Die Experimente der sozialistischen Marktwirtschaften
III. Ordnungspolitische Eigenarten der sozialistischen Marktwirtschaften in Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Ungarn

von H. Hamel

01-2014

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Bisher erschienen bei TREND

Teil I: Die Begründungen der Transformation
Teil II: Ordnungstheoretische Charakterisierung der sozialistischen Marktwirtschaften

Die Charakterisierung des neuen Wirtschaftssystems als »sozialistische Marktwirtschaft« bezeichnet nicht nur den grundsätzlichen Unter­schied gegenüber dem administrativen System zentraler Planung, Lei­tung und Kontrolle, sondern auch den qualitativen Unterschied gegen­über dem privatwirtschaftlichen System westlicher Marktwirtschaften. Er besteht in der andersartigen ordnungspolitischen Ausgestaltung die­ses System, die vor allem aus den sozialistischen Eigentumsverhältnissen und den hierdurch bedingten Interessenlagen der wirtschaftenden Men­schen resultiert. Die morphologische Kombination von dezentraler Pla­nung und wirtschaftspolitischer Steuerung der arbeitsteiligen Gesamt­prozesse mit sozialistischem Eigentum an den Produktionsmitteln bildet also »das Grundmodell der sozialistischen Marktwirtschaft«.(1)

Wie das Grundmodell der privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft in vielfältigen Ausprägungen realisiert ist, so sind auch die konkreten Systeme der sozialistischen Marktwirtschaft in Jugoslawien, der CSSR und Ungarn ordnungspolitisch unterschiedlich ausgestaltet. Als die wichtigsten Eigenarten, hinsichtlich derer sie sich voneinander unter­scheiden, seien hier die Begriffe und ökonomischen Inhalte des sozialistischen Eigentums und die in den Unternehmensverfassungen begründeten Interessenlagen hervorgehoben, da sie die jeweilige Qualität der Systeme maßgeblich bestimmen.

1. Sozialistisches Eigentum - Begriffe und ökonomische Inhalte

Für die ökonomische Qualität der jeweils realisierten Eigentumsord­nungen ist vor allem maßgebend, wie die Auswahl der Unternehmens­leiter, die Verfügungsrechte (Planautonomie), die Nutzungsrechte (Er­folgsinteresse) und die Veräußerungsrechte geregelt sind.(2)

1. In Jugoslawien wurde das nach 1945 verstaatlichte Eigentum an den Produktionsmitteln mit der Verfassung von 1953 - entsprechend der Leitidee einer in freien Assoziationen sich selbst verwaltenden Gesell­schaft - in gesellschaftliches Eigentum umgewandelt. Für dieses Ei­gentum gibt es keinen personifizierten Eigentümer, denn die gesell­schaftlichen Produktionsmittel gehören, wie es in der Verfassung von 1963 verankert wurde, »niemandem«.(3)

Die in den Unternehmen von den Beschäftigten gewählten Arbeiterräte haben das Recht, den Unternehmensleiter auszuwählen, über den Einsatz der Produktionsmittel sowie über das erwirtschaftete Unternehmenseinkommen zu verfügen, wenngleich die Gemeindevorstände hierauf einen gewissen Einfluß ausüben können, was vor allem bis 1965 der Fall war. Somit sind die Arbeiterräte die Erfolgsinteressenten der jugoslawischen Selbstverwaltungsunternehmen, die zugleich für Risiko und Konkurs haften. Unternehmensteile können nur veräußert werden, wenn dies den Unternehmenszweck nicht gefährdet. Über die Auflösung von Unternehmen entscheiden staatliche Behörden; neue Unternehmen können gegründet werden vom Staat, von wirtschaftlichen, genossenschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen oder auch von Bürgergemeinschaften (mit besonderer Genehmigung).(4) - Entsprechendes gilt auch für jene gesellschaftlichen Institutionen wie Versicherungen, Krankenhäuser u. ä., die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert sind.

Neben den von den Arbeiterräten verwalteten Unternehmen gibt es auch Privatbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten, insbesondere im Handwerk und im Dienstleistungsbereich (Hotels, Gaststätten). In der Landwirtschaft dominiert das Privateigentum (85°/o des landwirtschaftlich genutzten Bodens) neben gesellschaftseigenen Kombinaten.(5) Außerdem gibt es in der Industrie Formen der Kooperation mit anderen inländischen oder auch ausländischen Unternehmen sowie die (begrenzte) Möglichkeit der ausländischen Kapitalbeteiligung in inländischen Unternehmen.

2. In der CSSR blieb das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln zunächst unangetastet. Nur in den Bereichen der sogenannten kleinen Warenproduktion - in Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Dienstleistungsbereich - gab es neben dem staatlichen auch genossenschaftliches Eigentum; Privateigentum war nur in geringem Ausmaß, vor allem im Konsumbereich, vorhanden.(6)

Wenngleich das Staatseigentum formal nach wie vor dominierte, so änderten sich doch zum Teil seine ökonomischen Inhalte. Die Verselbständigung der Unternehmen bestand vor allem darin, daß die Unternehmen ihre Anlagen und Vorräte dem Staat »abkaufen« mußten, d. h. die Abschreibungen der vor 1967 angeschafften Grundmittel mußten ebenso wie die Werte der Vorräte (in der Form der Kreditrückzahlung) an den Staatshaushalt abgeführt werden.(7) Die nach wie vor staatlich eingesetzten Unternehmensleiter hatten grundsätzlich und praktisch Planautonomie, die jedoch durch die noch vorhandenen Fachdirektionen (Mittelinstanzen) sowie durch zahlreiche bürokratische und »sub-jektivistische« Eingriffe der Zentralorgane in das betriebliche Geschehen eingeschränkt war.(8)

Das Nutzungsrecht über das erwirtschaftete Nettoeinkommen des Unternehmens lag gemäß dem (im folgenden noch zu erörternden) Bruttoeinkommensprinzip bei den Unternehmensleitern und den Beschäftigten, die damit an möglichst guten betrieblichen Gesamtleistungen sowie an der Erhaltung und Mehrung des staatlichen Eigentums interessiert werden sollten. Die Besitzrechte (Veräußerung, Gründung von Unternehmen) blieben ausschließlich staatlichen Organen vorbehalten.

Wohl nicht zuletzt wegen dieser veränderten ökonomischen Inhalte des Staatseigentums ergab sich in der CSSR bei der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft eine eingehende Eigentumsdiskussion, in der die Idee des gesellschaftlichen Eigentums sehr stark betont wurde.(9) Während einige am Begriff des Staatseigentums festhielten, weil der Staat in seinen Organen, also auch in den Unternehmen, existiere, vertraten andere die Auffassung, die Unternehmen seien hinsichtlich ihrer öffentlich-rechtlichen Beziehungen (Abführungen an den Staatshaushalt, Einsetzung der Unternehmensleiter u. ä.) als Staatseigentum und hinsichtlich ihrer zivilrechtlichen Beziehungen (Verträge über Lieferungen und Leistungen, Arbeitsverträge, Haftung u. ä.) als Unternehmenseigentum zu begreifen. Auch die Form des ausschließlichen Unternehmenseigentums wurde vertreten und mit der ökonomischen und finanziellen Selbständigkeit der Unternehmen begründet; selbständiges Wirtschaften auf eigene Rechnung (zum Vorteil oder Nachteil der Beschäftigten) erfordere auch die rechtliche Selbständigkeit der Unternehmen, die somit als juristische Personen Eigentümer ihres Produktivvermögens seien. - Diese Diskussion kam jedoch, wie auch die noch 1969 diskutierte Einführung von Betriebsräten, nicht über erste Ansätze hinaus.

3. In Ungarn gilt dagegen nach wie vor das Dogma des »unteilbaren und einheitlichen sozialistischen Staatseigentums«. Daran änderte sich formal auch nichts, als die Rechtsstellung der staatlichen Unternehmen 1967 neu definiert und den Unternehmen im Zuge ihrer wirtschaftlichen Verselbständigung die Verfügungsgewalt über Teile dieses Eigentums übertragen wurde. Gleichwohl wurde hiermit eine inhaltliche Änderung des Eigentumsbegriffs begründet. Die Unternehmensleiter, die durch staatliche Organe »unter Anhörung der betrieblichen Gewerkschaftszelle« ernannt werden, haben alle das Unternehmen betreffenden Fragen (Produktion, Finanzierung, Ein- und Verkauf, Organisation usw.) »in eigener Verantwortung und selbständig« zu entscheiden sowie die »gesetzlichen Arbeitgeberrechte« auszuüben, wobei sie von einem Aufsichtsrat überwacht werden.(10) Sie können außerdem Tochtergesellschaften bilden, mit anderen Unternehmen fusionieren oder »gemeinsame Unternehmungen« in der Rechtsform der AG oder GmbH gründen, was allerdings der Genehmigung durch die staatlichen Lenkungsorgane bedarf. Von einigen weiteren Möglichkeiten staatlicher Eingriffe, insbesondere hinsichtlich einer eventuellen Sanierung oder Liquidierung, abgesehen, ist eine relativ weitgehende Autonomie der staatlichen Unternehmen gegeben. Sie schließt auch das Nutzungsrecht über den erwirtschafteten Unternehmensgewinn ein, an dem vor allem die Unternehmensleiter, aber auch die übrigen Beschäftigten beteiligt sind. Hiermit sollen die Beschäftigten am Erfolg ihres Unternehmens interessiert werden, was insbesondere für die Unternehmensleiter gilt, die mit einem bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens auch für Verluste haften. - Aufgrund dieser Regelungen folgert Brunner:

»Läßt man die formalen juristischen Konstruktionen beiseite und richtet man sein Augenmerk auf die tatsächlichen Nutzungs- und Verfügungsverhältnisse oder auch den Freiheitskern, worin man den Inhalt des Eigentums zu erblik-ken pflegt, so kommt man zu der Erkenntnis, daß bei der Verteilung der inhaltlichen Eigentumselemente zwischen Staat und Betrieb der Löwenanteil dem Betrieb zugewiesen worden ist.«(11)

So sind denn, wenn auch nur vereinzelt, bereits Stimmen laut geworden, die die Unternehmung im gesellschaftlichen Sinn als Teil des Staatsapparates, im wirtschaftlichen Sinn jedoch als Eigentümer der Vermögenswerte in ihrem Verfügungsbereich bezeichnen.(12) 

2. Unternehmensverfassungen - Interessenlagen

Eng verknüpft mit den jeweiligen Interpretationen und ökonomischen Inhalten des sozialistischen Eigentums ist die ordnungspolitische Ausgestaltung der Unternehmensverfassungen, wobei die Interessenlagen der wirtschaftenden Menschen in den Unternehmungen maßgeblich geprägt werden von den jeweils realisierten Unternehmensformen, den Formen der betrieblichen Willensbildung und vor allem von den Formen betrieblicher Ergebnisrechnung.

1. In Jugoslawien gibt es keine unterschiedlichen Unternehmensformen, d. h. keine Handels- oder Kapitalgesellschaften privatwirtschaftlicher Art, sondern nur einen »universellen«, einheitlichen Typ des Unternehmens: die sogenannte Wirtschaftsorganisation oder, wie sie seit der Verfassungsänderung vom Juni 1971 heißt, die »Grundorganisation der vereinigten Arbeit«.(13) Innerhalb dieser Grundorganisation kann es selbständige Organisationen mit oder ohne eigene Rechtspersönlichkeit oder auch Organisationen mit eigenen Selbstverwaltungsrechten geben. Die Arbeiterselbstverwaltung der Unternehmen ist durch zahlreiche Gesetze geregelt, insbesondere durch das »Grundgesetz über die Unternehmen« sowie durch Gesetze über die Mittel der Unternehmung, über die Festsetzung des Gesamteinkommens und seine Verteilung, über die Arbeitsverhältnisse, die persönlichen Mindesteinkommen, die Wahl der Arbeiterräte und über den Warenverkehr.(14) Auf der Basis dieser und anderer Gesetze sind die Unternehmen selbständig: Die Arbeiterkollektive regeln unmittelbar oder über die von ihnen gewählten Arbeiterräte die inneren Verhältnisse ihrer Unternehmen, und zwar durch Statut oder andere »allgemeine Unternehmensakte«; sie entscheiden selbständig über die Verwendung und Nutzung ihrer Mittel und schließen selbständig Verträge mit Dritten.(15) Das eigentliche Willensbildungsorgan ist somit das Arbeiterkollektiv oder der von diesem gewählte Arbeiterrat. Der Arbeiterrat wählt wiederum (in der Regel für vier Jahre) den Unternehmensdirektor, der die laufende Geschäftstätigkeit wahrzunehmen hat; wichtige Fragen wie die Aufteilung des Unternehmenseinkommens auf Investitionen und persönliche Einkommen, werden jedoch vom Arbeiterrat entschieden.

Dem Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung entspricht hinsichtlich der betrieblichen Ergebnisrechnung das Einkommensprinzip,(16) Es unterscheidet sich vom Gewinnprinzip vor allem dadurch, daß die Arbeit zwar Kostenfaktor aber kein Aufwand ist. Die Einkommen der Beschäftigten sind abhängig von der Höhe des erwirtschafteten Unternehmenseinkommens, das sich aus dem auf dem Markt erzielten Gesamterlös der Produktion nach Abzug der Sachkosten, der Abführungen an Staat und Banken sowie sonstiger Kosten ergibt. Auf der Basis gesetzlicher Vorschriften, z. B. über die Akkumulationsrate und die persönlichen Mindesteinkommen, entscheidet der Arbeiterrat, welche Teile des Unternehmenseinkommens als persönliche Einkommen an die Beschäftigten ausgezahlt und welche den betrieblichen Fonds (für Investitionen, Geschäftsmittel, Reserven, soziale Einrichtungen usw.) zugeführt werden. Die persönlichen Einkommen werden nach einer vom Arbeiterrat beschlossenen Arbeitsplatzbewertung anhand eines Punktsystems auf die Beschäftigten, einschließlich des Direktors, verteilt.

Erfolgsgröße betrieblicher Gesamtleistungen ist hiernach das Einkommen des Unternehmens; Erfolgsinteressenten sind die Beschäftigten, deren materielles Erfolgsinteresse in den erzielbaren persönlichen Einkommen besteht. Die Beschäftigten sind somit einmal als Arbeiter (»Produzenten«) an möglichst hohen persönlichen Einkommen interessiert, und sie sind zugleich, vertreten durch den Arbeiterrat, als Unternehmer an hohen Investitionen, also an einer langfristigen Geschäftspolitik ihres Unternehmens interessiert, die Verzicht auf gegenwärtig hohe zugunsten künftig höherer persönlicher Einkommen bedeutet. Der hierin begründete Interessenkonflikt kann sich gesamtwirtschaftlich positiv oder negativ auf die Allokation der Faktoren Kapital und Arbeit auswirken, je nachdem, ob sich die individuellen Erfolgsinteressen oder die Rationalitätsinteressen der Unternehmung durchsetzen. Da die Höhe der persönlichen Einkommen auch von der Zahl der im Unternehmen Beschäftigten abhängt, kann sich - je nach konjunktureller Lage - eine Monopolisierung der Arbeitsplätze ergeben (was durch einen rechtlich stark ausgebauten Kündigungsschutz begünstigt wird) oder auch eine Überkapitalisierung der Unternehmen, die allerdings vielfach durch konkreten Kapitalmangel und sehr hohe Kreditzinsen gebremst wird.

Hiernach scheint diese historisch erstmalige Form der Unternehmensverfassung hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Effizienz des Systems nicht unproblematisch zu sein. Die Beschäftigten sind, wie sich in der Praxis gezeigt hat, nicht immer gewillt oder nicht in der Lage, ihre Doppelfunktion als Werktätige und Unternehmer wahrzunehmen. Vielfach tendieren Arbeiterselbstverwaltung und Einkommensprinzip dazu, sich in das Direktorialprinzip und das Gewinnprinzip zu transformieren. Auch Konflikte zwischen Beschäftigten und Unternehmensleitern kommen nicht selten vor, wie die zahlreichen, wenn auch meist nur kleineren Streiks der letzten Jahre erkennen lassen. Diese Probleme sollen nicht zuletzt mit Hilfe der Gewerkschaften gelöst werden.(17)

2. In der CSSR war das Problem einer adäquaten Unternehmensverfassung 1968 noch weithin ungelöst. Die 1965 durchgeführte Umstrukturierung der Industriebetriebe hatte zwar die Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft erleichtern sollen, sie erwies sich jedoch bei der Transformation als eines der Haupthindernisse. Was die Orthodoxen als »das erste Kind des neuen Systems« feierten, verurteilten die Reformer als »letzten Bastard des alten Systems«.(18) Sämtliche Nationalunternehmen - mit Ausnahme jener, die den örtlichen Verwaltungen unterstanden - waren auf administrativem Wege in 77 Trusts und 22 Konzerne unter der Leitung von Fachdirektionen zusammengeschlossen worden, die die beabsichtigte Selbständigkeit der Unternehmen stark einschränkten. Die befehlsgewohnten Betriebsleiter waren daher vielfach nicht in der Lage, selbständige unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Dies sollte durch ein Gesetz über die Neuordnung der Betriebe geändert werden, dessen Entwürfe noch im Herbst 1969 diskutiert wurden.(19) Hiernach sollten die administrativ verfügten Un-ternehmenszusammenschlüsse wieder aufgelöst und durch freiwillige, ökonomische Zusammenschlüsse ersetzt werden. Außerdem sollte ein von den Beschäftigten gewählter Betriebsrat - ähnlich dem Aufsichtsrat einer AG - alle Rechte und Befugnisse der »demokratischen Verwaltung« wahrnehmen, während der vom Aufsichtsrat für mindestens fünf Jahre gewählte Direktor das gesamte wirtschaftliche Geschehen selbständig und in eigener Verantwortung leiten sollte. Hiermit war die Absicht verbunden, Demokratisierung und Fachlichkeit der Leitung klar voneinander zu trennen. Dies gewährleiste, daß - im Gegensatz zum jugoslawischen Selbstverwaltungsunternehmen - auch die Arbeitskräfte in die optimale Allokation der Produktionsfaktoren einbezogen und die Investitionen nicht vernachlässigt würden. Damit werde eine zugleich »ökonomisch rationelle und gesellschaftlich sinnvolle« Ordnung der Betriebe geschaffen.(20)

Das 1967 eingeführte Bruttoeinkommensprinzip entsprach im wesentlichen dem jugoslawischen Einkommensprinzip, wenn es auch in der CSSR weniger konsequent angewendet wurde.(21) Die Einkommen der Beschäftigten waren ebenfalls keine Kosten, sondern Ergebnisgrößen. Sie ergaben sich jedoch aus tariflich fixierten Löhnen und Gehältern, die bis zu 92 °/o garantiert waren, sowie aus einer Erfolgsbeteiligung; nur insoweit waren sie also abhängig von Markterfolgen. Das über die Tariflöhne hinaus erzielte Nettoeinkommen der Unternehmen konnte - unter Berücksichtigung gewisser Mindestzuführungen - auf den Fonds der Erfolgsbeteiligung, den Investitionsfonds, den Reservefonds sowie den Kultur- und Sozialfonds nach eigenem Ermessen aufgeteilt werden.

Die Idee des Bruttoeinkommensprinzips beruhte in der CSSR vor allem auf der Annahme einer »Harmonie von individuellen, kollektiven und gesamtgesellschaftlichen Interessen«.(22) Dieses einheitliche Interesse an der Maximierung des Bruttoeinkommens werde dadurch begründet, daß Staat, Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen an dem erzeugten Mehrprodukt partizipierten. Doch zeigte sich auch hier, daß die Interessen der Beschäftigten vor allem auf die Maximierung des Fonds der Erfolgsbeteiligung gerichtet waren (23) und die Einkommen der Beschäftigten sprunghaft anstiegen, zumal die Nettoeinkommen der Unternehmen aufgrund der Großhandelspreisreform von 1966 hoher als erwartet waren.(24) Um der hierdurch hervorgerufenen Tendenz zu arbeitsintensiver Produktion zu begegnen und das Interesse an der Einführung neuer Techniken zu stimulieren, wurde schließlich erwogen, das Bruttoeinkommensprinzip durch das Gewinnprinzip zu ersetzen.(25)

3. Die ungarische Unternehmensverfassung ist wesentlich anders konstruiert als die der CSSR oder Jugoslawiens. Die Rechtsstellung der Unternehmen ist der einer AG angepaßt:26 die Unternehmensführung agiert als Vorstand, während der Staat die Rechte des Aufsichtsrates wahrnimmt, d. h. er entscheidet über Neugründung, Fusion, Entflechtung und Liquidierung, wählt die Unternehmensleiter aus und kontrolliert die Geschäftsgebarung. Der Aufsichtsrat besteht auf 5 bis 9 Personen, darunter ein oder zwei Vertreter der Gewerkschaften. Der von ihm eingesetzte Direktor leitet das Unternehmen in eigener Verantwortung und entscheidet selbständig über den Wirtschaftsplan der Unternehmung, über Produktionsprogramm und -technik, Finanzierung, Ein- und Verkauf sowie über alle damit zusammenhängenden rechtlichen und organisatorischen Fragen. Das Unternehmen kann von sich aus Tochtergesellschaften gründen, zwei oder mehr Unternehmen können eine neue, »gemeinsame Unternehmung« gründen, und sie können sich zu einer Wirtschaftsvereinigung zusammenschließen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, wie z. B. die Auslastung von Produktionskapazitäten, die Koordinierung von technischen und Entwicklungsfragen, die gemeinsame Abwicklung von Exportgeschäften u. ä.(27) Die Wirtschaftsvereinigung ist im Gegensatz zur »gemeinsamen Unternehmung« keine juristische Person; zwischen den ihr angehörenden Unternehmungen bestehen lediglich schuldrechtliche Beziehungen. - Die unternehmerische Willensbildung liegt nach wie vor primär beim Staat, der sie jedoch teilweise an den Unternehmensdirektor delegiert. Die 1963 wieder eingeführten Betriebsräte (28) können bei sozialen und personellen Fragen sowie bei der Aufteilung des Beteiligungsfonds mitbestimmen.

Im Gegensatz zu den jugoslawischen und tschechoslowakischen Unternehmen wird in Ungarn der Erfolg betrieblicher Gesamtleistungen nach dem Gewinnprinzip ermittelt. So wird der Bruttogewinn, der sich aus dem Markterlös nach Abzug aller Kosten (einschließlich der Löhne, aber ohne Steuern) ergibt, auf den »Beteiligungsfonds« der Beschäftigten und - neben einigen anderen kleineren Fonds - auf den »Entwicklungsfonds« für die Finanzierung von Investitionen aufgeteilt. Diese Gewinnanteile werden proportional zu den partiellen Faktoreinsätzen festgelegt, und zwar nach dem Wert des Kapitalstocks und der Lohnsumme, korrigiert um einen Umverteilungsfaktor zugunsten der Arbeit.(29) Von diesen Gewinnanteilen erhebt der Staat Steuern: vom Gewinnanteil für den Beteiligungsfonds eine progressive Steuer (bis zu 70 °/o), die sich zunächst nach der Steigerung des Durchschnittslohnes richtete, und vom Gewinnanteil für den Entwicklungsfonds eine lineare Steuer, die 60 °/o beträgt. Aufgrund der hieraus resultierenden Interessen der Unternehmen, die Gewinne (und damit die Steuern) zugunsten hoher Lohnkosten (wegen der Progression besonders der niedrigen Löhne) zu schmälern, wurde 1970 das Gewinnsteuersystem geändert: Die Steuer wird um 30 °/o der zusätzlichen Lohnkosten erhöht und um 30 °/o der eingesparten Lohnkosten vermindert; ferner kann ein Drittel des Durchschnittslohnzuwachses als Kosten verrechnet werden.(30) »Dadurch wurde den Unternehmen klar, daß der Staat von ihnen eine rationale Haltung in der Arbeitskraftbewirtschaftung fordert.« Wie Csikos-Nagy weiter feststellt, war diese Änderung des Gewinnsteuersystems zwar grundsätzlich richtig, aber: »Hat das frühere System zu der Erhöhung der Anzahl der Werktätigen geneigt, so benachteiligt das neue System die dynamischen Produktionszweige.«

Doch scheint es ihm vernünftiger zu sein, »das Gewinnsteuersystem auf längere Zeit unverändert zu lassen. Die Stabilität des Steuersystems ist nämlich eines der wichtigsten Kriterien des Wirtschaftsmechanismus, wenn er auf einem System der planmäßigen Marktregelung beruht.«(31) Die Gewinnbeteiligung betrug zunächst 80 °/o des Jahreseinkommens für die Unternehmensleiter, 50 % für die mittleren Angestellten und 15 °/o für die Arbeiter. Diese »Kategorisierung der Werktätigen« wur­de stark kritisiert, weshalb man 1970 eine einheitliche Gewinnbeteili­gung von maximal 25 °/o des Lohnfonds einführte. Um dennoch nicht gegen das »Leistungsprinzip« zu verstoßen, wurden die Gehälter der Unternehmensleiter um die frühere Prämienpauschale erhöht; zusätz­liche Gewinnprämien werden von den Ministerien gezahlt. Die Gewinn­beteiligung für die übrigen Beschäftigten wird von den Unternehmens­leitern - in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften - differenziert.(32) - Da die Unternehmensleiter auch mit einem bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens für Verluste einstehen müssen, dürfte gewährleistet sein, daß sie an möglichst guten betrieblichen Gesamtleistungen inter­essiert sind.

Mit diesen Regelungen hat man ein betriebliches Anreizsystem ge­schaffen, das die Interessen der Beschäftigten ebenso wie die der Un­ternehmensleiter an der Gewinmaximierung des Unternehmens akti­viert, womit zugleich den gesamtwirtschaftlichen Funktionen eines ra­tionalen Faktoreinsatzes und der Anpassung an das Marktgeschehen entsprochen werden dürfte.

Schema der betrieblichen Ergebnisrechnungen:

Anmerkungen
1) Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 56
2) Vgl. Blaich/Bog/Gutmann/Hensel: Wirtschaftssysteme S. 242
3)Vgl. Klemense', Rezeption S. 162

4) Vgl. Klemencic, Rezeption S. 162
5) Vgl. Wagner, Funktionen S. 136 f.
6) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 53
7) Vgl. Wagner, Tschechoslowakei S. 183 f.
8) Diese Einschränkungen sollten nach dem 1968 veröffentlichten »Konzeptionsentwurf für die weitere Entwicklung des ökonomischen Lenkungssystems« abgebaut werden. Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 337 ff.
9) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 58 f.
10) Hierzu und zum folgenden vgl. Vajna, Reform S. 41 ff.
11) Brunner, Wirtschaftsreform S. 12 f.
12) Vgl. Vajna, Reform S. 47
13) Vgl. Jäger, Arbeiterselbstverwaltung S. 29 f.; Baletic Udruzeni rad S. 21-25
14) Vgl. Ebenda S. 25
15) Vgl. ebenda S. 31
16) Vgl. hierzu Hagemann, Arbeiterselbstverwaltung; Hensel, Eigenarten S. 71 ff.; Wagner, Funktionen S. 139 ff. - Siehe Schema, unten S. 193
17) Vgl. Hensel, Funktionen S. 13 ff.
18)Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 51 f.
19) Vgl. Hamel, Marktwirtschaft, S. 331 f.
20) Vgl. Suchan, Probleme S. 9
21) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 59 ff. - Siehe Schema, unten S. 193
22) Levcik/Kosta, Wirtschaft S. 469
23) Mit dem Problem der betrieblichen Reaktionen auf das Bruttoeinkommensprinzip bei verschiedenen Maximierungsannahmen hat sich vor allem G. Gutmann beschäftigt. Vgl. Gutmann, Politik; ders., Bruttoeinkommensprinzip.
24) Bei dieser Großhandelspreisreform war man von den für 1966 geplanten Selbstkosten ausgegangen, denen 6 °/o der Grund- und Umlaufmittel und 22 %> des Lohnfonds als Gewinn zugeschlagen wurden. Da in den Plankosten für 1966 noch die überhöhten Kostenansätze der Betriebe aus dem alten System enthalten waren, ergaben sich entsprechend hohe Unternehmenseinkommen. Vgl. Hensel u-. Mitarb., Marktwirtschaft S. 116.
25) Vgl. Hamel, Marktwirtschaft S. 337, 340 f.
26) Vgl. hierzu Vajna, Wirtschaftsreform S. 86; ders., Reform S. 42 ff.

27) Vgl. Schmidt-Papp, Reformbewegung S. 209
28) 1956 hatte man schon einmal eine Arbeiterselbstverwaltung eingeführt, die aber 1957 wieder aufgelöst wurde. Vgl. Kiraly, Arbeiterselbstverwaltung
29) Vgl. Vajna, Wirtschaftsreform S. 87; Wessely, Gewinn S. 108 f. - Siehe Schema, un­ten S. 193
30) Vgl. Csikos-Nagy, Vervollkommnung S. 215 f.; Wessely, Gewinn S. 110
31) Csikos-Nagy, Vervollkommnung S. 217
32) Vgl. ebenda S. 215; Wessely, Gewinn S. 111 f.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress, Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972, S.183-192

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