Erkenntnistheoretische Grundbegriffe
§3 Der erkenntnistheoretische Grundsatz des Materialismus

von Béla Fogarasi

01/2021

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Im Gegensatz zu den in der bürgerlichen Philosophie herrschenden erkenntnistheoretischen Richtungen, die den Prozeß des Erkennens und das Verhältnis von Wirklichkeit und Bewußtsein getrennt behandeln, bildet nach der materialistischen Auffassung unsere auf das Verhältnis von Materie und Bewußtsein, Sein und Bewußtsein bezügliche Auffassung die Grundlage der erkenntnistheoretischen Untersuchungen. Im Folgenden fassen wir diejenigen erkenntnis­theoretischen Grundsätze des Materialismus zusammen, die wesent­liche Elemente nicht nur des dialektischen Materialismus, sondern der materialistischen Auffassung überhaupt sind. Die Zusammen­fassung gründen wir auf die Ausführungen in Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" und auf Stalins Werk „Über dialektischen und historischen Materialismus".

1. „Der Materialismus betrachtet in vollem Einklang mit der Naturwissenschaft die Materie als das ursprünglich Gegebene -Bewußtsein, Denken, Empfindung als das Sekundäre; denn die Empfindung ist in klar ausgesprochener Form nur mit den höchsten Formen der Materie (der organischen Materie) verbunden."(6) „Für jeden Naturforscher, der durch die Professorenphilosophie nicht ver­wirrt worden ist, sowie für jeden Materialisten ist die Empfindung tatsächlich die unmittelbare Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt, die Verwandlung der Energie des äußeren Reizes in eine Bewußtseinstatsache."(7)

Das ist der Grundsatz der materialistischen Auffassung: Die auf unsere Sinnesorgane wirkende Materie bringt die Empfindung hervor. Die Empfindung ist bedingt durch das Gehirn, durch die Nerven, die Nervenscheide usw., d. h. durch die auf gewisse Weise organisierte Materie, die Existenz der Materie hängt nicht von der Empfindung ab. Die Materie ist primär. Empfindung, Gedanke, Bewußtsein sind höchstes Produkt der auf besondere Weise organisierten Materie. Die materialistische Auffassung identifiziert demnach Bewußtsein, Emp­findung, Gedanken nicht mit der Materie, wie die Gegner des Materia­lismus es von diesem behaupten. Nach dem Materialismus ist das Bewußtsein das höchste Produkt der Materie. Darin ist auch ent­halten, daß das Bewußtsein nicht beliebiges Produkt einer beliebigen Materie ist, wie man das irrigerweise ebenfalls dem Materialismus zuzuschreiben pflegt. Schließlich erhellt aus dem Gesagten, daß auch der Satz des Vulgärmaterialismus irrig ist, der Gedanke sei eine „einfache Sekretion des Gehirns".

2. Aus der allgemeinen Auffassung des Materialismus folgt dessen erkenntnistheoretische Auffassung. „Unsere Empfindungen, unser Be­wußtsein sind nur das Abbild der Außenwelt, und es ist selbstver­ständlich, daß ein Abbild nicht ohne das Abgebildete existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von dem Abbildenden existiert. Die ,naive' Uberzeugung der Menschheit wird vom Materialismus be­wußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht."(8) „Im Gegen­satz zum Idealismus, der behauptet, daß nur unser Bewußtsein wirk­lich existiert, daß die materielle W7elt, das Sein, die Natur nur in unserem Bewußtsein, in unseren Empfindungen, Vorstellungen, Be­griffen existiert, geht der marxistische philosophische Materialismus davon aus, daß die Materie, die Natur, das Sein die objektive Realität darstellt, die außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm existiert, daß die Materie das Primäre, das Ursprüngliche ist, weil sie Quelle der Empfindungen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist, das Bewußtsein aber das Sekundäre, das Abgeleitete ist, weil es ein Abbild der Materie, ein Abbild des Seins ist, daß das Denken ein Produkt der Materie ist, die in ihrer Entwicklung einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht hat, und zwar ein Produkt des Gehirns, das Gehirn aber das Organ des Denkens ist, daß man darum das Denken nicht von der Materie trennen kann, ohne in einen groben Irrtum zu verfallen.(9)

Auf dieser Grundlage steht die Naturwissenschaft, deren Vertreter instinktive Anhänger des Materialismus sind, zumindest so lange, wie sie sich mit naturwissenschaftlicher Forschung und nicht mit philosophischer Spekulation befassen. Ausgangspunkt des Materia­lismus ist die Anerkennung der Außenwelt, die Anerkennung dessen, daß die Dinge außerhalb unseres Bewußtseins und von ihm unab­hängig existieren. Das ist der Standpunkt eines jeden Materialismus. Der Materialismus behauptet, daß außer uns wirkliche Gegenstände existieren und daß unsere Vorstellungen den Gegenständen ent­sprechen. In dieser Hinsicht vertreten Marx, Engels, Lenin und Stalin denselben materialistischen Standpunkt, der in der Philo­sophie eine Jahrtausende alte Tradition hat.

3. Daraus folgt, daß der Materialismus von keinem prinzipiellen Unterschied zwischen den Erscheinungen und einem unerkennbaren „Ding an sich" weiß. Ein Unterschied besteht nur zwischen Dingen, die wir bereits erkannt, und solchen, die wir noch nicht erkannt haben. Die Dinge an sich existieren und sind prinzipiell erkennbar -das bedeutet mit anderen Worten, daß die menschliche Erkenntnis die objektive Wahrheit widerzuspiegeln vermag und sie auch wider­spiegelt. „... der marxistische philosophische Materialismus (geht) davon aus, daß die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten durchaus erkennbar sind, daß unser Wissen von den Naturgesetzen, durch die Erfahrung, durch die Praxis überprüft, zuverlässiges Wissen ist, das die Bedeutung objektiver Wahrheit hat, daß es in der Welt keine unerkennbaren Dinge gibt, wohl aber Dinge, die noch nicht erkannt sind, und diese werden durch die Kräfte der Wissenschaft und der Praxis aufgedeckt und erkannt werden."(10)

Der Begriff des Dinges an sich unterscheidet sich bei Kant prin­zipiell vom Begriff des Dinges für uns, insofern das erstere nicht erkannt, und bloß das zweite erkannt werden kann. Diesen Unter­schied erkennt die materialistische Auffassung nicht an. Der Unter­schied zwischen dem Ding an sich und dem Ding für uns ist kein prinzipieller, kein endgültiger - das Ding an sich wird im Laufe der Erkenntnis zum Ding für uns.

4) Nach der erkenntnistheoretischen Auffassung des Materialismus ist die Quelle unserer Erkenntnisse die sinnliche Wahrnehmung. Die Quelle der Empfindungen aber ist die objektive Wirklichkeit, die der Mensch in seinen Empfindungen wahrnimmt. Die Empfindung ist das subjektive Abbild der objektiven Welt. Die Empfindungen geben eine getreue Abbildung der Wirklichkeit. Das sind die Grundsätze des Materialismus in bezug auf das Verhältnis von Empfindungen und Wirklichkeit. Wenn wir von getreuer Abbildung sprechen, so ver­stehen wir darunter, daß das Abbild annähernd getreu ist, und nicht, daß es ein vollkommenes und vollständiges Bild der widergespiegelten, abgebildeten Wirklichkeit gibt.

 

5) In der weiteren Darstellung des Materialismus sind die Begriffe der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit von entscheidender Wich­tigkeit. Die Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur und die Anerkennung dessen, daß diese Gesetzmäßigkeit sich im Kopfe des Menschen ungefähr getreu widerspiegelt, ist Materialismus. Die Anerkennung der Naturnotwendigkeit und die Ableitung der Notwendigkeit des Denkens aus der Naturnotwendigkeit ist Materia­lismus.

 

6. Die Welt ist die gesetzmäßige Bewegung der Materie, und unsere Erkenntnis vermag diese Gesetzmäßigkeit bloß widerzuspiegeln, nicht aber, wie es die Idealisten verkünden, die Wirklichkeit und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erschaffen, hervorzubringen.

 

Das sind in großen Zügen die Grundgedanken des Materialismus, die für den Materialismus überhaupt kennzeichnend sind. Die eben skizzierten Gedanken und Gesichtspunkte sind von Demokritos bis Feuerbach auch bei den materialistischen Denkern vor Marx zu finden. Marx, Engels, Lenin und Stalin, die die Theorie des dialektischen Materialismus begründet bzw. fortentwickelt haben, stehen gleichfalls auf diesem Boden. Lenin betont oft die Kontinuität, die von den älteren Theorien des Materialismus zum dialektischen Materialismus führt.

 

Das bedeutet jedoch nicht, daß der dialektische Materialismus in erkenntnistheoretischer Beziehung ganz im Rahmen des alten Materialismus verbleibt und nur in anderen Beziehungen über den alten, mechanistischen, metaphysischen Materialismus hinausgeht. Der dialektische Materialismus stellt auch in erkenntnistheoretischer Beziehung eine neue Epoche dar, eine revolutionäre Wendung in der ganzen Geschichte der Philosophie, und daraus folgt, daß auch die Auffassung der Widerspiegelung im dialektischen Materialismus nicht identisch ist mit der durch den alten Materialismus vertretenen Auffassung, sondern die Theorie der Widerspiegelung auf eine höhere,, qualitativ neue Stufe ihrer Entwicklung hebt.

Fußnoten

6) Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Dietz Verlag 1949, Seite 35.

7) Ebenda, Seite 40.
8
) Ebenda, Seite 59
9
) Stalin, Uber dialektischen und historischen Materialismus, in Geschichte der KPdSU, Dietz Verlag 1949, Seite 140.

 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Béla Fogarasi, Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe, Berlin 1953, S.369 - 373

Aus der Vorgeschichte des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt (Main):

"Zu Pfingsten 1923 versammelten sich im Geraberg/Thüringen knapp zwei Dutzend vorwiegend junge sozialistische Intellektuelle (fast alles KPD-Mitglieder), um in einer »Marxistischen Arbeitswoche« über Theorie und Praxis zu diskutieren. Neben den Initiatoren Felix Weil und Karl Korsch (mit ihren Frauen Käthe und Hedda) waren u. a. Georg Lukács Friedrich Pollock, Konstantin Zetkin, Richard und Christiane Sorge, Karl August und Rose Wittfogel, Béla Fogarasi und seine spätere Frau Margarete Lissauer sowie Kuzuo Fukumoto aus Japan anwesend."

§1 Was ist Erkenntnistheorie?

§2 Kurze Geschichte der materialistischen Erkenntnistheorie