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Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 



60 Pfennig nicht genug. Muss eine Mark.
Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik, 1967 - 1973
Manuskript d. Vortrages zur Konferenz „1968 und die Arbeiter. Ein europäischer Vergleich.“ DGB-Bildungszentrum Hattingen, 11.2.2005  

von Peter Birke

Vielen Dank zunächst für die Einladung zu dieser interessanten Konferenz.

Erlauben Sie mir, einleitend kurz etwas zum Gegenstand meines Promotionsprojektes zu sagen. Thema meiner Arbeit ist ein Vergleich der wilden Streiks in der Bundesrepublik und Dänemark von ca. 1960 bis 1973. D.h. ich habe mich mit der Streikgeschichte zweier Länder beschäftigt, die in aller Regel nicht gerade als Brennpunkte der sozialen Auseinandersetzungen in Westeuropa gelten, sondern eher als Musterbeispiele sozialfriedlicher Arbeitsbeziehungen. Als Beleg dieser „Sozialfriedlichkeit“ wurde in der Literatur u.a. immer wieder der Rückgang der Arbeitskämpfe in den 1950er und der ersten Hälfte der 1960er Jahre angeführt, der auch im internationalen Vergleich signifikant war. Die verhältnismäßige Seltenheit der offenen Arbeitskonflikte wurde unter anderem mit der Einbindung der Gewerkschaften in tripartistische Konsultationen sowie mit ihrem hohen Grad an Repräsentativität erklärt.

Der von Peter Birke vertretene Ansatz, die Septemberstreiks im Kontext der Geschichte der Wilden Streiks der BRD zu sehen, wird von ihm dezidiert in seinem Buch Wilde Streiks im Wirtschaftswunder ausgeführt. /khs

Diese These der „sozialfriedlichen Arbeitsbeziehungen“ der 1960er Jahre bildet die Folie für die in der Literatur oft wiederholte Vorstellung, dass die Septemberstreiks von 1969 in der Bundesrepublik etwas völlig Neues darstellten. Ein Blick auf die Vorgeschichte der wilden Streiks von 1969 widerlegt meines Erachtens diese Vorstellung. Deshalb werde ich hier zunächst darauf eingehen, wie sich in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik eine spezifische Tradition wilder Streiks herausbildete. Im zweiten Teil meines Vortrages stelle ich dann dar, wie diese in den Septemberstreiks von 1969 zum Ausdruck gebracht wurde und sich transformierte. Im dritten Teil gehe ich schließlich darauf ein, welche Veränderungen in den Schwerpunkten und Gegenständen wilder Streiks in der Streikwelle bis 1973 sichtbar wurden.

Zunächst zum ersten Punkt, den wilden Streiks in der Bundesrepublik vor 1969. Die quantitative Entwicklung scheint die These von den „sozialfriedlichen Arbeitsbeziehungen“ zunächst zu bestätigen. Insgesamt wurden, in einer ebenso aufwändigen wie verdienstvollen Arbeit von Hasso Spode, für den Zeitraum von 1949 bis 1980 2056 wilde Streiks in insgesamt 6767 Betrieben gezählt. Ein Blick auf deren Verteilung zeigt, dass das Ausmaß der wilden Streiks um 1960 einen historischen Tiefpunkt erreichte, um und nach 1970 dagegen Spitzenwerte. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass das Verhältnis schon auf dieser rein quantitativen Ebene weitaus komplexer ist. Denn bereits seit Mitte der 1950er Jahre stieg die Zahl der wilden Streiks im Verhältnis zu den Streikbewegungen insgesamt immer mehr an. Schon Ende der 1950er Jahre erreichte ihr Anteil einen historischen Höhepunkt, der bis in die frühen 1970er Jahre immer weiter übertroffen wurde. Bis 1968 waren von allen Streiks 83,3% nicht durch das Streikrecht sanktioniert. Damit hatte sich diese Zahl seit Anfang der 1950er Jahre ungefähr verdoppelt. Gleichzeitig wurden die registrierten wilden Streiks im Durchschnitt immer kürzer. Insgesamt kann konstatiert werden, ich zitiere hier aus der Dissertation von Kalbitz aus dem Jahre 1972, dass

es in der Bundesrepublik eine ungebrochene Tradition spontaner Arbeitsniederlegungen (gibt), in denen (diese) Form der Konfliktaustragung in der Praxis weitervermittelt wird.

Und weiter

In der Ignorierung dieser Tradition liegt der entscheidende Ansatz zur Fehlbewertung der September-Streiks.

Wenn diese Feststellung in ein Forschungsprogramm übersetzt werden soll, dann kann dies sehr grob und in einem kurzen Satz wie folgt zusammengefasst werden: Es ginge darum, die eigene Geschichte der wilden Streiks in den 1950er und 1960er Jahren zu untersuchen, um auf dieser Grundlage betriebliche und lokale Traditionslinien zu ermitteln, die zu den Voraussetzungen der Streikwelle ab 1969 gehörten. Leider ist es in der bundesdeutschen Historiographie bei diesem Programmentwurf geblieben: Sieht man sich die akademische Literatur über wilde Streiks an, dann stellt man sofort fest, dass die Texte über die spektakulären Streikbewegungen nach 1969 Regale füllen. Über die wilden Streiks vor 1969 existiert dagegen nicht eine einzige eigenständige Studie. Meine Arbeit kann dieses leere Regal selbstverständlich nicht füllen. Aber einige Aussagen über qualitative Merkmale der wilden Streiks vor 1969 sind gleichwohl möglich.

Ein erste notwendige Feststellung ist, dass es auch an den Artikulationsformen wilder Streiks selbst lag, dass diese der akademischen Aufmerksamkeit weitgehend entgangen sind. Die europäische Streikforschung behandelt ihren Gegenstand bis heute fast ausschließlich unter dem Aspekt der Sichtbarkeit und Repräsentanz. Dieser Perspektive entgeht, dass es ein aktives und rationales Verhalten in sozialen Konflikten sein kann, verschiedene Arten der „Unsichtbarkeit“ herzustellen. Eine derartige Rationalität begründete sich in den Erfahrungen mit wilden Streiks, die nach 1945 in Westdeutschland gemacht wurden. Vielleicht etwas verkürzt kann gesagt werden, dass Streikbewegungen in der Bundesrepublik bis Ende der 1950er Jahre immer mehr auf ein lokales und in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung kaum noch wahrgenommenes Feld zurück gedrängt worden waren. Zwischen 1958 und 1968 überschritten Arbeitskämpfe, in denen politische Forderungen im Mittelpunkt standen, nicht mehr den lokalen Rahmen. Eine Erklärung für diese Tendenz ist der Kalte Krieg. In den zwei deutschen Staaten wurde der Systemkonflikt wie bekannt besonders drastisch ausgetragen, und die Politik der bundesdeutschen Gewerkschaften wie der oppositionellen KPD trug dazu bei, dass er auch innerhalb der Betriebe reproduziert wurde. Dadurch gerieten alle Arbeitskämpfe, und besonders die wilden Streiks, in den Generalverdacht einer „kommunistischen Infiltration“. Ich möchte nur ein Beispiel erwähnen: Den wilden Streik in zwei Hamburger Werften im August 1955. In diesem Monat wurde zunächst auf der Howaldtwerft ein „zwischentariflicher“ Inflationsausgleich gefordert. Nachdem der Streik sich auf eine weitere Werft ausgebreitet hatte und u.a. die Beschäftigten der Henschel-Werke in Kassel mit ähnlichen Forderungen in den Ausstand getreten waren, griff die Hamburger Polizei u.a. durch die Verhaftung eines als „Rädelsführer“ definierten Aktivisten ein. Aus sogenannten Sicherheitsgründen wurde im Anschluss an den Streik nur ein Teil der Beschäftigten der beiden betroffenen Werften wieder eingestellt, u.a. wurde das komplette Streikkomitee auf die Straße gesetzt. Das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen - das man in diesem Fall oberflächlich betrachtet kaum für zuständig halten würde - reagierte mit einer Stellungnahme, in der betont wurde, dass man der „kommunistischen Wühlarbeit in den Betrieben“ entgegen treten müsse. Die Arbeitgeber beklagten das „triebhafte, chaotische Eigenleben der Lohnpolitik“ und sprachen von den wilden Streiks als einer „Gefahr für den wirtschaftlichen Aufschwung“.

Auch wenn diese Reaktionen angesichts des Ausmaßes der Streiks als überzogen erscheinen, ihre Botschaft war ein Jahr vor dem KPD-Verbot eindeutig. Wer in aller Öffentlichkeit und sichtbar gegen die Friedenspflicht verstieß, hatte unter Umständen nicht nur mit dem Verlust des Arbeitsplatzes zu rechnen. Derartige Botschaften wurden verstanden, was aber nicht bedeutete, dass die wilden Streiks verschwanden, sondern dass sich ihr Charakter veränderte. Um dies kurz und prägnant zu charakterisieren, möchte ich einen Zeitzeugen zitieren, der einen Arbeitskampf bei VW in Wolfsburg geschildert hat, der ungefähr derselben Periode, Mitte der 1950er Jahre, zuzurechnen ist. Gegenstand des Streikes war die Forderung nach einem Fahrtkostenzuschuss:

Irgendwann jedenfalls haben wir gesagt: ‚Jetzt ist Schluß’, und haben uns in die Wagen gesetzt. Wir haben gesagt: ‚Wir wollen einen Zuschuß zum Fahrgeld haben, und wenn wir das nicht bekommen, bleiben wir hier sitzen’. Die Werksleitung hat daraufhin große Lautsprecher aufgestellt. Es wurde gesagt: ‚Liebe Mitarbeiter, überlegen Sie doch einmal und arbeiten Sie weiter!’ Man solle doch weiterverhandeln. Wir haben uns einfach in die Karossen gesetzt und haben geschlafen. Wir wollten solange weiterschlafen, bis die Verhandlungen zu Ende sind. Es ging dann auch sehr schnell; wir haben das Geld gekriegt und weitergearbeitet.

Das geschilderte Beispiel ist das einer Arbeitsniederlegung, die außerhalb des Betriebes wohl keinerlei öffentliche Wirkung entfaltete. Es ist davon auszugehen, dass die Möglichkeiten solcher Aktionen angesichts der Vollbeschäftigung seit Ende der 1950er Jahre stiegen. Im Takt mit dem Abbau der Erwerbslosigkeit waren kurzfristige Arbeitsniederlegungen oder andere Formen, die an der Grenze zwischen Alltagsresistenz und kollektivem Widerstand angesiedelt waren, relativ erfolgversprechend. Wilde Streiks hatten, insbesondere in den schnell expandierenden Sektoren der bundesdeutschen Industrie um 1960, fast ausschließlich eine lokale Bezogenheit.

Das bedeutet allerdings nicht, dass ihnen kein gemeinsames Muster zugrunde lag, und dieses kam gelegentlich auch zum Ausdruck. Denn die wilden Streiks der frühen 1960er Jahre müssen im Kontext der „zweiten Tarifrunde“, also der lokalen Vereinbarung übertariflicher Lohnbestandteile gesehen werden. Bereits zwischen Spätsommer 1959 und Anfang 1960 kam es in diesem Kontext zu derart zahlreichen betrieblichen Auseinandersetzungen, dass die IG Metall von einer „in der Geschichte der Bundesrepublik nie da gewesenen Streikwelle“ sprach. Und im Winter 1963/64 kam es erneut zu einer ganzen Reihe wilder Streiks, die fast gleichzeitig stattfanden, aber so gut wie nicht explizit aufeinander bezogen waren. Im Vergleich der beiden Streikwellen ergibt sich eine Kontinuität von betroffenen Betrieben, mit einigen regionalen Schwerpunkten wie der Stahlindustrie im Ruhrgebiet oder den Metallbetrieben in Mannheim.

Zugleich differenzierten sich seit etwa 1960 sowohl die Gruppen, die an wilden Streiks beteiligt waren, als auch die Gegenstände der Streiks. Was die unmittelbaren Ursachen der Streiks betraf, so geriet die Rationalisierungsfrage zunehmend in den Vordergrund: Die sogenannte Akkordschere oder „Angriffe auf die Akkorde“ wurden zu einem häufigen Auslöser wilder Streiks. Schon etwa seit 1960 traten zudem Streiks auf, die überwiegend oder ausschließlich von den sogenannten Gastarbeitern durchgeführt wurden, so z.B. im Februar 1962 in mehreren Zechen im Ruhrkohlenbergbau oder im Winter 1962/63 unter den Bandarbeitern bei VW in Wolfsburg. Neben den Protesten gegen die Arbeitsbedingungen am Band standen hier vor allem die miserablen Wohnverhältnisse im Mittelpunkt. Nicht selten reagierten die betroffenen Betriebe, indem sie die Polizei riefen und die vorgeblichen Rädelsführer abschieben ließen.

Durch die Rezession der Jahre 1966/67 veränderte sich das Muster der wilden Streiks zwar, aber einige der roten Fäden – die Tradition lokaler Streiks, die Konflikte um überbetriebliche Lohnbestandteile und Akkorde, die Ausweitung der Gegenstände auf die Rationalisierungsfrage – blieben erhalten. Für die Unternehmer war 1967, wie die FAZ im Mai 1968 schrieb, „das Jahr des großen Aufräumens“, das Jahr einer – Zitat - „Reinigungskur“. Die nur leichte Erhöhung der Erwerbslosigkeit auf 2,1% im Jahresdurchschnitt von 1967 verschleiert, dass es zu Beginn der Rezession zunächst einmal darum ging, die prekär Beschäftigten, vor allem die Migranten, vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Zugleich hatte die geschilderte faktische „Verbetrieblichung“ der Lohnpolitik in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zu einer unübersichtlichen Vielfalt von betrieblichen Sozialleistungen geführt: Nicht nur übertarifliche Zuschläge zu den Löhnen, auch Zuschüsse zu allem von der Weihnachtsfeier bis zum „Kartoffelgeld“ waren betriebliche Praxis. Die „Reinigungskur“ bestand darin, diese „Sonderleistungen“ als „Ballast“ abzuwerfen, die vor dem Hintergrund der nunmehr aus Unternehmenssicht günstigen Lage auf dem Arbeitsmarkt für überflüssig gehalten wurden.

Die Tarifpolitik der bundesdeutschen Gewerkschaften geriet in dieser Situation in eine ernste und sozusagen doppelte Krise. Der Eintritt der SPD in die Große Koalition Ende 1966 und die Beteiligung an der Konzertierten Aktion seit dem Frühjahr 1967 verpflichtete die Gewerkschaften auf eine „zurückhaltende Lohnpolitik“. Außerdem waren sie mit tarifpolitischen Mitteln kaum noch in der Lage, die laufenden Angriffe auf die Effektivlöhne abzuwehren. Die insbesondere von Teilen der IG Metall ins Spiel gebrachte „betriebsnahe Tarifpolitik“ wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, daran etwas zu ändern, aber ihre praktische Umsetzung scheiterte sehr häufig an innerorganisatorischen Interessen, die einen Machtverlust zugunsten der betrieblichen Vertrauensleute befürchteten. Der Anstieg des Anteils der wilden Streiks an den Arbeitskonflikten in der Rezession spiegelt die Ohnmacht der Gewerkschaften wider. Insbesondere im Verlauf des Jahres 1967 nahmen die von keiner Einzelgewerkschaft sanktionierten Arbeitskämpfe massiv zu: Der Geschäftsbericht der IG Metall für die Periode von 1965 bis 1967 spricht von insgesamt fast 300 000 Beteiligten an solchen Aktionen. Eine genauere Analyse dieser Streiks zeigen, dass die Abwehr betrieblicher Lohnkürzungen nicht ihr einziger Gegenstand war. Den Beginn der bundesweiten Protestwelle markierte ein wilder Streik bei dem Druckmaschinenhersteller Faber und Schleicher in Offenbach im Dezember 1966, in dem es um die Entfernung eines Vorgesetzten ging, dem „Antreibermethoden“ vorgeworfen wurden. Hinzu kamen Konflikte über die Kontrolle der Arbeitszeit wie bei den ILO-Werken in Pinneberg bei Hamburg im September 1967.

Klaus-Peter Suhrkemper hat in seiner umfangreichen Untersuchung über die Geschichte der wilden Streiks bei Hanomag in Hannover und bei der Hoesch AG in Dortmund gezeigt, dass die Kontinuität informeller Netzwerke, deren Verbindungen zur lokalen Öffentlichkeit sowie die Position der Vertrauensleute und Betriebsräte entscheidende Voraussetzungen für das Entstehen von Streikbewegungen größeren Ausmaßes am Ende der 1960er Jahre war. Spitzt man diese These zu und bezieht sie auf die Entwicklung in den 1960er Jahren insgesamt, so könnte man sagen: Ohne den Untergrund, den die wilden Streiks dieser Zeit boten, lassen sich sowohl Ausmaß als auch Form der Streikwelle seit 1969 nicht erklären.

Damit bin ich beim zweiten Punkt meines Vortrages, der Frage nach Kontinuität und Brüchen in den Mustern wilder Streiks mit und nach den Septemberstreiks von 1969. Die Streikbewegung vom September begann als „zweite Lohnrunde“ in der Stahlindustrie Nordrhein-Westfalens. Ihre grundlegenden Voraussetzungen sind schnell geschildert: Die Stahlarbeiter waren im heißen Sommer des Jahres 1969 im Vergleich zur Metallindustrie lohnmäßig ins Hintertreffen geraten. Gleichzeitig führte der Boom dieses Sektors, der eine langjährige Flaute ablöste, zu einem kurzfristigen Ende des Druckes, der durch Entlassungen ausgeübt werden konnte. Vom 2.9. bis zum 19.9.1969 verbreitete sich die Streikwelle nach einer erfolgreichen, nur wenige Tage andauernden Arbeitsniederlegung in den Werken der Hoesch AG in Dortmund in etliche Betriebe vor allem der Montanindustrie in Nordrhein-Westfalen und im Saarland sowie u.a. in Bremen und der Oberpfalz. Insgesamt legten innerhalb von weniger als drei Wochen mindestens 140 000 Menschen die Arbeit nieder. Die Forderungen der Streikenden konzentrierten sich auf eine lineare Erhöhung der Löhne zwischen 30 und 70 Pfennig, was einer Erhöhung von zwischen etwa 5 und 15% entsprach. Die IG Metall und die IG Bergbau und Energie, die von den Streiks weitgehend überrascht worden waren, versuchten diese durch vorgezogene Tarifverhandlungen unter ihre Kontrolle zu bringen.

Mit den Septemberstreiks war verbunden, dass die Neue Linke sich verstärkt der Arbeiterbewegung zuwandte. Bereits während der Proteste gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 hatte es eine, allerdings nur punktuell erfolgreiche, Zusammenarbeit zwischen studentischen und betrieblichen Aktivist/innen gegeben. Zu betonen ist, dass die Septemberstreiks die Trennung zwischen der studentischen Rebellion und den Arbeitskämpfen eher akzentuierte als aufhob. Umfragen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst in den bestreikten Betrieben den Studenten und ihren Aktionsformen gegenüber eine grundlegende Distanz empfanden. Im Verlaufe des Streiks war wohl auch deshalb nur punktuell eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich, und ihre Voraussetzung war, dass die Studierenden auf jegliche missionarische Anwandlungen verzichteten. Die „proletarische Wende“ des SDS, mit ihren sowohl produktiven als auch verhängnisvollen Folgen, wurde durch die Septemberstreiks verstärkt, gehörte aber nicht zu deren Ursachen.

Warum wurden die Septemberstreiks nicht nur in der Studentenbewegung, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit weitaus stärker rezipiert wurden als die lokalen wilden Streiks zuvor? Eine der Antworten auf diese Frage ist, neben der allgemeinen Politisierung der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1968, dass die Streikwelle im unmittelbaren Vorfeld der Wahlen zum Deutschen Bundestag stattfand. Politiker zumindest der großen wahlkämpfenden Parteien äußerten auch deshalb Verständnis für die Forderungen der Streikenden. So betonte auch Wirtschaftsminister Schiller, dass die Streiks an seine Forderung nach „sozialer Symmetrie“ anknüpfen würden. Und tatsächlich griffen die Forderungen der Streikenden die „moralische“ Logik der Schillerschen Wirtschaftspolitik auf. Das überwiegend „verständnisvolle“ Entgegenkommen führte zugleich mit sich, dass durchaus vorhandene antikommunistische Mobilisierungsversuche insgesamt wenig glaubwürdig erschienen. Die öffentliche Wirksamkeit der Streikwelle stellt somit auch einen Reflex auf die Abschwächung des Ost-West-Konfliktes dar, die wilden Streiks konnten nunmehr – langsam und vorläufig – wieder aus ihrem lokalen und informellen Untergrund auftauchen.

Allerdings ist hier zu differenzieren: Wo Wünsche geäußert wurden, die den Rahmen der Schillerschen „sozialen Symmetrie“ zu übersteigen drohten, kam es durchaus auch im September 1969 zu einer Zuspitzung und Polarisierung der Konflikte. Das gilt – neben dem Streik in fünf Dortmunder Zechen, in dem u.a. die Forderung nach Erhöhung des Grundlohnes von etwa 600 auf 1000 DM formuliert wurde – vor allem für den Verlauf von zwei Arbeitskämpfen migrantisch geprägter Belegschaften in der metallverarbeitenden Industrie - bei Hella in Lippstadt und beim Automobilzulieferer Ehrenreich in Oberkassel. In Lippstadt ging es explizit um die Abschaffung der unteren Lohngruppen, in die die migrantischen Arbeiterinnen eingruppiert worden waren. In Oberkassel betraf die Auseinandersetzung die Akkorde für Bandarbeiter. Anders als für den Verlauf der Septemberstreiks üblich, wurden diese beiden Streiks mit dem Eingreifen der Polizei (Hella) bzw. mit Hilfe einer massiven Mobilisierung von ausländerfeindlichen Ressentiments (Ehrenreich) beendet.

Gleichwohl verwiesen diese wilden Streiks auf ein Potential, das in den Jahren nach 1969 noch bedeutender werden sollte: Die Festgeldforderungen der Septemberstreiks eröffneten sozusagen ein diskursives Feld, auf dem die bis dahin völlig getrennte lokale Tradition migrantischer Kämpfe um Arbeits- Wohn- und Lebensbedingungen sich auf die Forderungen der traditionell gewerkschaftlich organisierten Kernbelegschaften bezogen werden konnte.

Damit bin ich beim dritten Punkt meines Vortrages – der Frage nach den Veränderungen, die die Zunahme der wilden Streiks nach 1969 auslöste. Zunächst zur Politik der Gewerkschaften: Sie reagierten unterschiedlich. Während die IG Bergbau die wilden Streiks im September 1969 offen und klar bekämpfte, versuchten insbesondere die IG Metall und die IG Chemie aus der Erfahrung zu lernen: Beide strebten in den folgenden Jahren eine Dezentralisierung ihrer Tarifpolitik an. Und diese und viele andere Einzelgewerkschaften formulierten nach 1969 Lohnforderungen in Rekordhöhe. Nach einer Welle von Warnstreiks im Herbst 1970 erreichte beispielsweise die IG Metall in der Metallindustrie und im Stahlsektor jeweils Lohnerhöhungen von über 10%. Nicht zuletzt die Mitgliederentwicklung belegte, dass die erfolgreiche Übernahme einiger Forderungen der Streikenden sich für die Gewerkschaften auszahlte. Die in den 1960er Jahren sinkende Tendenz des gewerkschaftlichen Organisationsgrades wurde ins Positive gewendet, wobei die IG Metall am meisten von dem Zuwachs profitierte. Und dies trotz der Wut und Enttäuschung, die sich angesichts des Verhaltens gewerkschaftlicher Repräsentanten während der Septemberstreiks und danach durchaus ausdrückte.

Das Jahr 1971 markierte dann den Beginn einer „Gegenoffensive“ der Unternehmer. So wurde ein tariflicher Streik der IG Metall in der metall-verarbeitenden Industrie Nordbaden-Nordwürttemberg, der vom 18.10 bis 15.12.1971 dauerte, vom Unternehmerverband Gesamtmetall mit einer Massenaussperrung beantwortet. 145 000 Streikenden standen bis zu 360 000 Ausgesperrte gegenüber. Nachdem die Metallunternehmer 1970 noch weitgehende Zugeständnisse gemacht hatten, lehnten sie 1971 sogar einen Schiedsspruch ab, der eine angesichts der fortwährenden Inflation relativ geringe Lohnerhöhung von 7,5% vorsah. Der Versuch der CDU, die Regierung Brandt im April 1972 zu stürzen, wurde auch innerhalb eines Teiles der Belegschaften als Folge der neuen harten Gangart in der Unternehmerpolitik gesehen und löste eine kleine Welle von Proteststreiks aus. Vom 25.4. bis zum 27.4.1972 streikten insgesamt rund 100 000 Beschäftigte gegen das Misstrauensvotum. Ironischerweise bot ausgerechnet der Kontext des gescheiterten Misstrauensvotums für die Gewerkschaften den Anlass, von ihrer in den zwei Jahren zuvor vergleichsweise offensiven Lohnpolitik wieder abzurücken. Auch die IG Metall erklärte sich im Jahre 1972 wieder bereit, im Rahmen der „Stabilisierungspolitik“ der sozial-liberalen Koalition einen „Lohnrahmen“ zu akzeptieren. Dies löste im Laufe des Jahres eine erneute Welle von wilden Streiks aus, die sich nicht nur auf einige wenige Wochen, sondern bis zum Spätsommer 1973 erstreckte.

Im Januar 1973 unterzeichnete die IG Metall Tarifverträge für die Beschäftigten der Stahlindustrie und die 4,3 Millionen Beschäftigten in der Metallverarbeitung, die jeweils eine Lohnerhöhung von 8,5% festlegten. In der Stahlindustrie wurde, unabhängig von der prozentualen Steigerung, eine lineare Lohnerhöhung von 46 Pfennig verabredet, in der Metallverarbeitung kam es zu einer etwas höheren Lohnsteigerung für die unteren Lohngruppen. Die Unzufriedenheit mit diesen Abschlüssen war mehr als deutlich zu vernehmen. Bei den Urabstimmungen in der Stahlindustrie stimmten nur 26% oder 40 101 der 230 000 Beschäftigten für eine Annahme des Verhandlungsergebnisses. Da diese Zahl jedoch 26% der abstimmungsberechtigten Mitglieder der IG Metall ausmachte, galt das Ergebnis nach deren Satzung als angenommen. Einige der wilden Streiks reagierten direkt auf den unbefriedigenden Tarifvertrag, andere thematisierten weitere Konflikte. Im Februar 1973 traten die Beschäftigten einer Schlossfabrik in Velbert in einen zweiwöchigen Ausstand, kurz darauf wurde erneut in den Werken der Hoesch AG in Dortmund die Arbeit niedergelegt. Im März kam es bei den Profilwalzwerkern von Mannesmann in Duisburg-Huckingen zum Streik, wobei es sich hier um einen Arbeitskampf handelte, der die Abschaffung der unteren Lohngruppen zum Ziel hatte. Im April wurde der VW-Konzern in die Streikwelle einbezogen. Im Mai kam es zu 29 Streiks im gesamten Mannheimer Raum, vor allem in Maschinenbaubetrieben und bei Automobilzulieferern, aber auch in der Chemischen Industrie. Im selben Monat handelte die IG Metall mit dem Arbeitgeberverband Eisen und Stahl eine Sonderzahlung aus, was einerseits dazu führte, dass die Konflikte in der Stahlindustrie zurückgingen, andererseits dazu, dass nun eine Streikwelle in der Metallverarbeitung begann. Im Juni und Juli kam es in insgesamt über 60 Betrieben zu Arbeitsniederlegungen, dazu gehörten erneut die Klöckner Hütte in Bremen und die Firma Hella in Lippstadt. Die Streikwelle erreichte ihren Höhepunkt im August 1973 mit über 100 bestreikten Betrieben bei ca. 80 000 Streikenden: In der zweiten Augusthälfte wurden u.a. Ford in Köln, Pierburg in Neuss und Opel in Bochum bestreikt. Im September nahm die Streikwelle etwas ab, es waren aber immer noch fast 80 Betriebe im Ausstand, darunter jetzt auch Teile des Öffentlichen Dienstes in Hannover. Im Oktober legten erneut die Beschäftigten der Saarbergwerke die Arbeit nieder. Insgesamt waren mindestens 275 000 Beschäftigte in 335 Betrieben im Ausstand. Im Vergleich zu den Septemberstreiks, an denen sich lediglich die Belegschaften von 69 Betrieben beteiligt hatten fällt auf, dass die Zahl der bestreikten Klein- und Mittelbetrieben deutlich höher war. Außerdem waren die Betriebe der expandierenden metallverarbeitenden, Elektro- und Automobilindustrie in die Streikwelle ganz anders als im September 1969 eingebunden.

Im Verlauf dieser Streiks wurde die Lohnhierarchie erneut in Frage gestellt, und in diesem Zusammenhang gerieten endgültig auch die tayloristischen Arbeitsbedingungen in den Blickpunkt der praktischen Kritik. Der Arbeitskampf bei FORD in Köln-Niehl im August 1973 steht exemplarisch für diesen Umstand. Er entzündete sich an der Entlassung einiger hundert migrantischer Kollegen, die zu spät aus dem Sommerurlaub zurück gekehrt waren. Dazu kam eine lineare Lohnforderung, die zu Beginn des Streikes von 60 Pfennig auf eine Mark gesteigert wurde. Außerdem wurde die in diesem Betrieb bereits traditionsreiche Forderung von zusätzlichen Pausen an den Fließbändern erhoben. Im Rahmen des Arbeitskampfes wurde der Betrieb von ganz überwiegend migrantischen Beschäftigten besetzt, während es zu einer wachsenden Entsolidarisierung der überwiegend deutschen Facharbeiter kam. Am Ende wurde FORD in Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Polizei „zurückerobert“. Der Streik thematisierte die Arbeitsbedingungen am Band, die zerstörerische Wirkung von Schichtarbeit und extrem ausgeprägter Arbeitsteilung. Fast zur gleichen Zeit griffen wilde Streiks von überwiegend migrantischen Frauen in der Elektroindustrie nach dem Vorbild des Streikes bei Hella in Lippstadt von 1969 die sogenannten Leichtlohngruppen an. Die IG Metall regierte diesmal anders als 1969 mit einer vehementen Ablehnung derjenigen wilden Streiks, die sich ihrer Kontrolle vollständig entzogen. Allerdings hatte sie zugleich Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen in ihre tarifpolitische Strategie aufgenommen, wie exemplarisch in der Auseinandersetzung um den Lohnrahmentarif in Nordwürttemberg-Nordbaden im Spätherbst 1973 deutlich wurde.

Die Schwerpunkte der wilden Streiks hatten sich 1972/73 im Vergleich zu 1969 verändert: Im Mittelpunkt stand nicht mehr alleine die Forderung nach einer Lohnerhöhung, sondern ein differenzierter Katalog von der Einführung von Bandpausen bis zur Entfernung autoritärer Vorgesetzter. Auch standen nicht mehr alleine die traditionellen Hochburgen der Arbeiterbewegung im Fokus des öffentlichen Interesses, sondern auch Streiks migrantischer Beschäftigter wie bei FORD Köln oder Pierburg Neuss. Besonders der FORD-Streik wurde in weiten Teilen der bundesdeutschen Presse auf den Titelblättern, allerdings häufig mit rassistischen Untertönen, thematisiert. Die Ablehnung der Gewerkschaften gegenüber vielen der Streikbewegungen hatte ihre Ursache auch darin, dass ihre betriebliche Hegemonie punktuell, aber doch stärker als 1969, durch den Einfluss oppositioneller Gruppen in Frage gestellt wurde.

Ich komme nun zum Ende meines Vortrages. Mindestens drei Aspekte scheinen mir an der skizzierten historischen Entwicklung wilder Streiks bedeutend zu sein.

Erstens: Viele der wilden Streiks formulierten den alten Anspruch der Arbeiterbewegung an grundlegende Veränderungen der Arbeitsbeziehungen neu. Zugleich nahmen sie die lokalen Traditionen der betrieblichen sozialen Konflikte der 1960er Jahre auf. Das Resultat war insgesamt eine Dezentralisierung und Differenzierung, und damit eine entscheidende Veränderung der Inhalte der Demokratisierungsforderung selbst. Thematisiert wurden die Folgen der Fließbandarbeit, der betrieblichen Überwachung und Kontrolle, die autoritäre Herstellung der Fabrikdisziplin. Insgesamt ging es weniger um die Forderung nach der Sozialisierung des Produktionsprozesses als nach einem Leben jenseits einer nur noch als Belastung empfundenen Lohnarbeit. In einem engen Zusammenhang damit griffen die Festgeldforderungen die geschlechtsspezifischen und gruppenspezifischen Lohnhierarchien an, die nicht zuletzt die Gewerkschaftspolitik traditionell eher stabilisiert als aufgelöst hatte. Ich finde, es ist wichtig, an solche Forderungen zu erinnern. Wie Sie wissen, sind viele derartige soziale Ansprüche auch bis heute uneingelöst geblieben. Und nicht nur das, sie werden aktuell in wachsendem Maße denunziert.

Gleichzeitig ist es zweitens aber auch wichtig, eine Mystifizierung der wilden Streiks zu vermeiden. Denn diese trugen die Widersprüche in sich, durch die Arbeitsmarkt und Gesellschaft strukturiert wurden und werden. In der Bundesrepublik haben die migrantischen Streiks die Unterschichtung des Arbeitsmarktes in ein neues Licht gerückt, aber sie haben zugleich auch rassistische Gegenreaktionen hervorgerufen. Diese waren nicht ausschließlich das Resultat der Ressentiments, die in den Kampagnen der BILD-Zeitung und anderer verbreitet wurden. Die Grenzen, die insbesondere im Rahmen der Streikbewegung von 1973 artikuliert wurden, haben auch eine systematische Bedeutung. Die Abgrenzung gegenüber prekär beschäftigten Arbeitskräften, wie sie sich u.a. im FORD-Streik äußerte, diente seit der Existenz der Arbeiterbewegung der Definition und Sicherung des eigenen sozialen Status. Die aggressive Umsetzung dieser Sicherung ist eine wohl moralisch verwerfliche, allerdings zugleich durchaus rationale Strategie.

Und schließlich drittens zu einer Frage, die im Mittelpunkt unserer Tagung steht. In vielen Untersuchungen ist nachgewiesen worden, dass die Zunahme der Streikbewegungen nach 1967 ein globales Phänomen war. Die bürgerliche Presse war sich dessen wohl bewusst, als sie die Septemberstreiks 1969 als die „englische Krankheit“ bezeichnete, die nunmehr auch „den deutschen Arbeiter“ zu erfassen drohe. Nur sehr begrenzt spielte dagegen die Wahrnehmung der Grenzenlosigkeit der sozialen Forderungen eine explizite Rolle in den Streikbewegungen selbst. Globale Politik im expliziten Sinne: Das war und blieb noch in den frühen 1970er Jahren Sache der zentralen gewerkschaftlichen Instanzen und des Staates. Anders als die Studentenbewegung blieben die Arbeitskämpfe auf ihre „Kirchen“ angewiesen, die die Welt für sie erklärten und ihre Welt nach außen vermittelten. Auch der Eingriff linker und internationalistischer Gruppen in die Arbeitskämpfe hat an diesem Umstand nichts Grundlegendes ändern können. Aber zugleich trugen die wilden Streiks durchaus indirekt, gewissermaßen unbewusst, zu einer Erosion der nationalstaatlichen Regulation der Arbeitsmärkte bei, indem sie halfen, einige ihrer damaligen Eckpfeiler, wie z.B. die Einkommenspolitik der Konzertierten Aktion, ins Schleudern zu bringen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von http://www.labournet.de, wo er im PDF-Format eingestellt ist.

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