Erkenntnissse und Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie (Teil V)

von Helmut Mielke 

02/2020

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V. Heraklit und die Eleaten

Für die ionischen Naturphilosophen befand sich die Welt nach ihrer naiv­urtümlichen Auffassung in ständiger Bewegung und Veränderung. Der erste griechische Denker, der die Bewegung und Veränderung jedoch bewußt zum Problem machte, war Heraklit (etwa 540-480 v. d. 2.). Er war nicht nur der erste, sondern auch ein radikaler Philosoph der Bewegung und Veränderung. Sein Ausspruch, daß es unmöglich sei, zweimal in denselben Fluß zu steigen, ist bis auf den heutigen Tag die charakteristischste Kennzeichnung der Denk­richtung geblieben, die die Bewegung und Veränderung der Welt als abso­lut betrachtet.20 Dies ist der Beginn des bewußt dialektischen Denkens. Lenin nannte Heraklit einen „der Begründer der Dialektik"(21). Den oft zi­tierten Ausspruch Heraklits: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immer­dar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen"(22), bezeichnete Lenin als „eine sehr gute Dar­legung der Prinzipien des dialektischen Materialismus"(23)

 

Hinzu kommt noch als weiteres fundamentales Element der Dialektik seine Lehre von den Gegensätzen als der Triebfeder aller Bewegung und Veränderung: „Alles Geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes."(24) Als Beispiel nennt er das Männliche und das Weibliche, das Warme und Kalte, die hohen und die tiefen Töne (die sich zur schönsten Harmonie vereinigen).

 

Im Einklang mit dieser philosophischen Grundhaltung steht auch seine Lehre vom Urprinzip. Die beweglichste Erscheinung unter den als Urstoff in Betracht kommenden Dingen war offensichtlich das Feuer. So ist es nahe­liegend, daß Heraklit dieses für das Urprinzip erklärt. Burnet führt dazu aus: „Die Quantität des Feuers in einer ruhig brennenden Flamme scheint dieselbe zu bleiben, die Flamme scheint zu sein, was wir ein ,Ding* nennen. Und doch ist ihre Substanz in beständigem Wechsel begriffen. Sie geht immer in Rauch über und an ihre Stelle tritt immerfort frische Materie von Brenn­stoff, der sie nährt. Das ist gerade das, was wir brauchen. Wenn wir die Welt als ein immer lebendes Feuer ansehen (fr. 20), so können wir verstehen, wie immer alle Dinge daraus werden während alle Dinge immerfort dahin zurückkehren."(25)

 

Im krassen Gegensatz dazu steht die Lehre der Eleaten vom einen, un­veränderlichen Sein: Alle Bewegung und Veränderung der Dinge sind bloßer Sinnenschein; es gibt keine Vielheit der Dinge, sondern das eine unteilbare Sein ist das einzig Existierende. Der Begriff des Seins bleibt hierbei völlig in spekulativer Anonymität, er ist ohne jede nähere konkrete Bestimmung, eine rein idealistische Konstruktion.

 

Wichtig für das Verständnis der Eleaten ist vor allem die Frage: Wie hängt ihre Philosophie mit der Wirklichkeit zusammen? Welche Probleme wollte sie lösen? Ohne eine Skizzierung der problemgeschichtlichen Situation muß notwendigerweise der Eindruck entstehen, es handele sich hierbei allein um geradezu lächerliche „philosophische" Hirngespinste.

 

Welche Schwierigkeiten waren es, denen die Eleaten durch eine ausgeklügelte logische Beweisführung begegnen wollten? Es war vor allem das Unend­lichkeitsproblem, das hier im Mittelpunkt der philosophischen Untersuchun­gen stand. Hält man sich die enormen Schwierigkeiten vor Augen, mit denen dieses Problem auch noch heute, im Zeitalter der nichteuklidischen Geometrie und der Relativitätstheorie, behaftet ist, so wird verständlich, daß hier ein Irrweg beschritten werden mußte, wenn er auch nur den Schimmer einer Lö­sungsmöglichkeit versprach. Unter dieser Voraussetzung - des Inbetracht-ziehens aller Denkmöglichkeiten - kann man in methodologischer und heuristischer Hinsicht diesem Lösungsversuch überhaupt keinen Vorwurf machen, pie Analogie zu Einsteins genialer radikaler Verwerfung einer physikalisch­kausalen Erklärung der Lorentz-Kontraktion innerhalb der bisherigen Newtonschen Raum- und Zeitvorstellungen und seiner Annahme der Relativität von Raum und Zeit liegt hier zu nahe. Diese war für den „gesunden Menschenverstand" genauso schockierend wie die Schlußfolgerungen der Eleaten. Daß die deduktive Verfolgung aller sich anbietenden Denkmöglichkeiten jedoch auch zu groben Irrtümern führen kann, gerade dafür ist die Lehre der Eleaten ein klassisches Beispiel.

 

Vor den Eleaten war das Unendliche von den Naturphilosophen nur postu­liert worden. Die Entdeckung der Irrationalzahlen durch die Pythagoreer warf die ganze Problematik des Unendlichen auf und bereitete die explizite Problemstellung vor.(26)

 

Obgleich die Lösung des Unendlichkeitsproblems durch die Eleaten nicht akzeptiert werden kann, müssen wir ihnen doch das Verdienst zugestehen, daß die explizite Formulierung desselben eine historische Leistung war. Sie haben es in den beiden wesentlichen Aspekten der räumlichen Unendlichkeit - nur diese quantitative Seite des Unendlichkeitsproblems wird von ihnen behandelt -, nämlich der unendlichen Ausdehnung und der unendlichen Teilbarkeit, untersucht.

 

Diese beiden Aspekte sind die zentralen Probleme der Zenonschen Apo-rien. Die Zenonschen Beweise für die unwirkliche Natur der Bewegung durch den Hinweis auf die Widersprüche, die sich aus der Annahme ihrer Realität ergeben, beruhen im wesentlichen auf dem Problem der unendlichen Teilbarkeit.(27) Zwei von den Beweisen Zenons gegen die Wirklichkeit der Bewegung haben den Gedanken gemeinsam, daß ein bewegter Körper im­mer eine unendliche Anzahl von Zwischenpunkten durcheilen müßte, und da man in einer endlichen Zeit - so schlußfolgerte er - das Unendliche nicht durchlaufen könne, sei Bewegung gar nicht möglich, und der sinnliche Ein­druck derselben sei Täuschung. Der bekanntere von beiden, auf den wir uns hier beschränken wollen, ist die berühmte Aporie „Achill und die Schild­kröte". Zenon behauptet, daß Achill, als Verkörperung des Schnelläufers, nicht in der Lage sei, die langsame Schildkröte einzuholen, sofern man ihr einen geringen Vorsprung gewähre. Achill möge zehnmal so schnell laufen wie die Schildkröte, und diese einen Vorsprung von 10m haben. Wenn Achill die 10m durchlaufen hat, ist die Schildkröte um 1m vorangekom­men, hat nun Achill diesen 1m zurückgelegt, so ist die Schildkröte bereits wieder um 10 cm weitergerückt usf. bis ins Unendliche; stets behalte die Schildkröte noch einen, wenn auch immer kleiner werdenden Vorsprung vor Achill. Was liegt hier vor?

 

Wir haben es hier mit einer auf ein Bewegungsproblem angewandten! Grenzwertbetrachtung zu tun, bei der die Zeit nicht berücksichtigt wird. Da eine Aussage über die Bewegung (oder Nichtbewegung) eines Körpers laut physikalischer Definition der Geschwindigkeit (v= s/t) gar nicht möglich ist ohne Berücksichtigung der Zeit, so muß man zu prinzipiellen Fehlern gelangen, läßt man diese außer acht. Abstrahiert man dabei von der Zeit, so ist die abstrakte Betrachtung der Streckenverhältnisse - wie in unserem Falle - völlig richtig. Da Zenon dem Vernunftschluß mehr traut als der sinnlichen Wahrnehmung, glaubt er, die Wirklichkeit der Bewegung verneinen zu müssen.

 

In Wahrheit erreicht - wie eine einfache Rechnung zeigt - Achill in unserem Beispiel die Schildkröte nicht, wenn sie 1/10 der Strecke bzw. weiterhin 1/100, 1/1000 zurückgelegt hat, sondern wenn sie 1/9 hinter sich gebracht hat.  Die unendliche Reihe 1/10, 1/100, 1/1000 ... konvergiert gegen 1/9 .

 

Der zweite Beweis Zenons geht aus von der Behauptung: „Der fliegende Pfeil ruht". Dies kommte daher, daß er sich ja zu jedem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befinde. Sich an einem Ort befinden und ruhen sei aber dasselbe.

 

Mit dieser Aporie aber greift Zenon das Kotinuumsproblem auf. Ein fliegender Pfeil ist eben stetig bewegt und nimmt keinen bestimmten Raum ein, sondern er passiert alle Raumpunkte, mag das Zeitintervall auch noch so klein gedacht werden. Um im Sinne Zenons zu ruhen, müßte das Zeitintervall = 0 gesetzt werden; dann ist aber keine Aussage über den Bewegungszustand - wie oben festgestellt wurde - möglich.

 

Interessant für das Bewegungsproblem ist noch der sogenannte „Rennbahn-Schluß", der direkt die Problematik des Galileischen Relativitätsprinzips vorwegnimmt. Auf drei parallelen Bahnen befinden sich drei gleich lange Streitwagen. Der erste (A) befindet sich in Bewegung, der zweite (B) ruht, der dritte (C) bewegt sich entgegengesetzt mit gleicher Geschwindigkeit wie  A. Die Zeit, in der A das Ende von B erreicht, beträgt das Doppelte von der die er benötigt, um das Ende von C zu erreichen. Die Frage nach der Geschwindigkeit von A läßt sich nun nicht mehr eindeutig beantworten. Die Antwort ist verschieden, je nachdem, ob sie auf den ruhenden Wagen B oder den entgegengesetzt bewegten Wagen C  bezogen wird. Zenon

schließt daraus, daß ein bewegter Körper denselben Weg sowohl in der ganzen als auch in der halben Zeit zurücklegen könne. Nach Zenon liegt hier ein Widerspruch vor, der für die Unwirklichkeit der Bewegung spreche. Zugrunde liegt diesem Fehlschluß die falsche Auffassung vom absoluten Charakter der sinnlich wahrgenommenen Bewegung.

Das Problem der unendlichen Ausdehnung spielt bei der Zenonschen Leug­nung der Realität des Raumes eine Rolle. Zenon argumentiert dabei fol­gendermaßen : Wenn alles Seiende in einem Raum wäre, so müßte der Raum (als Seiendes) wieder in einem Raume enthalten sein usf. bis ins Unendliche. Deshalb könne es keinen Raum geben. Der Grundfehler liegt hierbei darin, daß er den Oberbegriff „Seiendes" in undifferenzierter Weise auf alles überträgt, das als existierend angenommen wird, wobei er den qualitativen Unterschied zwischen den raumerfüllenden Dingen und dem Raum selbst nicht beachtet. Der Ausgangssatz gibt ja gerade eine Gegenüberstellung von Raum und Seiendem (existierenden Körpern) an. Läßt man diese Gegenüberstellung beiseite, so wird der Satz sofort tautologisch. Man müßte dann sagen: Alles Seiende ist im Seienden. Da der Raum als das Umschließende aller Körper gedacht wurde, hätte die Formulierung exakt so lauten müssen: alles Seiende, außer dem Raum selbst - sofern dieser als existent angenommen wird -, befindet sich im Raum. Der Trugschluß ist hierbei von ähnlicher Art wie im Falle des berühmten „Kreter", bei dem durch die Nichtbeachtung semantischer Forderungen (Verhältnis von Sprache und Metasprache) eine semantische Antinomie entsteht.

Anmerkungen

21) W. I. Lenin, Konspekt zu Lassalles Buch über die Philosophie des Herakleitos, S. 328.
22) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 1, 22, fr. 30.
23) W. I. Lenin, Konspekt zu Lassalles Buch über die Philosophie des Herakleitos, S. 331.
24) W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 133.
25) J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 131.
26) Siehe M. Cantor, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Bd. 1, S. 169.
27) Siehe J. Cohn, Geschichte des Unendlichkeitsproblems im abendländischen Denken bis
Kant, Hildesheim 1960, S. 24.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 141 -145

Siehe dazu: