Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

trend
onlinezeitung

Bericht vom 08. Januar 2020

Vor den „Aktionstagen“ am 09. und 11. Januar 20; neuer Schwung könnte das drohende Kippen der Situation verhindern – Gleichzeitig mit den Renten„reform“plänen: neue Angriffe auf die öffentlich Bediensteten - Produktion in der Mehrzahl der Raffinerien wurde gedrosselt, jedoch nicht gestoppt – Abgeordneter des Regierungslagers spricht von „Terrorismus“ - Aktion von Streikenden gegen BlackRock als möglichen Hauptprofiteur der „Reform“ in Frankreich

Neben den Eisenbahner/inne/n, denen kurz vor dem Jahreswechsel 2019/10 eine neue Leitung mit „Managementerfahrung“ im finanzkapitalistischen Privatsektor (PWC) und Privatisierungsabsichten vor die Nase gesetzt wurde, ist noch eine weitere, derzeit relativ stark mobilisierte Beschäftigtengruppen besonderen neuen Bedrohungen ausgesetzt. Auf diese Weise deutet sich, wie das Lager um Präsident Emmanuel Macron, Premierminister Edouard Philippe und die ihnen nahe stehenden Kapitalkreise künftig durchzuregieren gedenkt, falls es die derzeitige Auseinandersetzung um die Regierungspläne zum Umbau des Rentensystems gewinnt.

Von neuartigen Bedrohungen besonders betroffen sind, also, auch die öffentlich Bediensteten. Es ist zwar keine direkte Auswirkung der derzeit anhaltenden Auseinandersetzung um die Pläne des französischen Regierungslagers zum Umbau des Rentensystems; sondern es handelt sich um die beginnende Umsetzung eines im August 2019 beschlossenen Gesetzes, mit Hilfe neuer Regierungsdekrete. Dennoch ist es für die Streikenden oder Unterstützer/innen der Sozialproteste gegen die Renten„reform“ im Bildungswesen ein Alarmzeichen: Seit Anfang Januar 20 beginnt nun die Umsetzung von neuen Gesetzesbestimmungen plus mehreren Regierungsdekreten zu ihrer konkreten Ausführung, die den öffentlichen Dienst und insbesondere auch das staatliche Bildungswesen umkrempeln sollen.

Besonders zwei neue Regelungen haben es dabei in sich:

  • Leitungsfunktionen in den öffentlichen Diensten sollen künftig, im Namen der „Diversifizierung“ von Laufbahnen und Erfahrungen, mit Neuzugängen aus der Privatwirtschaft und dort aus dem gehobenen Management besetzt werden können. (Ähnlich wie bei der Eisenbahngesellschaft SNCF, einem bisherigen Staatsunternehmen, das infolge der Bahn„reform“ von 2018 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird – zunächst mit dem Staat als einzigem Aktionär, jedoch mutmaßlich im Vorgriff auf weitergehende Privatisierungspläne; siehe oben.)

Vgl. dazu bspw.:

Und nunmehr wird auch in den öffentlichen Diensten die rechtliche Möglichkeit eines „(beidseitigen) Aufhebungsvertrags“ – une rupture conventionnelle – zwischen dem Arbeit„geber“, d.h. in diesem Falle dem Staat oder einer staatlichen Gliederung, und einem/r Beschäftigten eingeführt.

In der Privatwirtschaft existieren solcherlei Aufhebungsverträge im geltenden Recht seit 2008. Dort handelt es sich um eine zweischneidige Angelegenheit: Die rupture conventionnelle bildet eine Einigung zwischen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“, die den Arbeitsvertrag beendet und gleichzeitig dessen Abwicklung und eventuelle Abfindungsansprüche regelt, unter Ausschluss des Gerichtswegs (jedenfalls nach Ablauf einer „Überdenkfrist“ für den/die Lohnabhängige/n). Dieses Prozedere erspart dem Arbeitgeber das Aussprechen einer Kündigung und das damit verbundene Prozessrisiko. Zugleich allerdings bildete die gesetzliche Einführung der rupture conventionnelle im Jahr 2008 (die einer vorausgehenden Einigung zwischen den Kapitalverbänden und mehreren Gewerkschaftsdachverbänden folgte) ebenfalls eine Erleichterung für Lohnabhängige in einer Reihe von Situationen. Nämlich erstens insbesondere für jene abhängig Beschäftigten, denen ihr jeweiliges Arbeitsverhältnis unerträglich geworden war, die jedoch auch nicht das Risiko einer Selbstkündigung/ Eigenkündigung (démission) eingehen konnten – denen jedoch zugleich der Arbeit„geber“ auch nicht den relativen „Gefallen“ einer arbeitgeberseitigen Kündigung (licenciement) tun mochte. Und sei es, weil dem Arbeit„geber“ selbst das Prozessrisiko dafür zu hoch war. Und zweitens bildete und bildet es auch eine Erleichterung für jene Lohnabhängigen, denen es gelingt, eine Einigung mit dem Arbeit„geber“ über eventuelle Abfindungs-/Entschädigungsansprüche zu treffen, was ihnen wiederum monate- oder jahreslanges Prozessieren vor den Arbeitsgerichten (mitsamt der Ungewissheit über den Ausgang) erspart. Zugleich ist jedoch die Möglichkeit eines Aufhebungsvertrags, drittens, in anderen Fällen wiederum auch zum willkommenen Drohungsinstrument von Arbeit„gebern“ geworden, als vermeintliches Angebot“: Bist Du willig, abzutreten, dann treffen wir eine Einigung; und gehst Du nicht freiwillig, dann bleibt mir immer noch das Instrument der Kündigung…

In den öffentlichen Diensten besteht die Besonderheit, dass es normalerweise, d.h. außer bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Grundes (nachgewiesene Straftat, sexuelle Belästigung oder Gewalt am Arbeitsplatz, …) keine Kündigungsmöglichkeit für den – staatlichen – Arbeitgeber gibt. Nun wird allerdings dieses Hindernis für eine vom Arbeitgeber ausgelöst Entfernung der/s Beschäftigten vom Arbeitsplatz dadurch gelockert und umgangen, dass einerseits diese Möglichkeit eines Aufhebungsvertrages geschaffen, andererseits auch der Vorgesetztenseite ein Initiativrecht dafür eingeräumt wird; die Arbeitgeberseite darf also den Abschluss eines Aufhebungsvertrags auch ihrerseits vorschlagen. Dies muss zwar durch den/die Beschäftigten akzeptiert werden, und entfaltet sonst keine rechtliche Wirkung. In Konfliktfällen kann man sich unschwer vorstellen, wie künftig wachsender Druck entfaltet werden dürfte, um eine/n Beschäftigte/n zur Annahme einer solchen Einigung zu bewegen und ihn oder sie dadurch aus dem öffentlichen Dienst zu drängen. Bislang wäre dies auf solche Weise nicht möglich gewesen, die Konfliktsituation hätte wohl eher zu einer wahrscheinlichen Umsetzung (früher oder später) in eine andere Abteilung oder Dienststelle geführt.


Das Ganze soll nunmehr „experimental“, also probehalber, für eine Dauer von sechs Jahren eingeführt werden; Abfindungsansprüche, auf die sich beide Seite einigen, werden auf maximal einen Monatsverdienst pro Jahr Dienstzugehörigkeit beschränkt. Vgl. dazu:
https://www.francetvinfo.fr/ und das Sylvester-Regierungsdekret zur (Höchst-)Abfindung: https://www.legifrance.gouv.

Vgl. zu dieser gesetzlichen Neuerung auch:

Aktion gegen Blackrotz

Zurück zur Renten„reform“: Diesbezüglich spielt der finanzkapitalistische Konzern BlackRock eine Schlüsselrolle, sowohl aufgrund seiner „Beratungs“tätigkeit für das Regierungslager im Vorfeld der Ausarbeitung dieser geplanten „Reform“ als auch als einer der möglichen Hauptprofiteure (unter anderen Versicherungskonzernen und Anbietern von Finanzdienstleistungen). Wird doch erwartet, dass viele Lohnabhängige künftig auf Finanzprodukte zur Anlagesicherung zwecks privater Altersversorgung zurückgreifen dürften, wenn sich – wie erwartet – die gesetzliche Rente zusehends weiter verschlechtert.

Nicht, dass die Idee als solche neu wäre: Einen ersten Meilenstein dazu bildete die im März 1997 durch die damalige Rechtsregierung unter Alain Juppé verabschiedete Loi Thomas, ein seinerzeitig heftig umstrittenes und u.a. durch Gewerkschaften angefeindetes Gesetz, das privaten Rentenfonds – die ihre Guthaben etwa an der Börse anlegen - eine gesetzliche Grundlage verleihen sollte. (Vgl. dazu http://www.vendome-investment.com/ und https://www.persee.fr/1 oder https://www.senat.fr/ ) Aufgrund der sehr starken sozialen Konflikte im Kontext der Jahre 1995 – 1997 und des damit zusammenhängenden Regierungswechsels (infolge der vorgezogenen Neuwahl vom 25. Mai und 1. Juni 1997, welche eine Koalition aus französischer Sozialdemokratie, französischer KP und Grünen an die Regierung spülte… welche dann in vielen Sektoren munter weiter privatisierte) wurde dieses Vorhaben damals jedoch gestoppt. Nach rund zwanzig Jahren wurde just daran von Regierungsseite ab 2017 jedoch wieder angeknüpft; vgl. https://www.previssima.fr/

Ein dann im Jahr 2019 verabschiedetes Gesetz, die Loi PACTE – die ansonsten viele Bestimmungen zur Reform des Unternehmensrechts enthält – gibt erneut privaten Altersvorsorgemechanismen eine besondere gesetzliche Grundlage.

Vgl. dazu ausführlicher von ATTAC Frankreich:

https://france.attac.org/nos-publications/

Streikende, vor allem aus den Transportbetrieben (SNCF und RATP), besetzten nun am gestrigen Dienstag, den 07. Januar 20 vorübergehend den Unternehmenssitz von BlackRock in Frankreich, zündeten Leuchtfackeln an und verstreuten symbolisch Geldscheine. Die spektakuläre Aktion, über die quasi live in Whatsapp-Gruppen der sozialen Protestbewegung berichtet wurde, rief auch in der etablierten Medienlandschaft einige Aufmerksamkeit hervor.

Vgl. dazu auch bspw. in bürgerlichen Medien: https://actu.orange.fr/ ; und bei einem französischsprachigen russischen TV-Sender: https://francais.rt.com/france

Und eine AFP-Meldung dazu: https://www.lefigaro.fr/

Ausblick

Ansonsten muss man allgemein derzeit vor allem darauf hoffen, dass der verstärkte Streik in den Raffinerien (zu dem die CGT bislang für die Periode vom 07. bis 10. Januar 20 aufruft, mit einer Option auf Verlängerung) tatsächlich anschlägt. Seit Dezember 2019 waren zwar mindestens sieben von acht Raffinerien in Frankreich von mindestens zeitweiligen Arbeitsniederlegungen betroffen, dies bedeutete jedoch bislang kein Anhalten ihrer Produktion oder der Treibstoffversorgung.

Derzeit ist in fünf Raffinerien die Produktion gedrosselt, keine ist jedoch vollständig abgeschaltet (was automatisch bedeuten würde, dass eine Woche zu ihrem Wiederanfahren benötigt wird); Ersatz-Öl wird über Pipelines aus der Schweiz eingeleitet oder aus Raffinerien von TOTAL in Belgien herantransportiert. Am gestrigen Dienstag, den 07.01.20 wurde jedoch der Abtransport des raffinierten Treibstoffs in allen acht Raffinerien erfolgreich beeinträchtigt. Vgl. dazu eine AFP-Meldung: https://www.lefigaro.fr/

Am Montag, den 06. Januar und am gestrigen Dienstag, den 07. Januar 20 kam es deswegen vor mehreren Raffinerien auch zu Blockadeaktionen und -versuchen, an denen in Grandpuits östlich von Paris zu Wochenanfang etwa auch der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und der radikale Linke Olivier Besancenot symbolträchtig teilnahmen; vgl. http://www.leparisien.fr/s und https://www.youtube.com/ sowie https://www.bfmtv.com/

In diesem Zusammenhang erhob ein Abgeordneter des Regierungslagers, ein gewisser Jean-Pierre Pont, inzwischen den öffentlichen Vorwurf des „Terrorismus“, im Zusammenhang mit dem Versuch eines Blockierens der Treibstoffversorgung, gegen „bestimmte Streikende“. Vgl. bspw. https://actu.orange.fr/ und https://actu.orange.fr/

Es bleibt darauf zu hoffen, dass dies den Streikenden in den Transportbetrieben – deren Arbeitskampf nunmehr die Dauer von 35 Tagen übersteigt, mitsamt den damit einhergehenden Einkommensverlusten, obwohl für diese Beschäftigtengruppen sogar Sonderzugeständnisse in Aussicht gestellt wurden (Anwendung der „Reform“regeln „erst“ für die ab 1980 respektive 1985 Geborenen), um die allgemeine „Reform“ zu retten – Abhilfe verschafft. Auf Dauer können diese die Streikbewegung nicht allein tragen. Dauerhaft im Streik sind derzeit allerdings allein die Beschäftigten – oder ein relevanter Teil von ihnen – bei SNCF und RATP, hinzu kommen Teile des Raffineriepersonals und in periodischen Abständen immer wieder Teile des Lehrpersonals im öffentlichen Bildungswesen. Hingegen ist der Hauptteil der Privatwirtschaft (Dienstleistungssektor und Privatindustrie) nach wie vor weitgehend reibungslos tätig, allerdings mit zum Teil früheren Laden- oder Dienst-Schlusszeiten aus Rücksichtnahme auf das Personal (im Hinblick auf das eingeschränkte Angebot an Transportmitteln).

Zugleich ist ein gewisser Popularitätsverlust der Streikbewegung – wenngleich die Unterstützung immer noch bei rund 50 Prozent verbleibt, glaubt man den Umfrageinstituten – zu verzeichnen. Ein Rückgang, den man auch im Alltagsleben beobachten kann, etwa bei Unterredungen mit Eltern und Erzieherinnen im Kindergarten; die Position „Macron wird ohnehin nicht nachgeben, also sollen die Streikenden aufhören, uns zu beeinträchtigen“ breitet sich allmählich aus. Sicherlich ist dies bei Teilen der öffentlichen Meinung auch ein Preis für die ausbleibende Feiertagsruhe zwischen Weihnachten 2018 und Neujahr 2019, wobei das Durchstreiken zugleich auch die Angehörigen des „harten Kerns“ der Protestbewegung besonders angespornt und motiviert hat, auch etwa im Zusammenhang mit einer ziemlich powervollen Streikdemonstration in Paris am 28.12.2019. Zusammen übrigens mit Teilen der verbliebenen „Gelbwesten“bewegung; an jenem Tag wurde einer ihrer inzwischen prominentesten Exponenten, Jérôme Rodrigues, beim Polizeieinsatz zum zweiten Mal am Auge verletzt.

Neuen Schwung könnten die Aktionstage am Donnerstag, den 09. Januar und Samstag, den 11. Januar 20 – im letztgenannten Fall soll er auch den Nichtstreikenden eine leichtere Teilnahme ermöglichen – bringen. Es wäre jedenfalls von möglicherweise entscheidender Bedeutung. Einen wichtigen Gradmesser werden sie auf jeden Fall darstellen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.