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Die Grenze bürgerlicher Emanzipationsbewegungen und der Beginn eines sozialistischen Projekts
Streitgespräche auf der Suche nach dem Übergang

Es diskutierten: Andrea, Athanasius, Christian, Jochen, Ulrich, Willi G., Willi H
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1. Ein Grund dafür, daß Menschen die herrschenden kapitalistischen Verhältnissen und Institutionen ablehnen, ist die verbreitete Befürchtung, daß durch die kapitalistische Form der Gesellschaft die bisherigen zivilisatorischen Leistungen der bürgerlichen Epoche selbst zerstört werden. Das hieße, bei Beibehaltung der bürgerlich-kapitalistischen Form des Lebens und Produzierens würden auch die geschaffenen, aber durch die gesellschaftlichen Verhältnisse nur begrenzt nutzbaren Möglichkeiten zur Entfaltung der Individualität in Mittel der Barbarei verkehrt bzw. wieder vernichtet. Vernichtet würden damit auch unverzichtbare materielle und kulturelle Voraussetzungen einer möglichen allgemeinmenschlichen Emanzipation durch Aufhebung kapitalistischer Strukturen. Die meisten Ostdeutschen schätzen inzwischen auch die bundesdeutschen Grundstrukturen als nicht mehr zukunftsfähig ein, so wie vor einem Jahrzehnt die DDR-Verhältnisse. Warum aber, so fragen wir uns verwundert, entsteht auf dieser Basis keine bemerkenswerte linke oppositionelle Bewegung?

2. Ich versuche eine Antwort: Die meisten kapitalismuskritischen Menschen gehen davon aus, daß ein grundsätzlicher Wechsel der gesellschaftlichen Strukturen nur möglich ist, wenn ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Deren zumindest absehbare Existenz sehen sie auch als Bedingung für eigenes, erfolgversprechendes politisches Engagement an. Genau diese Voraussetzungen sind jedoch nicht in Sicht. Worum geht es?
a) Zunächst werden nach dem Zusammenbruch des real-"sozialistischen" Modells überzeugende Vorstellungen von positiven Alternativen zu den kapitalistischen Strukturen, die wie einst der Marxismus-Leninismus eine starke Anziehungskraft ausüben könnten, vermißt. Es gibt tatsächlich keine konkreten Antwort auf die Fragen, wovon und wie denn die Leute morgen leben könnten und was sie geistig verbände, wenn sich die Gesellschaft anders als kapitalistisch organisierte. Vor einem freiwilligen Schritt aus den zwar nicht für zukunftsfähig gehaltenen, aber eben doch gewohnten Strukturen ins unbekannte Nichtkapitalistische schrecken die meisten Menschen zurück. Dies gilt mindestens solange, wie sie wenigstens kurzfristig die eigenen Existenz materiell für einigermaßen abgesichert halten. Also, ohne glaubhafte Vorstellung hinsichtlich einer lebbaren Alternative zum Bestehenden, ohne eine zündende Ideologie gibt es nach dieser Erwartungshaltung kein massenhaftes praktisch-antikapitalistisches Engagement.
b) Weiter wird von vielen Menschen, die sich für antikapitalistisch halten, eine Organisation vermißt, der zugetraut wird, überhaupt die notwendige Macht entwickeln zu können, den derzeitigen Strukturen Paroli zu bieten und eine neue nichtkapitalistische Gesellschaft zu begründen. Gehofft wird auf entsprechende Führungen, an deren guten Willen und Durchsetzungsfähigkeit mensch glauben könnte und in deren Dienst er oder sie sich zum angenommenen gemeinschaftlichen Zweck dann auch stellen würde.

3.Hier kommt eine geschichtlich fest verwurzelte Mentalität zum Ausdruck;: Das Herr-Knecht-Verhältnis grundsätzlich akzeptierend strebt mensch nach dem angeblich guten Herren. Das können Parteien, Parlamente, Diktatoren, Staatsapparate sein. So geprägte Menschen schreiten allenfalls zu Revolten zwecks Vertreiben eines nicht mehr tragbaren Herren. Dies allerdings auch nur, wenn eine bessere Herrschaft in Aussicht zu sein scheint. Resultat der nicht erfüllten Erwartungen an entsprechende Bilder vom guten neuen Leben, an "sozialistische" Organisationen und Führungen: Obwohl nicht mehr für zukunftsfähig gehalten, richtet mensch sich in der gegebenen Realität ein. Das praktische Engagement zahlreicher kapitalismuskritischer Menschen bleibt aus.3. Einwand: Hier wird angenommen, daß einer wirklich revolutionären Bewegung ein greifbares Bild ihres Ziels vorgegeben sein und eine entsprechende Führung vorangehen muß. Ich meine, eine solche Sicht ist selbst Ausdruck eines alten aufklärerischen Missionarismus. Dieser kann überhaupt nicht aus der bürgerlich-kapitalistischen Welt herausführen, weil er selbst ein bürgerliches Projekt ist. Geht es nicht vielmehr um die freiheitlichen, emanzipatorischen Formen eines gemeinsamen Suchens nach Alternativen? Überhaupt, es sind doch nicht irgendwelche faßbaren Visionen einer neuen Welt, die einen sozialistischen Charakter haben können, Bilder, die mensch aus religiösen Verheißungen oder Arbeiterliedern kennt. "Wenn die letzte Schlacht geschlagen ... munter dann die Sicheln rauschen durch das Erntefeld, Arbeit, Brot ..." und so weiter. So wurde das vom Proletariat angeblich zu erkämpfende Himmelreich besungen. Das waren Entwürfe einer erhofften Gesellschaft, in der die Gebrechen des Kapitalismus als aufgehoben geglaubt wurden. Bei genauem Hinsehen zeigt sich aber und die real-"sozialistische" Versuch zur Verwirklichung dieses Traumes bewies es: Die bürgerlich-kapitalistische Produktions- und Lebensweise ist mit solchen Denkweisen und entsprechenden Bewegungsstrukturen nicht aufhebbar. Wir sind uns auch einig, daß es falsch war, die realen Verhältnisse des Ostens als sozialistisch zu definieren und das Erringen der entsprechenden gesellschaftlichen Grundstrukturen (etwa Staatseigentum, sog. Diktatur des Proletariats, angeblich sozialistische Warenproduktion, sozialistisches Arbeitsethos usw.) als einen Weg aller Völker in die sozialistische Zukunft anzusehen. Es gab zwar über Generationen hinweg geschichtsmächtige Versuche mittels des Hineintragens angeblich gewußter Perspektiven, entsprechender Theorien (besser Ideologien bzw. Mythologien) in die Massen, starke soziale Bewegungen zu befördern. Das hat, wenn auch in z.T. barbarischer Weise und nur partiell, bedeutsame zivilisatorische Fortschritte gebracht. Das ändert aber nichts daran, daß die großen europäischen sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf einem Modell beruhten, mittels dessen der Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nicht verlassen werden konnte. Marx’ Thesen über Feuerbach, in dieser Interpretation vom Marxismus-Leninismus "tapfer" ignoriert, brachten das bereits auf den Begriff. Dieses Modell, nach dem sich auch die sozialen Bewegungen selbst in zwei Teile spalten, von denen sich der eine über den anderen erhebt, hatte gerade in der reformistischen wie in der kommunistischen der Arbeiterbewegung großen Einfluß. Das ändert nichts an der Charakteristik dieser sozialen Bewegungsform als bürgerlich. Das sagt – hier kann sowohl mit als auch gegen Marx argumentiert werden – eher etwas aus über die aus den Existenzbedingungen der Arbeiterklasse notwendig resultierende Begrenztheit ihrer Kämpfe auf die bürgerliche Epoche und eben auf bürgerliche soziale Bewegungsformen. Es wird höchste Zeit zu verstehen: Sozialistisch können nur nicht-herrschaftsförmige Formen eines gemeinsamen praktischen und theoretischen Suchens nach lebensfähigen Alternativen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sein. Ein den Bewegungen vorgegebenes strategisches Konzept, erarbeitet von wem und in welcher Qualität auch immer, verweist dagegen unvermeidlich auf ein bürgerliches Projekt. Und genau dies hat sich als Zukunftsprojekt erledigt. Ein solches Projekt lockt – zumindest, wenn es tatsächlich um Befreiung, um Emanzipation geht – auch Gott sei Dank keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor.

Dies ist ein Leseauszug aus dem Journal Nr.5 der Reihe Theorie im Club. Den kompletten Text zum Weiterlesen gibt es ab 5.7.1999 bei: Demokratischer Presseclub.

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