programmatik) als Einheit stiftende Grundlage durchgesetzt, noch besteht aktuell Grund zu der Annahme, irgendeine der angebotenen Richtungen hätte das Potential einer solchen vereinigenden Kraft. Es reicht gerade immer zur Abgrenzung von anderen Richtungen und zur Legitimation der Existenz eines weiteren ohnmächtigen Grüppchens.  

Will man eine handlungsfähige politische Organisation schaffen, die sich zum Ziel setzt einen  praktisch wirksamen Beitrag zur Entwicklung von Klassenbewusstsein und Klassenkampf zu leisten, dann reicht es nicht, in jedem aufbrechenden sozialen Konflikt, die Systemfrage zu stellen. Das reicht umso weniger, wenn man sie nicht beantworten kann oder sie nur mit allgemeinen Phrasen beantwortet.

Der Versuch bloß „revolutionären Pluralismus“ zur Grundlage einer politisch wirksamen größeren Organisation zu machen, die sich vor allem durch ihre Toleranz gegenüber möglichst vielen Richtungen auszeichnet, erscheint auf den ersten Blick sehr sympathisch. Eine neue, freundliche Bewertung bestehender Differenzen dürfte aber kaum ausreichen, um eine handlungsfähige politische Organisation zu schaffen. Es gab in den letzten Jahren reichlich Anlass und Gelegenheit, sich in praktischer Gegnerschaft zu Kapital und Staat zusammen zu raufen und eine kontinuierliche Zusammenarbeit in gemeinsamer Praxis für verbindende Ziele zu entwickeln. Das ist aus meiner Sicht in all den Aktionseinheiten nicht gelungen. (Man kann in diesem Zusammenhang übrigens eine Menge lernen aus der Vorgeschichte der Grünen Partei. Die Träger dieser aus heutiger Sicht sehr erfolgreichen Parteigründung fanden sich zusammen im Jahre langen Kampf der Anti-AKW-Bewegung.)

Der Vorschlag zu einer neuen antikapitalistischen Organisation drückt denn auch nicht den Wunsch aus, eine bereits bestehende gemeinsame Praxis auf eine höhere Stufe zu heben, sondern überhaupt so etwas wie eine verbindliche, kontinuierliche und gemeinsame Praxis zu schaffen. In der gegenwärtigen Situation in Deutschland dürfte jeder Versuch, eine möglichst breite antikapitalistische Organisation zu schaffen, spätestens dann scheitern, wenn man sich daran macht, dieser Organisation ein praktisches Programm zu geben, auf dessen Grundlage und für dessen Ziele man gemeinsam agitiert. Dass die „Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“ in ihrer Stellungnahme fast alles ausklammert, was konkrete Inhalte einer solchen Programmatik betrifft, ist bezeichnend. Trotzdem und trotz aller inhaltlichen Differenzen finde ich es gut, dass die „Sozialistische Initiative“ diesen Vorstoß gewagt hat, weil er mindestens die Gelegenheit bietet innerhalb der antikapitalistischen Linken zu klärende Fragen zu benennen, zu diskutieren und vielleicht etwas mehr Klarheit über die Gründe unserer Schwäche zu schaffen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.

Wir erhielten den Text vom vom Autor für diese Ausgabe. Robert Schlosser hat eine eigene Homepage auf er regelmäßig  veröffentlicht. Dort heißt es:

"Auf dieser Seite findet Ihr Artikel und Manuskripte, die sich mit grundlegenden Fragen der Kritik der Politischen Ökonomie und sozialemanzipatorischer Praxis beschäftigen. Die meisten dieser Artikel und Manuskripte wurden in unterschiedlichen Zeitschriften oder im Internet veröffentlicht, sind aber kaum noch zugänglich. Sie entstanden in der Zeit seit Mitte der 80iger Jahre und sind nicht Ausdruck einer fertigen Position des Autors, sondern dokumentieren Entwicklungen und Lernprozesse. Widersprüche sind also nicht ausgeschlossen! Einiges ist Selbstverständigung!"