zurück

aus *UZ* unsere Zeit, 33/99

Zu den Thesen Gysis
Der Weg zur Sozialdemokratisierung?

von Günter Labudda

7/899
trdbook.gif (1270 Byte)
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
kamue@partisan.net
ODER per Snail:
AntiQuariat
Oranienstr. 45
D10969 Berlin
Die zwölf umstrittenen Thesen stammen - wie sich am Ende herausstellte - keineswegs von Gysi selbst, sondern aus der parteinahen Bundesstiftung "Rosa Luxemburg". Gysis "Ghostwriter" sind zwei Professoren, die schon eine geraume Weile eine Rolle in der Programmdebatte der PDS spielen. Es handelt sich um Dieter Klein, der auch PDS-Vorstandsmitglied ist, und Michael Brie, der wie Klein in der Auseinandersetzung um das neue Parteiprogramm besonders kritisch aufgenommene Beiträge leistete.

Gysi hat als Vorsitzender der Bundestagsfraktion im Grunde nur weitergereicht, was die beiden ihm aufgeschrieben haben. Das wirkt zwar wie eine Autorisierung. Aber die Kritiker in der Partei werden nicht müde, darauf hinzuweisen, daß es für dieses sogenannte PDS-Papier kein Mandat der Bundestagsfraktion gibt oder sonst eines Gremiums der PDS.

Idealisierter Spätkapitalismus

Daß dringlicher Anlaß bestand und besteht, sich öffentlich zum Schröder-Blair-Papier zu äußern, steht allerdings außer Frage. Unter dem Schlagwort "neue Mitte" ist die SPD in eine politische Wende nach rechts eingeschwenkt. Schröder bekennt sich darin ohne großes Versteckspiel programmatisch zur Neuauflage neoliberaler Regierungspraktiken nach dem Muster Kohl.

Die Linke in- und außerhalb der SPD muß klar antworten. Das Thema ist das des Wahlbetrugs an jenen, die Kohl abwählten, um nun zu erleben, daß seine Politik in "rot- grüner" Variante fröhliche Urständ feiert. Gysi sagte dazu: "In dem Moment, in dem sich alles in der Mitte drängelt, sind wir verpflichtet, die Lücke zu nutzen."

Die innere Auseinandersetzung der SPD ist hart und scharf. Die angestrebte "Modernisierung" des SPD- Profils unter Einschluß gleich auch der anderen sozialdemokratischen Parteien Europas macht es nötig, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß soziale Gerechtigkeit kein alter Hut, sondern ein hochaktuelles Gebot, mithin "modern" ist. Der Titel der "Gysi-Thesen": "Gerechtigkeit ist modern" trifft denn auch durchaus ins Schwarze.

Leider gilt das nicht oder nur bedingt für den Inhalt. Er läßt nach Meinung der Kritiker krasse Widersprüche erkennen, einen fatalen Hang, sich sozialdemokratischen, selbst neoliberalen Positionen anzupassen.

Es beginnt schon damit, daß die Autoren der heutigen Bundesrepublik, dem Paradies der Monopole, deren allmächtigen Interessen sich buchstäblich alles unterordnet, bescheinigen, daß in ihr "plurale Verteilung von Eigentum, Macht und Einfluß" herrsche. Wo soll das stattfinden? In einem Lande, in dem das Volksvermögen noch stärker als anderswo in den Händen einer hauchdünnen "Oberschicht" konzentriert ist?

Der Spätkapitalismus wird da erkennbar idyllisiert. Das gilt auch für die Beschreibung der Nachkriegsrolle der SPD und den Rückblick auf die Verhältnisse in der Adenauer-Republik.

Entgegen Schröder und Blair, die cool ihre eigene Parteitradition denunzieren, weil diese nach ihrer Meinung zu unhaltbaren Sozialansprüchen, zu "gleichmacherischen" Verkrustungen und "etatistischen" Fehlentwicklungen in der Gesellschaft führte, preisen Gysis Thesen in auffälliger Weise den "gebändigten Kapitalismus" der Nachkriegszeit vor allem wegen seines beachtlichen Wohlstandsausflusses. "Eine lange Phase der Prosperität" heißt es, mit "Innovation, sozialem und kulturellem Aufstieg breitester Schichten" sei in den letzten 50 Jahren erreicht worden - erreicht in einem "sozialdemokratischen Zeitalter" und "gerade weil auch sozialdemokratische Vorstellungen großen Einfluß hatten."

Nebulöser Sozialismus

Komplimente an die SPD also. Eine Ehrenrettung für SPD-"Traditionalisten"? Die werten das eher, wie die Reaktionen zeigen, als peinlichen Anbiederungsversuch.

Daß die in der Phase der Nachkriegskonjunktur erreichten und keineswegs gering zu schätzenden Verbesserungen nicht auf Wunderwirkungen sozialdemokratischer Träume zurückzuführen sind - die Thesen bewundern, daß ebendieselben sich "zum großen Teil" erfüllten - steht nun allerdings fest. Sie hatten wenig genug mit Träumen, dafür umso mehr mit Klassenkampf zu tun.

Der ist aber bei den Professoren nicht (mehr) in. Entsprechend konsequent nehmen sie ihn nicht wahr, selbst da, wo er unübersehbar ist. Sie bewundern die demokratischen Strukturen, die freiheitliche, "partizipatorischen" Gesamtentwicklung im Bonner Deutschland. Daß es gravierende Rückschritte - eine durchgängige Aushöhlung der im Grundgesetz "garantierten Bürgerrechte, Notstandsgesetze, eine zwölf Jahre lang währende Illegalisierung kommunistischer Politik, eine Revitalisierung des Nazismus, später die Aushebelung des Asylrechts, eine Remilitarisierung im Zeichen eines atomaren Erstschlagsanspruchs und am Ende nun auch verfassungswidrige Kriegseinsätze deutscher Truppen gab und noch gibt, fehlt in den Thesen oder kommt - was das Thema Rüstung und Kriegsbeteiligung angeht - nur unterbelichtet, am Ende des 21-Seiten-Textes vor.

Gegenüber Schröder und Blair verlangen die Autoren mit Recht nicht "ahistorisch" zu verfahren. Das Nachkriegsbild, das sie von der Bundesrepublik zeichnen, ist auf seine Weise auch ahistorisch. Was in Deutschland-West geschah, hat mit Idyll - Marx hin, Lenin her - nichts, alles aber mit der für andere und uns selbst bedrohlichen Restauration eines imperialistischen Sy- stems zu tun.

PDS ist keine kommunistische Partei

Die PDS ist keine kommunistische Partei und nicht auf Marx oder Lenin eingeschworen. Aber viele ihrer Mitglieder sind nach ihrer Selbsteinschätzung Kommunisten. Müßte man nicht da in einem Text von solch programmatischem Anspruch wie den 12 Thesen wenigstens Spurenelemente solcher Erkenntnisse finden?

Das Papier verkündet bereits in der ersten These auch die "Vision" einer Verbindung von Sozialismus und Moderne im 21. Jahrhundert. Der These ist unter anderem zu entnehmen, daß es dem modernen Sozialismus, "nicht um die Abschaffung von Märkten, sondern um anddere Märkte" geht, "nicht um die Unterdrückung unternehmerischer Initiative, sondern um neue Rahmenbedingungen für ihre soziale und ökologische Ausrichtung." Was dies mit Sozialismus zu tun hat, bleibt das Geheimnis der Autoren. Immerhin wird die Notwendigkeit verkündet, an die Stelle der "Dominanz der Kapitalverwertung" die "Dominanz sozialer, kultureller und ökologischer Zielstellungen zu setzen." Welcher Zielstellungen in wessem Interesse? Das bleibt im Nebel. Aber die Autoren verweisen auf die Notwendigkeit, "Gegenmächte" (was für welche, wann, wo, auf welche Weise?) zu entwickeln, "die dies durchsetzen können." Arbeiterklasse oder Gewerkschaften sind ihnen unwichtig genug, nicht genannt werden zu müssen.

Trotz der Gegensätze
Gemeinsames nicht vergessen

Insgesamt macht der nebulöse "Sozialismus" dieser These wohl nur deutlich, daß die Autoren damit nichts von den gegenwärtigen Zuständen prinzipiell Verschiedenes meinen. So bescheiden zu sein, ist natürlich niemandem verwehrt. Aber seit wann wäre eine sozial gemilderte Variante von Kapitalismus schon "Sozialismus"? Zum Kampf um Sozialismus gehört mehr: Es ist Kampf um grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel, um grundsätzlich andere Eigentums- und Machtverhältnisse in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, um Verhältnisse, die eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausschließen, wie eine alte, nicht überholte Formel lautet.

"Für einen demokratischen Sozialismus" heißt es in der 5. These, in der von der Organisierung von Gegenmächten gegen die Kapitalallmacht die Rede ist, "kann Modernisierung von Politik nicht darin bestehen, in noch effizienterer Weise der Wirtschaft als Magd zu dienen" und deren nichtverwertbaren "Abfall" ein bißchen sozialer zu entsorgen. Schröder und Blair hatten das "einwandfreie Funktionieren" der Globalmärkte als ihr politisches Leitbild proklamiert. Doch dem "hochgradig vermachteten" Weltmarkt, so die Gegenthese Gysis (Kleins und Bries) "ist soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit fremd." Stimmt, kann da auch der entschiedenste Kritiker sagen.

Hungerlöhne keine Patentlösung

Aber auch die Kontrahenten des "Bündnisses für Arbeit" werden am Schlips gefaßt. "Ohne die Veränderung der Machtverhältnisse in der Wirtschaft wird aus dem Bündnis für Arbeit... ein Zwangsvertrag zur Meistbegünstigung von Großunternehmen." Zweifelsfrei. Deshalb nennt die These die Erkenntnis der eigenen Interessenlage und das dar- aus erwachsende Engagement in "Bürgerinitiativen und Projektträgern, in Verbänden und Gewerkschaften, Kirchen, Expertengruppen und kommunalen Einrichtungen" als entscheidende Voraussetzung für den "Aufbruch zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit."

Die 7. These greift das Problem des Niedriglohnsektors auf. Sie lehnt die Methode des staatlich subventionierten - oder nicht einmal subventionierten - Hungerlohnes - vor allem in England und in den USA praktiziert - als Patentlösung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ab. Unter den Maßnahmen, die hingegen Wirkung versprechen, nennt die These den ökologischen Umbau der Produktion und überhaupt den Ersatz umweltbelastender Güter und Technologien durch umweltverträgliche. Sie unterstützt die Forderung nach Einführung der 30-Stunden-Woche und Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Über 55jährige sollen einen Rechtsanspruch auf Alters-Wahlarbeitszeit erhalten, die gleitend in den Ruhestand überleitet.

Dabei wird die schon zuvor ausgesprochene Ablehnung der Spaltung der Gesellschaft in Beschäftigte und Überbeschäftigte auf der einen und Arbeitslose oder Billiglöhner auf der anderen Seite, die nur noch Dienstbotentätigkeiten für Betuchte verrichten oder mit ihrer "toten Zeit" vollends an den Rand der Gesellschaft gedrängt und von sinnvoller Teilhabe an ihr ausgeschlossen sind, wiederholt.

Zugleich wird der Gedanke eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors wieder erwähnt, der einen erheblichen Teil der heute dauerhaft Erwerbslosen für wichtige Gemeinschaftsaufgaben vor allem sozialer und kultureller Natur wieder in Arbeit und Brot bringen könnte.

Das Papier enthält noch andere Forderungen, in denen es mit anderen Linken nur Konsens geben kann. Es lehnt zum Beispiel Ökosteuern ab, deren Einnahmen nicht wieder für ökologische Zwecke verwendet werden. Die kompensationslose Belastung gerade der Leute, die sowieso am wenigsten haben (Arbeitslose, Rentner, Studenten, Sozialhilfebezieher), soll es nicht länger geben. Die Thesenautoren verlangen auch für diese Bevölkerungsgruppen einen Ausgleich. Gestoppt werden sollen die vielen Ausnahmeregelungen für die größten Umweltverschmutzer unter den Betrieben. Wenn diese Investieren, um den Ressourcenverbrauch zu verringern, kann es Kapitalhilfe geben.

In der Steuerpolitik verlangen die Thesen eine Entlastung der geringen Einkommen. Große Privatvermögen aus nicht produktiv inve- stierten Gewinnen sollen dagegen stärker herangezogen werden. Für Spekulationsgewinne werden höhere Steuern verlangt als für Gewinne, die in Produktion oder Dienstleistungen zurückfließen.

Außer der Arbeitslosigkeit sehen die Thesen als Ursache der öffentlichen Finanzkrise, daß sich die multinationalen Konzerne durch ihre Verlagerungsmanöver der Steuerpflicht leicht entziehen können. Die Einnahmeblöcke seien mehr und mehr abhanden gekommen, die sich einst aus Unternehmergewinnen und Vermögen speisten.

In den aktuellen Forderungen, die die Thesen enthalten, zeigt sich, daß ein Konsens mit anderen Linken ungeachtet sonstiger Meinungsverschiedenheiten jederzeit möglich ist.

Angesichts der bedrohlichen Rechtsentwicklung in der Regierungskoalition ist die Sammlung der Linken eine noch dringlichere Aufgabe als zuvor. Im Februar erst hat die DKP ihre Bereitschaft bekräftigt, mit der PDS weiter zu kooperieren. Mancherorts, wo die DKP nicht selbst kandidiert, hat die PDS auf ihren offenen Listen kommunistischen Kandidaten Plätze eingeräumt. Das trotz einer zentralen Beschlußlage, die genau das verhindern soll. Die politische Realität in diesem Lande verlangt die klare Benennung von Meinungsgegensätzen der Linken aber ebensosehr auch ihr praktisches Miteinander im Interesse gemeinsamer Ziele oder Teilziele. Das sollte beim Streit über Gysis Thesen nie aus dem Blickfeld verloren werden.

nach oben