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Quelle:  de.soc.politik.texte

Bemerkungen zum Begriff »Klasse«

von Richard Gunn

(in: Common Sense, Nr. 2, 1987)

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1. Fuer den Marxismus ist es sehr viel einfacher zu sagen, was die Klasse nicht ist, als was sie ist. Eine Klasse ist keine Gruppe von Individuen, die durch eine gemeinsame Eigenschaft charakterisiert sind (ihr Einkommensniveau oder ihr Lebensstil, ihre »Einkommensquelle« , ihr Verhaeltnis zu den Produktionsmitteln usw.). Zum Beispiel laesst sich das Proletariat nicht als eine Gruppe »gegenueber dem Kapital« definieren . Die Klasse ist auch kein strukturell oder relational bestimmter »Platz« (oder eine »Position«) in der gesellschaftlichen Landschaft (ein Platz, den Individuen »einnehmen« koennen oder auf den sie, als Individuen, »interpoliert« werden koennen, usw.). Der Unterschied zwischen »empiristischem« und »strukturalistischem« Marxismus, die beide auf ihre Weise Klassen als Gruppen von Individuen und als »Plaetze« behandeln, ist in dieser Hinsicht unwichtig. Der Einfachheit halber werde ich Betrachtungsweisen, die Klassen entweder als Gruppen oder als Plaetze behandeln, als »soziologischen« Klassenbegriff bezeichnen.

2. Der Marxismus betrachtet die Klasse in gleicher Weise wie das Kapital selber als ein gesellschaftliches Verhaeltnis. Was ein Verhaeltnis ist, kann aber keine Gruppe sein, auch keine durch ihr Verhaeltnis zu anderen bestimmte Gruppe. Ebensowenig kann es eine Position oder ein Platz (ein relational bestimmter Platz) sein, wodurch sich eine Gruppe konstituieren oder verorten liesse. Wenn wir solche Auffassungen beiseite lassen, koennen wir festhalten, dass Klasse das Verhaeltnis selbst ist (z.B. das KapitalArbeitVerhaeltnis [capitallabour relation]), und noch genauer, ein Kampfverhaeltnis. Die Ausdruecke »Klasse« und »Klassenverhaeltnis« sind austauschbar, »eine« Klasse ist ein Klassenverhaeltnis irgendeiner historisch besonderen Art.

3. Klasssenverhaeltnisse sind Produktionsverhaeltnisse, aber es ist nicht leicht, diese scheinbar einfache Feststellung richtig zu verstehen. Nach Marx   und im Gegensatz zu dem »Marx« des deterministischen Vorworts von 1859  sind Produktionsverhaeltnisse nicht eine Unterart oder Untergruppe der gesellschaftlichen Verhaeltnisse (z.B. die Untergruppe der »oekonomischen« Verhaeltnisse), sondern sie sind vielmehr die gesellschaftlichen Verhaeltnisse als solche und als ein Ganzes. »Die Produktionsverhaeltnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhaeltnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe.« Wenn dies so ist, koennte man versucht sein, die Klassenverhaeltnisse als eine Unterart der Produktionsverhaeltnisse aufzufassen. Ich schlage hingegen vor, dass die Klassenverhaeltnisse die gesellschaftlichen Ver haeltnisse sind (also die Totalitaet der gesellschaftlichen Ver haeltnisse), begriffen als Produktionsverhaeltnisse: worum es im Klassen kampf geht, ist die Macht  wobei hier »Macht« in etwa so wie bei Foucault verstanden wird , die dem gesellschaftlichen Produktionsprozess eingeschrieben ist. Fuer diesen Kampf ist jeder Aspekt der gesellschaftlichen Existenz eines jeden Individuums bedeutsam, ist in ihn eingebunden und ist von seinen Resultaten betroffen. Wie spaeter noch klarer werden wird, betont der Klassenbegriff die Auffassung von der Gesellschaft als einer Totalitaet.

4. Ebenso betont er die Auffassung von Gesellschaft als einer vermit telten Aeusserung von Handeln und Kampf. Klassen treten nicht als gesellschaftlich (oder strukturell) vorgegebene Groessen in den Kampf ein. Wenn wir an der Auffassung von Klassenverhaeltnissen als Kampfver haeltnissen festhalten, muessen wir vielmehr den Klassenkampf als die grundlegende Voraussetzung von Klasse denken. Oder besser: der Klassen kampf ist die Klasse selbst. (So fuehrt Marx selber die »Klasse« in den einleitenden Saetzen des Kommunistischen Manifests ein: wir erfahren zuerst von aller Geschichte als der Geschichte des Klassenkampfs und erst danach von den besonderen Klassenverhaeltnissen »Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer« usw. Die Reihenfolge ist hier entscheidend.) Wenn Marx betont, dass es wesentlich zur Klasse gehoert, dass sie »fuer sich selbst« existiert , dann geht es ihm darum, dass der »Klassenkampf« zum Wesen der »Klasse« gehoert. Die Vorrangigkeit des Klassenkampfs in der Definition der Klasse entspricht der Vorrangigkeit, die Marx staendig den aktiven gegenueber den passiven (institutionellen oder strukturellen) Kategorien zukommen laesst: zum Beispiel ist das Privateigentum die »Konsequenz« der entfremdeten Arbeit, nicht umgekehrt. Diese Vorrangig keit des Klassenkampfs ist die Marxsche Version der These von Hegel, dass eine gesellschaftliche Welt »kein totes Wesen, sondern wirklich und lebendig ist«.

5. Das Begreifen der Klasse als ein Verhaeltnis (ein Kampfverhaeltnis) bezeichne ich als »marxistischen« Klassenbegriff, wobei es um mehr geht als um blosse terminologische Bequemlichkeit. Der von mir als soziolo gisch bezeichnete Klassenbegriff steht immer wieder vor dem Problem, dass sich nicht alle Individuen der buergerlichen Gesellschaft sauber auf zwei Gruppen aufteilen lassen, die als »Kapitalisten« und »Proletarier« bezeichnet werden. Diese Verlegenheit resultiert daraus, dass Klassen als Gruppen oder Plaetze begriffen werden. Um ihr zu entkommen, muss der soziologische Marxismus auf Kategorien wie »Mittelklasse«, »Mittel schicht« usw. zurueckgreifen: solche Kategorien sind Rest oder Schubladenkategorien, kurzgesagt, es sind theoretische Hirngespinste eines duerftigen begrifflichen Schemas. Fuer den marxistischen Klassenbegriff bestehen solche Schwierigkeiten nicht: fuer ihn ist es das Klas senverhaeltnis (also das KapitalArbeitVerhaeltnis), das das Leben von verschiedenen Individuen in verschiedener Weise strukturiert. Damit ist es moeglich, dass die Teilungslinie zwischen den Klassen nicht nur zwischen den jeweiligen Individuen verlaeuft, sondern auch durch sie hindurch. Dieser Gegensatz zwischen dem soziologischen und dem marxisti schen Klassenbegriff laesst sich grob mit der nebenstehenden Abbildung veranschaulichen. Diese Abbildung ist nicht zuletzt deshalb grob, weil die Verschiedenartigkeit, in der das KapitalArbeitVerhaeltnis das Leben der Individuen in der buergerlichen Gesellschaft strukturiert ebenso qualitativ wie quantitativ ist: ein raeumliches Diagramm kann nur »undialektisch« sein, da es nicht nur von qualitativen Unterschieden abstrahiert, sondern auch von der »reinen Unruhe des Lebens«  der Unru he des Kampfes , die das Klassenverhaeltnis stets charakterisiert. [... unwichtige Anmerkung zu raeumlichen Diagrammen ...]

[Das Diagramm war mittels HTML nicht darstellbar - der Web-Säzzer]

6. Welche qualitativen Formen kann die Strukturierung unseres Lebens durch das KapitalArbeitVerhaeltnis (ich wiederhole: ein Verhaeltnis des staendigen Kampfes) annehmen? Marx betont vor allem das Verhaeltnis EnteignungAneignung. Andere Formen sind EinschlussAusschluss (Foucault), IdentitaetNichtidentitaet und UniversalitaetBesonderheit (Adorno), ErhaltenVerausgaben und HomogenitaetHeterogenitaet (Bataille) sowie VereinnahmungVerweigerung (Tronti, Marcuse): die Liste ist phaenomenologisch reich und ohne Ende. Indem die Klasse zugleich Praxis und Prozess ist, ist sie sowohl die Strukturierung unsere Lebens durch den Kampf, wie die Strukturierung dieses Kampfes durch die Muster [pattern], die bisher gegen unser Leben  im Kampf   durchgesetzt worden sind. In diesem Sinne ist eine voellig unvermittelte Spontaneitaet ein in sich widerspruechlicher Ausdruck, auch wenn der Klassenkampf (aufgrund der Vorrangigkeit der Aktion vor der Struktur)  immer »spontan« ist. Vom Klassenkampf werden  im Kampf  die Vermitt lungen auf die Tagesordnung gestellt, die diesem Kampf seine charak teristische Form oder charakteristischen Formen geben.

7. Ein Unterschied zwischen der marxistischen und der soziologischen Sichtweise, wie sie in Punkt 5 dargestellt wurden, besteht darin, dass der »reine« Arbeiter, der sich am aeussersten linken Rand des Schaubilds befindet und dessen gesellschaftliches Sein vollstaendig unter die Rubrik »Arbeit« faellt, der also (im Unterschied zu allen dazwischenliegenden Figuren) in keiner Weise in und gegenueber sich selbst gespalten ist, in der marxistischen Betrachtungsweise in keiner Weise methodologisch privilegiert ist. Ebensowenig ist es der »reine« Kapitalist. Beide sind vielmehr nur Grenzfaelle und bilden als solche zusammengewuerfelt mit anderen eine vielfaeltig strukturierte Menge. Die soziologische Betrach tungsweise behandelt hingegen den »reinen« Arbeiter und den »reinen« Kapitalisten als methodologische Grundpfeiler, zwischen denen das Netz der Zwischenklassen aufgespannt wird.

8. Dieser Unterschied ist wichtig, denn Marx zufolge gibt es keinen »reinen« Arbeiter. Das hat nichts mit einem relativen zahlenmaessigen Rueckgang der »traditionellen Arbeiterklasse« (wie immer diese theore tisch suspekte Gruppe definiert werden mag) zu tun. Im Gegenteil, es liegt daran, dass das Lohnverhaeltnis selbst eine buergerliche und mysti fizierende Form ist : wer auch immer unter ihm lebt   auch und vor allem der vollbeschaeftigte Produzent von Mehrwert , dessen Leben ist in sich und gegen sich selbst gespalten. Wir koennten sagen, sein oder ihr Fuss steckt in der Ausbeutung, waehrend sein oder ihr Kopf die Luft der buergerlichen ideologischen Wolken atmet (was ihn dazu verleitet, Aus beutung nicht als Mehrwert zu denken, sondern als »niedrige Loehne«, d.h. in mystifizierter Form). Dementsprechend verlaeuft die Trennungslinie des Klassenkampfs nicht neben den Individuen, von denen der Mehrwert produziert wird, sondern durch sie hindurch (wie z.B. bei der zweiten Figur von links in dem Schaubild). Auch hier gibt es kein Problem fuer den marxistischen Klassenbegriff, zu verstehen, wie das KapitalArbeit Verhaeltnis in spezifischen Formen das Leben der Einzelnen an tagonistisch und zu sich selbst antagonistisch strukturiert. Der soziologische Klassenbegriff wuerde hingegen mit der Nichtexistenz eines voellig reinen Proletariats einen notwendigen methodologischen Stuetzpfeiler verlieren und muesste aufgegeben werden.

9. Eine weitere offensichtliche Differenz zwischen den beiden Schemata besteht darin, dass im marxistische Schema nur ein einziges Klassen verhaeltnis (das KapitalArbeitVerhaeltnis) fuer diese Gesellschaft exi stiert, waehrend es fuer das soziologische Schema soviele Verhaeltnisse wie moegliche Kombinationen von gesellschaftlichen Plaetzen oder Gruppen gibt. Die »Soziologen« beschuldigen daher die »Marxisten« des Reduktionismus. In Wirklichkeit waere der Vorwurf des Reduktionismus den Soziologen gegenueber angebracht. Denn sie wollen jedem Individuum eindeutig und ohne Ausnahme einen der spezifizierten Gruppen oder Plaetze zuweisen: in dem Bild der Soziologen darf es keine Individuen mit sich ueberschneidenden Zuordnungen [crosscategorial] geben. Mit einem Wild wuchs von Begriffen wie Mittelklassen, Mittelschicht, neues Kleinbuer gertum usw. wollen die Soziologen Schubladen aufmachen, in die sich jedes Individuum eindeutig einordnen laesst. Theoretisch wird damit gerade verdeckt, wie die Individuen in sich und gegen sich selbst klassenmae ssig aufgespalten sind  auf welche zahlreichen und komplizierten Weisen die geologische Bruchlinien des Klassenkampfs nicht nur zwischen den Individuen, sondern durch sie hindurch verlaufen. Das »Schubladenden ken« des undialektischen Verstandes leugnet damit auch die Erfahrung und die Praxis des Kampfes selber. Der marxistische Klassenbegriff vermeidet einen solchen Reduktionismus und bringt theoretisch wie phaenome nologisch den ganzen Erfahrungsreichtum des (in sich selbst) wider spruechlichen Lebens zur Geltung. Der banale Vorwurf, der Marxismus wuerde die lebendige Erfahrung der individuellen Subjektivitaet auf ein Spiel unpersoenlicher und rein objektiver »Klassenkraefte« reduzieren, geht am Begriff »Klasse« in seinem authentisch marxistischen Sinn voellig vorbei.

10. Damit haengt zusammen, dass der marxistische Begriff im Unterschied zum soziologischen Klasse nicht als Traegerschaft dieser oder jener sozialen Rolle interpretiert. Seit seinem fruehen Essay »Zur Judenfrage« geisselte Marx jede Gesellschaft als entfremdet und unfrei, in der die Menschen an Rollendefinitionen (oder eine »gesellschaftliche Teilung der Arbeit«) gebunden sind. Die marxistische Betrachtungsweise ist weit davon entfernt, Rollendefinitionen als ein methodologisches Prinzip zu uebernehmen. Sie stellt das Individuum als die Seite eines Kampfes dar, seines oder ihres eigenen Kampfes, womit nicht nur die (rollenhaften und gesellschaftlich homogenen) »universellen«, sondern auch die (einzigartigen und gesellschaftlich heterogenen) »besonderen« Dimensionen der Individualitaet in die politische und theoretische Waagschale geworfen werden. Fuer Marx sind Rollendefinitionen wie »proletarisch« oder »buergerlich« weder in der Theorie noch in der Praxis eine Loesung des Problems. Im Gegenteil, sie gehoeren zu den Problemen, die vom marxistischen Begriff der »Klasse« geloest werden sollen.

11. Wie koennte eine solche Loesung aussehen? Hier kann nur ein ganz kurzer Hinweise gegeben werden. Gesellschaftliche Rollen sind Ver mittlungen des Klassenkampfs, d.h. sie sind Existenzweisen des Klas senkampfs : vermittelt durch Rollen existiert der Klassenkampf auf eine Weise, in der er zugleich geleugnet wird. Denn jede Rollendefinition  was auch immer ihr Charakter oder Inhalt sein mag  abstrahiert vom Klassen verhaeltnis und dem Kampf, durch den dieses Klassenverhaeltnis existiert. Selbst Rollendefinitionen wie »buergerlich« und »proleta risch« oder »Kapitalist« und »Arbeiter« machen diese Abstraktion insoweit mit, wie sie die »marxistische« Betrachtungsweise durch eine »soziologische« ersetzen. In diesem Sinne existiert in der kapitalisti schen Gesellschaft tatsaechlich etwas wie Klasse in ihrer soziologischen Bedeutung, aber nur als »Erscheinungsform«, als ein Aspekt des Fetischismus, gegen den sich der Marxismus richtet. So wie die Vul gaeroekonomie nimmt der soziologische Marxismus die Erscheinungsformen fuer bare Muenze und bemueht sich darum, die existierende Ordnung der Dinge zu rechtfertigen.

12. Es ist daher nicht ueberraschend, dass es wie beim Klassenbegriff auch auf politischem Gebiet Differenzen zwischen der marxistischen und der soziologischen Auffassung gibt. Die soziologische Betrachtungsweise wirbt fuer eine Politik der Buendnisse zwischen Klassen und Klassenfraktionen (bzw. zwischen deren Vertretern, bei denen es sich um mehr oder weniger hierarchische Organisationen handelt, denn ohne Hierarchie und autoritaere Fuehrung macht der Ausdruck »Buendnis« wenig Sinn): ausserdem schreibt sie der »reinen« Arbeiterklasse eine privilegierte  eine fuehrende oder hegemoniale  politische Rolle zu. Fuer die marxistische Betrachtungsweise taucht die Frage solcher Buendnisse nicht auf. Die »reine« Arbeiterklasse (z.B. die Beschaeftigten gegenueber den Unbeschaeftigten, die »direkten« gegenueber den »indirekten« Mehrwertproduzenten, das Proletariat gegen ueber dem Lumpenproletariat, diejenigen, deren Arbeit Wert produziert, gegenueber denjenigen, deren Arbeit es nicht tut) hat in der marxistischen Sichtweise politisch genauso wenig eine privilegierte Stellung wie me thodologisch. Es gibt auch nicht das Problem, »aufsteigenden« Klassen gegenueber »untergehenden« ein Monopol auf revolutionaere Absichten oder Macht zuzuschreiben: solche Charakterisierungen machen nur Sinn, wenn Klassen als Plaetze oder Gruppen betrachtet werden. Damit wird dann auch die gesamte Vorstellung einer Avantgardepartei (zusammen mit ihren abge schwaechten Varianten) ad acta gelegt, da die Unterscheidung zwischen »fortschrittlichen« und »rueckschrittlichen« Klassenelementen sich ohne den soziologischen Klassenbegriff nicht mehr halten laesst. Zusammengefasst: was traditionellerweise als »marxistische« Politik galt, ist in Wirklichkeit soziologisch. Authentische marxistische Politik laeuft auf eine anarchistische Form von Politik hinaus.

13. Natuerlich lassen sich die Formen einer solchen Politik nicht im voraus bestimmen. Wenn Klassen keine Gruppen oder Plaetze, sondern Kampfverhaeltnisse sind, dann muss der revolutionaere Konflikt, der die Form eines Konflikts zwischen Gruppen annimmt (was er aber immer nur unvollstaendig und nicht in reiner Form tut), als das Resultat des Klassenkampfes selber verstanden werden. Er kann nicht in soziologischer Weise z.B. als die  endlich geglueckte  Entwicklung vorgegebener Klassen zu ihrer genauso vorgegebenen theoretischen und praktischen »Wahrheit« verstanden werden. Dem Individuum stellt sich nicht die Frage, auf wessen Seite, sondern auf welcher Seite (welcher Seite des Klassen verhaeltnisses) er oder sie steht; und auch diese Frage ist nicht im Sinne einer Wahl zwischen gesellschaftlich vorgegebenen Plaetzen oder Rollen zu verstehen. Der Klassenkampf ist von Natur aus nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unvorhersehbar und »ueberraschend«. Der marxistische Klassenbegriff betont in aller Schaerfe die Wahl [choice, Wahl im Sinne der Entscheidung zwischen Alternativen], vor die uns der Klassenkampf stellt. Damit weist er die Berufung auf irgendeine Rolle, einen Platz oder eine Gruppe zurueck, zu der oder dem wir (der Soziologie zufolge) bereits gehoeren, bevor wir uns fuer ein bestimmtes Handeln entschieden haben. Dies folgt nicht zuletzt daraus, dass er uns als von der Macht eines Klassenkampfs zerrissen betrachtet, an dem wir in einer Klassengesellschaft immer schon bewusst oder unbewusst beteiligt sind.

14. Wir kommen jetzt zum letzten Bereich, in dem sich Unterschiede zwischen dem marxistischen und dem soziologischen Klassenbegriff auftun. Immer wenn der soziologische Ansatz sich auf den Marxismus zu beziehen versucht, wird er oekonomischdeterministisch. Das liegt daran, dass der einzigste Indikator fuer Klassenzugehoerigkeit (wobei Klasse hier im soziologischen Sinne verstanden wird), der sich aus den Schriften von Marx im weitesten Sinne herauslesen liesse, der eines gemeinsamen Verhaeltnisses zu den Produktionsmitteln ist. Aber Individuen, die einer Klasse angehoeren (oder zu ihr interpoliert werden) stehen nicht nur in einem Verhaeltnis zu den Produktionsmitteln. Sie stehen in einem Verhaeltnis zum Staat und zur »Ideologie«, ganz zu schweigen von ihrer oertlichen Kirche, Fussballmannschaft oder Kneipe. Daher muss der soziologische Klassenbegriff ein Schema von verschiedenen gesellschaftlichen »Ebenen«, »Praktiken« oder »Instanzen« (Althusser) entwickeln und sich die Frage stellen, wie diese Ebenen aufeinander bezogen sind. Die Antwort ist bekannt: in letzter Instanz »setzt sich die oekonomische Bewegung als notwendig durch« . Der soziologische Marxismus laeuft also in letzter Instanz  um es anders auszudruecken  auf einen oekonomischen Determinismus hinaus. Sicher, es handelt sich nicht um einfache deterministische (d.h. kausale) Ketten, sondern um lange und komplexe Ketten. Aber zu behaupten, wie Althusser es tut, eine solche Theorie sei (aufgrund ihrer Komplexitaet) nicht mehr deterministisch, ist so, als wollte man behaupten, eine Maschine sei wegen der vielen Zahnraeder in ihrem Antriebsmotor keine Maschine mehr.

15. Beim marxistischen Klassenbegriff ist alles anders. Die Unterschei dung von Marx zwischen Klasse »an sich« und Klasse »fuer sich« darf nicht als eine zwischen gesellschaftlichen »Ebenen« (siehe Fussnote zu Punkt 8) verstanden werden, sondern als eine zwischen dem soziologischen und dem marxistischen Klassenbegriff: wenn eine Klasse erst dadurch zur Klasse wird, dass sie »fuer sich selbst« existiert, dann gehoert der politische Kampf mit all seinen unvorhersehbaren Verzweigungen, Entwicklungen und Verausgabungen zu dem dazu, was vom soziologischen Marxismus als oekonomische »Basis« behandelt wird. Der soziologische Marxismus versucht, Ebenen zu vereinigen, die als getrennt voneinander vorausgesetzt werden. Von diesem Ausgangspunkt und dieser Problemstellung aus kann er nur auf kausalistische und aeusserliche Beziehungen zurueckfallen, egal von wie »struktureller« (Althusser) Art sie sind. Der marxistische Marxismus geht in die entgegengesetzte Richtung und macht Unterscheidungen innerhalb einer widerspruechlichen Totalitaet, d.h. innerhalb eines Ganzem von innerlichen und antagonistischen Beziehungen: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen.« . Wie das Diagramm unter Punkt 5 verdeutlicht, ist die Totalitaet des Klassenverhaeltnisses (fuer die buergerliche Gesellschaft also das KapitalArbeitVerhaeltnis) in jedem der Individuen, die die Momente oder Teile dieser Gesellschaft bilden, vollstaendig vorhanden, wenn auch in qualitativ unterschiedlicher Weise. Damit sind umgekehrt alle Aspekte der individuellen Existenz   und nicht nur z.B. der oekonomische Aspekt  auf die Klasse bezogen, da die Klas senverhaeltnisse als Produktionsverhaeltnisse alle gesellschaftlichen Verhaeltnisse umfassen und nicht nur z.B. die oekonomischen (sofern letztere ueberhaupt als eine unabhaengige Abstraktion gefasst werden koennen). Der wesentliche Sachverhalt wurde schon vor langer Zeit vom jungen Lukács so ausgedrueckt: »Nicht die Vorherrschaft der oekonomischen Motive in der Geschichtserklaerung unterscheidet ent scheidend den Marxismus von der buergerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalitaet.«

16. Mit dem »Gesichtspunkt der Totalitaet« und der marxistischen Beruecksichtigung aller Aspekte der individuellen Existenz als klas senrelevant kommt ein voellig neuer Begriff von Klassenpolitik ins Spiel. Wenn die »Politik« als eine gesonderte gesellschaftliche Ebene betrach tet wird (wie es die Soziologen tun), dann wird die Bildung einer politischen Partei in einer mehr oder weniger konventionellen  also buergerlichen  Art zum Lakmustest fuer die Existenz der Klasse »fuer sich«. Selbst eine Avantgardepartei ist dabei nur eine Variante einer buergerlichen Angelegenheit. Nicht Marx, sondern die buergerliche Gesellschaft selbst unterscheidet zwischen der Ebene des politischen Staates [political state] und der buergerlichen Gesellschaft [civil society] (was wiederum eine Vermittlung des Klassenkampfs darstellt). Dabei wird erstere als die Arena betrachtet, in der gereifte (d.h. kon form gewordene) gesellschaftliche Gruppierungen miteinander streiten. Der marxistische Klassenbegriff oder, anders gesagt, der Gesichtspunkt der Totalitaet richtet sich insbesondere gegen die Einengung des Poli tikbegriffs, die im soziologischen Klassenbegriff enthalten ist. In der marxistischen Betrachtungsweise ist die Kategorie der »Politik« so umfassend wie die erfahrungsmaessige Existenz des Individuums und so weit wie die Formen, die der Klassenkampf unvorhersehbarer Weise annehmen kann. Es geht nicht nur darum, kein Thema von der politischen Tagesord nung auszuschliessen. Vielmehr wird die Vorstellung von einer politi schen Tagesordnung selbst ausgeschlossen, denn jede dieser Tages ordnungen (die das Handwerkszeug der buendnisschmiedenden hierarchi schen Parteien bilden) schliesst all das aus und marginalisiert, was nicht zu irgendeinem theoretisch im voraus abgezirkelten politischen Gebiet gehoert.

17. Nachdem wir all das gesagt haben, muessen wir einraeumen und sogar betonen, dass jeder, der will, »soziologische« Vorstellungen aus den Texten von Marx herauslesen kann. Marx war nicht immer ein Marxist. Nichtsdestotrotz waere es undenkbar, dass Marx Das Kapital geschrieben haette, waere der marxistische Klassenbegriff nicht der von Marx gewesen. Marx hat z.B. lange vor seinen Kritikern und Revisionisten selber betont, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus die Zahl der »mittleren Klassen« vermutlich ansteigen wuerde. Trotzdem schreibt er ein Buch mit dem Titel Das Kapital, in dem ein einziges Klassenverhaeltnis (das Kapi talArbeitVerhaeltnis) den theoretischen »Gegenstand« bildet. Dieses Raetsel kann nur so geloest werden, dass wir seine Bemerkungen ueber die mittleren Klassen als soziologisch betrachten, den Hauptgedanken des Kapital hingegen als marxistisch im oben charakterisierten Sinne.

18. Die obigen Bemerkungen beanspruchen weder Vollstaendigkeit noch eine Rechtfertigung des hier  schematisch  erneut formulierten Klassenbegriffs in allen Punkten. Es ging lediglich darum, ein paar Punkte klarzumachen, die im marxistischen Verstaendnis von Klasse enthalten sind. Was die Bedeutung dieses Verstaendnisses betrifft: die fruchtbarste Fragestellung scheint mir die zu sein, ob das Klassenverhaeltnis (in der existierenden Gesellschaft das KapitalArbeitVerhaeltnis) das einzige Kampfverhaeltnis ist, das unser Leben strukturiert. Und an diesem Punkt steht ein Hinausgehen ueber Marx nicht in Frage: andere Kampf verhaeltnisse wie z.B. Geschlechter und Rassenverhaeltnisse sind durch das Kapitalverhaeltnis vermittelt, so wie es seinerseits durch sie ver mittelt ist. Untersuchungen zur Frage, welches dieser Verhaeltnisse »dominant« ist, wuerden scholastisch bleiben, wenn sie auf dem Gebiet der Methodologie und der Begriffe a priori durchgefuehrt wuerden: sie koennen vielmehr nur in den Begriffen der konkreten Politik (was auch bedeutet: phaenomenologisch) erfolgen. Die grosse Ueberlegenheit der marxistischen ueber die soziologische Betrachtungsweise  sowohl politisch wie methodologisch  liegt darin, dass sie den Marxismus von jedem Anflug eines Determinismus befreit, den Marx als einen der moerde rischsten Zuege des Kapitalismus geisselte: die Tyrannei der »toten« ueber die »lebendige« Arbeit, oder anders gesagt, der Vergangenheit (wie in allen deterministischen Schemata) ueber die Gegenwart und die Zukunft. Dagegen richten sich seine wertvollen Argumente vom Anfang bis zum Ende. Denn das einzige Thema der marxistischen »Klassenanalyse« ist der veraestelte, sich staendig und unvorhersehbar entwickelnde Kampf, der fuer Marx die Existenz der Klasse als solcher ist.  

Danksagung

Vieles in diesem Papier, von dem eine fruehere Version an der Panteios School of Political Science, Athen, und auf dem Fordismus-Seminar am Fachbereich Politik der Universitaet Edinburgh vorgestellt wurde, verdankt sich Gespraechen mit John Holloway. Filio Diamanti machte mir klar, dass ich mein Verstaendnis von »Klasse« verdeutlichen muesste, bevor eine Diskussion darueber ueberhaupt beginnen koennte.

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