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Aus CONTRASTE Nr. 174:

Vernetzung selbstverwalteter Betriebe und Wohnprojekte

GROSSBRITANNIEN
Radical Routes
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In Grossbritannien waechst eine Vernetzung selbstverwalteter Betriebe und Wohnprojekte mit radikalen Prinzipien. "Radical Routes" ist ein britisches Netz von 43 Kooperativen mit 200 Mitgliedern, davon etwa 30 Wohnprojekte. Die Mitglieder der Projekte kommen aus der Alternativszene und sind in Anti-Strassen-, Friedensund Tierrechtsbewegung aktiv. Einige Gruppen beschaeftigen sich intensiv mit Permakultur und Kindererziehung ohne Schule.

Mitgliedschaft

Um aufgenommen zu werden, muss eine neue Koop einige Kriterien erfuellen:

  • Die Koop muss selbstverwaltet sein und sich personenunabhaengig in kollektivem Eigentum der Mitglieder befinden (`common ownership'). Im Falle der Aufloesung muss verbleibendes Eigentum an "Radical Routes" oder an eine gemeinnuetzige Organisation gehen.
  • Jede Koop muss Arbeiten fuer "Radical Routes" unentgeltlich uebernehmen.
  • Jede Koop soll an den vierteljaehrlichen gatherings teilnehmen.
  • Jede natuerliche Person, die Mitglied einer Koop ist, muss mindestens 15 Stunden pro Woche sozial nuetzlicher Arbeit leisten.
  • Das Einkommen der natuerlichen Personen, die Mitglied einer Mitgliedskoop sind, darf nie hoeher als das Doppelte der Sozialhilfe sein (zzgl. Miete und Sozialversicherung). Wer mehr hat, muss spenden oder teilen.

Der Finanzierungs-Fonds

Ein Kreditfonds stellt den Mitglieds-Koops Risikokapital zur Verfuegung. 1,4 Mio. DM kommen von ueber 150 ethischen GeldanlegerInnen, die durchschnittlich nur schlappe 1,28% Zinsen verlangen. Eine Koop die einen Kredit will, muss offenlegen, wieviel Geld ihre Mitglieder bei "Radical Routes", im eigenen Projekt oder anderswo angelegt haben. Ausserdem ist eine 120% Sicherung durch Buergschaften erforderlich. Fuer viele der Projekte ist dies die einzige Chance, ueberhaupt das noetige Kapital aufzubringen.

Durch den Fonds haben die Koops inzwischen 20 Haeuser gekauft und umgestaltet. Die BewohnerInnen gruenden dazu eine Kooperative. Diese erhaelt eine Bank-Hypothek, dazu kommen Eigenkapital der BewohnerInnen und Darlehen von FreundInnen. Das reicht meist fuer 80-90 0er Kaufpreises. Die fehlenden, besonders kritischen 10-20 0.000000inanziert der Kreditfonds. Der Fonds bewegt also etwa das Siebenfache seines Volumens. Die Mieten zahlt oft das Sozialamt, so funktioniert alles auch bei BewohnerInnen mit sehr wenig Geld.

In kleinerem Umfang gehen auch Kredite an Arbeitskollektive, aber nur wenige innerhalb der Radical-Routes-Szene wagen den Schritt zum Aufbau eines Betriebes. Bisher ist dem Fonds noch nie Geld verloren gegangen und fuer die Projekte der Koops standen immer ausreichende Mittel zur Verfuegung.

Weitere Unterstuetzung fuer die Mitglied-Koops

"Radical Routes" hilft aber nicht nur mit Geld, sondern unterstuetzt die Mitglieds-Koops auch durch Beratungsund Oeffentlichkeitsarbeit. In zahlreichen `taking control'-events, Ausstellungen und Flugis wirbt "Radical Routes" vor allem in der Szene fuer Projektideen. Dieser Draht in die Bewegungen ist der deutschen Selbstverwaltungsszene schon laenger abhanden gekommen. All das ist praktisch ohne jegliche Zuschuesse aufgebaut worden und lebt auch jetzt nur von `ethischen' Zinseinnahmen und Mitgliedsbeitraegen.

Selbstverwaltung

"Radical Routes" kommt ohne Vorstand oder geschaeftsfuehrendes Organ aus. Statt dessen gibt es ein ausgefeiltes Selbstverwaltungsmodell mit verschiedenen Arbeitsgruppen und einem vierteljaehrlichen gathering.

Die Arbeitsgruppen haben jeweils eigene Aufgabenbereiche und Budgets, sie beschaeftigen sich z.B. mit interner Kommunikation, Finanzen, Oeffentlichkeitsarbeit, Veganismus und Integration von Menschen mit Behinderungen ins Projekt. Alle Arbeitsgruppen bestehen aus ehrenamtlichen Mitgliedern. Die Arbeitsgruppen sind oeffentlich und treffen sich meist auf den gatherings.

Auf dem vierteljaehrlichen gathering werden alle wichtigen Entscheidungen basisdemokratisch getroffen. Alle gueltigen Beschluesse sind in einem vierseitigen, eng beschriebenen `Policy document' (Beschlussprotokoll) festgehalten, das nach jeder Aenderung ueberarbeitet und an alle Kooperativen verschickt wird.

Diese gatherings sind Sitzung und Party. Mit 60-100 Personen treffen sich weit mehr Menschen als die fuer die Entscheidungsfindung noetigen DelegiertInnen. Es gibt dort auch Weiterbildungs-AGs, veganes Essen, Lagerfeuer, Badesessions,... Auch viele Kinder kommen gerne zum gathering. Dabei ist alles super-billig, ausgerichtet auf einen low-income-lifestyle.

Entscheidungsfindung auf den gatherings

Wer einen Beschluss durchsetzen moechte, verschickt einen Vorschlag, z.B. Antrag auf Mitgliedschaft, Darlehensantrag, Antrag zur Aenderung des Policy documents, ggf. mit einer Empfehlung der jeweils zustaendigen Arbeitsgruppe. Die Kooperativen bilden sich eine Meinung zu jedem Vorschlag. Der/die Delegierte vertritt die Auffassung der Koop (imperatives Mandat). Die Treffen sind oeffentlich, Rederecht haben nur Delegierte.

Der formale Teil des gatherings beginnt jeweils samstags. Die Delegierten versammeln sich in einem inneren Kreis zum Plenum, waehrend drumherum ein Ring von Neugierigen sitzt. Parallel zur eigentlichen Sitzung gibt es immer die beiden Workshops `Radical Routes-Einfuehrung' und `Einfuehrung in die Finanzen von Radical Routes'. Zu jedem Tagesordnungspunkt gibt es maximal 10 Minuten Plenum, wo die verschiedenen Argumente gesammelt werden. Kommt keine Klaerung zustande, geht das Thema in eine Arbeitsgruppe. Die verschiedenen Delegierten der betroffenen Koops versuchen dort, eine Einigung zu erzielen. Gelingt dies, kann der neue Vorschlag noch im Sonntagsplenum beschlossen werden. Wird kein Konsens erzielt, muss das Thema bis zum naechsten gathering nochmal in den einzelnen Koops bearbeitet werden.


Kritik und Bewunderungen
von Sven Giegold, Verden, Aller -

1995 und 1996 war ich auf drei gatherings und habe einige der Mitgliedskoops besucht. Zu einigen Leuten aus der Radical Routes Szene habe ich seitdem immer wieder persoenlichen Kontakt und mich oft staunend und bewundernd gefragt, warum es so etwas in Deutschland nicht gibt.

1) Radical Routes ist aus einer kleinen Gruppe von Kooperativen entstanden. Die jetzige Selbstverwaltungsstruktur taugt nicht fuer ueber 40 Mitgliedskoops. Schon seit Jahren wird ueber Regionalisierung nachgedacht, derweil waechst das Netzwerk jedoch immer weiter. 1999 sollen drei von vier gatherings nur noch aus Delegierten der vier Regionen bestehen. Die AG Finanzen und die AG Interne Kommunikation bleiben jedoch national.

2) Innerhalb von Radical Routes dominieren die Wohnprojekte. Die Arbeitskollektive bieten nur fuer einen Bruchteil der BewohnerInnen Lebensunterhalt. Viele leben von Sozialhilfe. Dies ist fuer Viele, die in den Wohnprojekten leben okay, weil ihr Arbeitsschwerpunkt eher in sozialen Bewegungen liegt. Interessant wird jedoch, was passiert, sobald die Mehrzahl der Mitglieder deutlich aelter wird.

3) Klassisch geschlechtsspeziefische Arbeitsteilung ist auch bei Radical Routes Thema. Praegende Personen sind sowohl Maenner als auch Frauen. Jedoch kuemmern sich Maenner eher ums Geld, waehrend Frauen in der Kommunikations AG in der Mehrheit sind.

4) Radical Routes ist eine weisse Organisation. Die zahlreichen ethnischen Minderheiten findet man bei Radical Routes genauso selten, wie Nichtdeutsche in der deutschen Selbstverwaltungsszene. Viele Mitglieder sind `Mittelklasse'-AussteigerInnen.

5) Ich war von der lebendigen Demokratie bei den gatherings wirklich begeistert. So etwas hatte ich in Deutschland noch nicht gesehen. Funktionierende Basisdemokratie mit vielen wirklich beteiligten Koops und Einzelpersonen bei niedrigem Selbstzerfleischungs- und Zerredegrad. Die Macht der AktivistInnen empfand ich als relativ gering. Ein Guru war nicht zu entdecken; eher eine groessere Gruppe von Tonangebenden mit verschiedenen Interessen. Gleichzeitig gab es auch die Schattenseiten des Raetemodells. Durch die rotierenden Delegierten war deutlich spuerbar, wenn in den Koops die Diskussionen vom letzten gathering nicht weitergetragen wurden. Veraergerung bei den gut vorbereiteten Delegierten war die Folge. Die Kraft und Energie fuer Demokratie ist nicht unbegrenzt. So nimmt die Anwesenheit von Koops bei gatherings tendenziell ab.

6) Einige Widersprueche zwischen den selbstgesetzten Regeln und der Realitaet werden geflissentlich uebersehen. Etliche halten sich nicht an die Einkommensgrenze und die wenigsten Koops erfuellen ihre Arbeitszusagen an Radical Routes.

7) Soziale Absicherung ist bei Radical Routes praktisch kein Thema. Ich kann mich an niemand mit einer akzeptablen Rentenversicherung erinnern. Anders als in Deutschland scheint es aber auch die Aelteren kaum zu beunruhigen, obwohl mit einer britischen staatlichen Mindestrente kaum zu ueberleben ist.

8) Eine der grossen Streitfragen bei Radical Routes: Duerfen Koops Mitglied bei Radical Routes werden, die mit Tieren Geld verdienen? Viele vegane Koops verhindern seit Jahren per Veto die Aufnahme von Biohoefen. Vor drei Jahren waere das Netzwerk fast an der Schlachtung eines Schafs zerbrochen. Waehrend in der deutschen Linken die Tierrechtsfrage oft verdraengend mit Faschismusvorwuerfen und Massentierhaltungsfrass beantwortet wird, ist die Frage in der britischen Szene zu einem ebenso fragwuerdigen Pruefstein fuer die Korrektheit eines Menschen geworden. Tiernutzung bleibt bei Radical Routes ein ungeloester Konflikt.


Selbstverstaendnis von Radical Routes

Wir befinden uns im Grossbritannien des 20. Jahrhunderts, in einer Welt, die wir nicht geschaffen haben, aber durch ueber tausend Jahre der Ausbeutung und Ungerechtigkeit geformt wurde. Unsere Welt ist durch die Kraefte der Gier, des Kapitalismus und Materialismus gepraegt, wo maximale Produktion und hoechstmoegliche Profite energisch verfolgt werden, was das Leben fuer Viele zur Hoelle macht und die Umwelt gefaehrdet. Das System wird letztlich von den Reichen und Maechtigen kontrolliert, den Kapitalisten und Buerokraten, durch die Benutzung vieler Mechanismen wie z.B. das Eigentum an der Wirtschaft (die Menschen zu Sklaven ihres Jobs macht) und die Kontrolle der Medien (die eine passive Kultur schaffen).

Radical Routes ist ein Netzwerk von Kooperativen und Einzelpersonen, die anstreben, all dies zu aendern. Wir wuenschen uns eine Welt, die auf Gleichheit und Kooperation basiert, wo Menschen nach ihren Faehigkeiten geben und nach ihren Beduerfnissen nehmen, wo Arbeit erfuellend und nuetzlich ist und wo Kreativitaet bestaerkt wird, wo Entscheidungsfindung fuer alle ohne Hierarchien offen ist, wo die Umwelt geschaetzt und um ihrer selbst willen geachtet wird statt ausgebeutet zu werden. Wir wollen ueber alle Bereiche unseres Lebens die Kontrolle uebernehmen. Da wir jedoch ganz und gar nicht in einer Position von Kontrolle sind, sind wir gezwungen Kompromisse zu machen, um existieren zu koennen. Wir arbeiten darauf hin, Kontrolle ueber unser Wohnen, Erziehen und Arbeiten durch die Gruendung von Wohnund Arbeitskooperativen und durch die Zusammenarbeit als ein Netzwerk zu uebernehmen. Durch die Uebernahme kollektiver Kontrolle ueber diese Bereiche zielen wir darauf ab, die Abhaengigkeit von ausbeuterischen Strukturen zu reduzieren und sichere Grundlagen aufzubauen, von denen aus wir das System herausfordern koennen und andere ermutigen, es ebenso zu tun.

Radical Routes hat sich aus einer Idee Mitte der 80er Jahre zu einem Genossenschaftsverband entwickelt, der im April 1992 eingetragen wurde. 1986 wurde der Wohnkooperative 'New Education' 7.000 Pfund von UnterstuetzerInnen geliehen, um eine Anzahlung fuer ein Haus in Birmingham zu machen. Von dieser Wohnkooperative aus ist Radical Routes durch Bildungsveranstaltungen, Verbreitung von Informationen, dem Wunsch gleichgesinnte Leute zu suchen und die Investitionen von UnterstuetzerInnen zu einem expandierenden landesweiten Netzwerk gleichgesinnter Kooperativen und Individuen gewachsen. Die Gruendung des Genossenschaftsverbandes stellte die Struktur zur Verfuegung, um die gemeinsamen Ziele effizienter zu verfolgen, und zwar durch Oeffentlichkeitsarbeit und Einwerbung von Geldern fuer die Mitgliedskooperativen.

Radical Routes hat nur begrenzte Ressourcen und ist sich bewusst, dass seine besondere Arbeit hin zu oben genannten Zielen nur einige von vielen wertvollen Aktivitaeten sind. Die konkreten Mittel, die es verfolgt, sind:

  • Die Gruendung von Wohnungskooperativen, um Raum fuer Menschen und Projekte mit den obigen Zielen zu schaffen.
  • Die Gruendung von Arbeitskooperativen, die mit obigen Absichten handeln.
  • Die Werbung fuer und Organisation von hierarchiearmer Bildung durch Veranstaltungen zum Austausch von Faehigkeiten und Wissen, 'taking control'-Veranstaltungen, Infomaterial und Workshops.
  • Die Einwerbung von Geld, um Kontrolle ueber Ressourcen (Immobilien, Technologie, Land,...) zu uebernehmen, durch Zusammenarbeit und oekonomische Verbindung der Kooperativen.
  • Die Unterstuetzung gleichgesinnter Projekte.

(Uebersetzung S.G.)

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