13. August - 50 Jahre Berliner Mauerbau

DDR-Flüchtlinge vor 1961 erzählen

7-8/11

trend
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Ein Unternehmer:

Ich habe nächtelang mit meiner Frau beraten. Das Ganze ist nur noch eine Frage der Zeit, sagte ich zu meiner Frau. Ich kann diesen Druck nicht mehr lange aushaken. Aber meine Frau war nicht zu bewegen, unsere harte Arbeit von 15 Jahren aufzugeben. Das Werk, das Haus, den Garten, alles woran ihr Herz hing, einfach diesen Burschen überlassen? Ich aber wollte weg. Ich war jetzt »reif«, sie hatten es geschafft, wenn auch für meine Person mit anderem Resultat. Für sie kam es auf dasselbe raus, sie würden meinen Betrieb bekommen, entweder mit mir - oder ohne mich. Ich sagte: ohne mich.

Aber nun der Junge. Mit dem wagte ich davon überhaupt nicht zu sprechen. Wenn meine Frau schon nicht mitgehen wollte in den Westen, weil sie hier noch was zu retten hoffte - der Junge ginge bestimmt aus Überzeugung nicht mit. Er war von der neuen Zeit schon infiziert. Was sollte ich tun? Allein fortgehn? Unmöglich. Meine Frau hat, so klein sie ist, eine Energie wie ein Mann. Eines Tages entschloß sie sich, doch mit mir fortzugehen, hat die Patentakten - meine sämtlichen Erfindungen - zusammengepackt und ist mit unserem neuen Wagen - ich hatte ihn drei Monate vorher für zweiundzwanzigtausend Mark gekauft - nach Berlin gefahren, hat die Akten im Westen deponiert, 12 Stunden später war sie zurück.

Bisher zu diesem Thema bei TREND erschienen:

Dann begannen wir zusammenzupacken, so als ob wir eine Reise an die Ostsee machen wollten, nach Heiligendamm. Der Junge stieg ahnungslos ins Auto. Ich ließ den Wagen in Ostberlin am Bahnhof Alexanderplatz stehen und sagte zu Rudi: wir fahren zum Reichsbahnzentralamt, ich muß ein paar Akten hinbringen, kannst du mich begleiten, Mutti kauft solange im ho ein.

Dann ist meine Frau getrennt von uns gefahren, und  nahm den Jungen - ein Riesenbengel ist das, so groß wie ich, 1,86 und stark wie ein Bär -, ich nahm ihn mit mir, ließ ihn meine Aktentasche tragen, und wir setzten uns in die S-Bahn am Alexanderplatz. Er kennt sich nicht in Berlin aus, dachte, wir fahren in die entgegengesetzte Richtung. Als er entdeckte, daß wir plötzlich im Westsektor waren, fing er an, sich schrecklich aufzuregen. Ich hab noch nichts gesagt, es war alles sehr schwierig für mich, hab gewartet, bis wir vom Bahnhof runter waren, auf der Straße, und dann zog ich ihn in ein Lokal, so eine Eckkneipe, setzte mich mit ihm hin und habe ganz ruhig gesagt: Rudi, wir fahren nicht mehr nach Hause zurück.

Ich dachte, ich kenn' meinen Jungen, aber ich hatte mich getäuscht, der fing an zu toben, wollte zurück, wollte einfach davonlaufen, nach Hause zurückfahren. Ich habe gesagt: Überleg, Rudi, was du tust, deine Eltern sind fort, das Haus wird schon beschlagnahmt sein, die Firma auch, also wohin willst du? Ich hab sehr ruhig mit ihm gesprochen. Ich ging dann mit ihm in ein kleines Hotel, wo meine Frau inzwischen eingetroffen war. Wir hatten Angst, daß Rudi in der Nacht wegläuft, er ist geblieben. Aber wir haben ihn heulen hören im Nebenzimmer, die Wände waren so dünn. Ich hatte selbst mit mir und meiner Bedrückung zu tun, aber um Rudi machte ich mir die größten Sorgen. Er revoltierte, er fand alles scheußlich, was er hier in Westberlin sah, die Kinoplakate, die Zeitungsüberschriften, voller Hohn zeigte er darauf, wenn wir über den Kurfürstendamm bummelten. Er sah alles durch eine rote Brille. Ich beobachtete ihn, von Tag zu Tag beginnen sich seine Vorstellungen langsam zu Bandeln, aber heute nacht hat er wieder geheult.

Ein Kellner:

Ich habe nicht ohne Grund erwähnt, daß ich vom Idealismus her zum Kommunismus kam. Jeder Idealist läuft Gefahr, die Wirklichkeit so zu sehen, •wie sich in ihm die Idee von der Wirklichkeit entwickelt hat. Ich habe einsehen gelernt, daß die Idee nicht mit der Wirklichkeit identisch ist, oder aber sie ist der Wirklichkeit Jahre voraus. Ich glaube, ich habe den Fehler gemacht, den alle Idealisten machen [. . .], daß ich die Wirklichkeit an der Idee gemessen habe, ohne das Stück Weg zwischen beiden zu sehen: nämlich die objektiven Schwierigkeiten und die Art und Weise, wie sie bewältigt werden können. Bezeichnend für meinen von mir verlassenen Standpunkt ist eine Eintragung in mein Tagebuch, einige Wochen bevor ich flüchtete. Damals schrieb ich: »Wenn das der Weg zum Aufbau des Sozialismus ist, dann tauge ich nur zürn Zerstören einer alten Gesellschaft und nicht zum Aufbau der Neuen.«

Heute weiß ich, daß der Mensch in einer Gemeinschaft lebt, und somit müssen Fehler des Einzelnen auch allgemein ge' seilschaftliche Ursachen haben.

In einer kapitalistischen Umwelt wäre eine idealistische Haltung, wie ich sie gepflegt hatte, verständlich. Aber ich war in einer sich zum Sozialismus hinentwickelnden Gesellschaftsordnung zum Idealisten geworden, und als Idealist zum Flüchtling.

Heute lebe ich in der Bundesrepublik und bin Kommunist. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als die Ursachen meiner Flucht zu definieren.

Ich war ein mittelmäßiger Schüler und bestand meine Abschlußprüfung in der Volksschule mit der Note 2,3. Gemessen an allen Umständen damals war das eine einigermaßen gute Note. Ich wollte zur Oberschule gehen und später studieren. Obwohl mein Vater Bergmann war, ich also Arbeitersohn war, wurde ich an der Oberschule nicht aufgenommen. Meine politische Einstellung war sowohl meinem Klassenlehrer als auch meinem Geschichtslehrer bekannt. Der eine drückte sich in der Abschlußbeurteilung so aus: »Harald ist ein besonders guter Erzähler.« Daraus konnte verständlicherweise keine übergeordnete Institution revolutionäre Leidenschaft entschlüsseln. Diesem Lehrer ist das zu verzeihen, er war damals schon ein alter Mann und kein Kommunist. Unser Geschichtslehrer aber war Mitglied der Partei, und er gab mir in Geschichte sogar eine Eins, als ich mit Überzeugung die Lebensdaten von Ernst Thälmann wie aus dem Maschinengewehr feuerte. Auch er kannte also meine gesellschaftliche Einstellung. [. . .]

Ich mußte einen Beruf lernen. Ich bin Jahrgang 40, ein starker Jahrgang für die damalige Zeit; die Lehrstellen waren knapp. Offengestanden konnte ich mir bei meinem Idealismus auch nicht vorstellen, einen praktischen Beruf zu erlernen oder richtiger gesagt, mich für einen entscheiden. Zunächst hat es mich tief erschüttert, als mich mein Vater vor d'e Wahl stellte, Bäcker oder Kellner zu werden. Und dann Wn ich Kellner geworden, mit einem Widerwillen, den sich kaum jemand vorstellen kann. Ich habe diesen Beruf vom ersten Tag an gehaßt und hasse ihn heute noch ebenso, obwohl ich ihn inzwischen 15 Jahre ausübe. Servieren und Gedichte an Thälmann schreiben, da brach einfach die Welt eines kleinen Idealisten zusammen. Aber selbst da wäre noch etwas zu retten gewesen, obwohl ich aufhörte, Gedichte zu schreiben und auch nicht mehr las.

Aber leider hat sich* auch während dieser drei Jahre Kellnerlehre keine der zuständigen Stellen um mich gekümmert. Ich war noch nicht einmal in der Gewerkschaft organisiert, ganz zu schweigen von der Partei oder der fdj. Ich betätigte mich weder sportlich noch kulturell. Und obendrein hatte ich einen Ausbilder, der seine Serviermeisterprüfung im Dritten Reich gemacht hatte und der alles andere als ein Sozialist war; er brachte mir in drei Jahren nichts als Demütigungen bei und scheußlichen Untertanengeist. [...]

Nachdem ich ausgelernt hatte, versuchte ich noch einmal, die Laufbahn zu ändern und über die Hotelfachschule zu einem ökonomischen Studium zu kommen. Hier sah ich zum ersten Mal offizielle Vertreter, nämlich der Konsumgenossenschaft, die sich jetzt um mich kümmerten, aber nur um mich als Bedingung für den Besuch der Hotelfachschule vorher freiwillig für die Volksarmee zu werben. Aber dies kam für mich zu plötzlich und nach den drei Jahren angehäufter Enttäuschung, die hinter mir lagen, habe ich nein gesagt. Ein halbes Jahr später bin ich geflüchtet.

Das ist Verrat gewesen. Dieses Wort »Verrat« ist mein Leitmotiv, solange ich hier im Westen lebe, und es ist auch das Wort, das mich selbst heute politisch doppelt verpflichtet. Als Revolutionär habe ich ein Land verlassen, das unter schwersten Bedingungen den Weg zum Sozialismus ging und jede arbeitende Hand und jeden denkenden Arbeiter, jeden klassenbewußten Arbeiter, notwendig brauchte. Die moralische Seite dieser Flucht möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Mein Vater ist Bergmann, eine harte Arbeit. Tausende Bergleute, wie jeder arbeitende Mensen» haben letztlich mit ihrer Arbeit mir als Kind und Heranwachsendem, also im Stadium der Unproduktivität, indie Arbeit noch nicht wertschöpfend ist, alle Grundlagen für die Ausbildung wie für das Leben allgemein mit ihrer Arbeit bezahlt. Ich könnte sagen, ich bin mit dem Sparbuch meines Vaters geflüchtet, auf das er 19 Jahre lang seine Ersparnisse angelegt hat.

Editorische Hinweise

Die Texte wurden entnommen aus: Hans Magnus Enzensberger u.a., Klassenbuch 3, Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1920-1971, Neuwied 1972, S. 192-197,

Die Textauswahl stammt von Karl Müller.

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