Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

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Bericht vom 10. Januar 2020

Echter Mobilisierungserfolg beim ersten gewerkschaftlichen Aktionstag im Jahr 2020 am gestrigen 09. Januar… den die bürgerlichen Leitmedien jedoch wegzuwischen suchen * Weitere folgen am Samstag, den 11. Januar und Dienstag, den 14. Januar mit noch näher zu definierenden Aktionsterminen auch am 15. und 16. Januar (lt. gestrigem Beschluss des Aktionsbündnisses mehrerer Gewerkschaften: intersyndicale)

Der Verfasser dieser Zeilen ist nicht dafür bekannt, dass er es unterstützen würde, wenn Leute in propagandistischer Absicht (und triumphalistischem Tonfall) Zahlen und Fakten zurechtlügen oder gar Misserfolge bzw. Niederlagen in Erfolge umzuschreiben versuchen. Der Verfasser dieser Zeilen ist wohl auch nicht für einen leichtfertigen Umgang mit Begriffen bekannt; er warnte etwa stets davor, in der Berichterstattung einen „Generalstreik“ anzukündigen, dort, wo real keiner ist (es aber einen bräuchte!).

Kurz: Es ist nicht von leichter Hand locker heruntergeschrieben, wenn der Verfasser dieser Zeilen behauptet, der erste Aktionstag der französischen Gewerkschaften im neuen Jahr 2020 - am gestrigen Dienstag, 09. Januar 20 – sei ein realer Mobilisierungserfolg. So war es tatsächlich. Es ist ebenfalls wohl nicht politischem Wunschdenken und propagandistischer Absicht geschuldet, wenn der Autor feststellt, dass maßgebliche bürgerliche Medien lügen, wenn sie seit gestern Abend bereits behaupten, die Mobilisierung ginge gegenüber Dezember 2019 zurück.

Im Hinblick auf die Hauptstadt Paris, wo der Autor zu einer Überprüfung anhand der beobachtbaren Realität in der Lage ist, sehen die Dinge so aus: Der Demonstrationszug von der place de la République über die gare du Nord den Nordbahnhof) bis in den Bereich der gare Saint-Lazaire (eines anderen Bahnhofs im Nordwesten von Paris) benötigte an der Ecke boulevard Maganta / rue Lafayette, wo er in Richtung Westen umbog, ziemlich genau zwei Stunden und 45 Minuten zum Vorbeiziehen. Es begann an jener Ecke um 15 Uhr und endete um 17.45 Uhr, als die Nacht bereits hereinbrach. Auf einer Straßenbreite liefen meist circa dreißig Menschen nebeneinander her, im Rhythmus von 25 bis 30 Reihen pro Minute. Dabei gab es dünnere Stellen, vor allem in hinteren Teil des Demonstrationszugs, jedoch auch kompaktere Momente (in denen Menschen auf beiden Trottoirs am Protestzug vorbeigingen oder auf Fahrrädern neben ihm herfuhren).

2 Stunden und 45 Minuten, das sind 165 Minuten. Rechnet man auf einer Basis von dreißig mal dreißig vorbeiziehenden Menschen pro Minute, dann käme man also auf eine Gesamtzahl von „148.500“. Aufgrund notwendiger Vorsicht bei der Berechnung muss man davon ausgehen, dass man 20 bis 25 Prozent abziehen könnte, weil die Demonstration nicht immer gleich dicht war und gleich schnell voranging. In jedem Falle kommt man einer realen (nicht propagandistischen) Zahl von über 100.000 heraus – in Bezug auf Paris, nicht auf ganz Frankreich, wo in insgesamt 216 Städten unterschiedlicher Größe demonstriert wurde.

Es kann demzufolge mathematisch nicht stimmen, wenn gleich am frühen Abend – pünktlich zum Abschluss der Demonstration – öffentlich behauptet, geschrieben und ausgestrahlt wurde, es seien „44.000“ Teilnehmer/innen in Paris gewesen und die Mobilisierung gehe erkennbar zurück. Diese Angabe stammt von dem redaktionsübergreifend mit dem Zählung für mehrere Medien beauftragten Beraterbüro Occurrence, das seit nunmehr drei Jahren ( vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/) ) – konkret seit 2017 und den massiven Protesten gegen die damalige zweite Stufe der Arbeitsrechts„reform“ von 2016/17 – in dieser Sache aktiv ist. Es wird tätig, um, so wird behauptet, „unabhängige Zahlen“ zur Demonstrationsbeteiligung für die Medien zu liefern. Diese liegen, so wird erwartet, dann zwischen oft zu niedrig angesetzten Polizeizahlen und zu hoch angesetzten Veranstalterangaben (dieses traditionelle Spiel zwischen Innenministerium und Veranstalter/inne/n ist altbekannt und existiert tatsächlich). Allerdings sind bereits seit 2017 die zumindest politischen Verbindungen zwischen diesem Beraterbüro und der Regierungspartei LREM (La République en marche) in der Debatte; vgl. https://www.francetvinfo.fr

In der jüngeren Vergangenheit lieferte Occurrence oft Zahlen, die tatsächlich irgendwo zwischen Veranstalter/innen- und innenministeriellen Angaben liegen.

Nun ist im augenblicklichen Zeitpunkt jedoch bemerkenswert, dass die Angaben dieses angeblich unabhängigen Beobachters im Auftrag der Medien derzeit sogar noch unterhalb von jenen der Pariser Polizeipräfektur (also der Behörde, die die Einsatzleitung innehat) liegen.

Am gestrigen Donnerstag, den 09. Januar 20 schrieb das französische Innenministerium nämlich von „56.000“ Demonstrierenden in Paris. Occurrence behauptete, es seien „44.000“ gewesen. Diese Zahl schrie einen dann auch bereits am frühen Abend von den Fernsehbildschirmen, wo vielerorts der Rund-Um-die-Uhr-Sender BFM TV eingeschaltet war (das „B“ steht für business, es handelte sich ursprünglich um einen Fernsehkanal zu Wirtschaftsthemen und erst später zur Allgemeinberichterstattung; er läuft in vielen Cafés und Gaststätten über die Bildschirme), entgegen. Vgl. https://www.bfmtv.com/societe/

Bei dem Sender wurde dann auch beharrlich wiederholt, die Mobilisierung sei „rückläufig“ (en baisse) gegenüber Dezember 19. Beim Informationsportal Orange.fr – einem vielgenutzten Internetportal, das Orange, also der privatisierten französischen Telekom, und damit einem der wichtigsten Anbieter von Internetzugang in Frankreich gehört – machte die Startseite dann am frühen Abend ebenfalls mit der Information „Mobilisierung überall im Rückgang“ auf. Klickte man dann dazugehörigen Artikel an, dann trug dieser bereits eine andere, neutralere Überschrift („Hunderttausende gehen für den Rückzug der Reform auf die Straße“; vgl. https://finance.orange.fr/), und der Inhalt selbst war erheblich ausgewogener. Doch für ein eiliges Publikum unserer Zeit, das nicht in der Tiefe liest, sondern bloß anklickt, dürfte es wohl erheblich auf die Überschrift ankommen, gelle?

Am Abend sprach die CGT – die erst zu einem späteren Zeitpunkt mit eigenen Zahlen herauskam – ihrerseits von „370.000“; was wohl auch eine politische Zahl ist, die herausgegeben wurde, um oberhalb ihrer eigenen Angabe vom letzten zentralen Aktionstag am 17.12.19 (damals „350.000“) zu liegen. Aber auch der Autor geht davon aus, dass in realen – nicht politisch behandelten – Zahlen die Mobilisierung in Paris am gestrigen 09. Januar 20 real etwas größer ausfiel als die letzte vergleichbare vom 17. Dezember 19. Damals benötigte der Protestzug ziemlich genau zwei Stunden zum Vorbeiziehen; die Straße (damals: der Boulevard zwischen place de la République und place de la Bastille) war jedoch noch einmal breiter als die gestern benutzte, der Demonstrationsfluss allerdings auch zeitweilig stockender. Die reale Größenordnung der Pariser Demonstration vom gestrigen Tag (09.01.20) dürfte bei rund 125.000 liegen und knapp oberhalb jener vom 17.12.2019. Frankreichweit dürfte die Mobilisierung insgesamt bei rund einer Million, reale Zahl, liegen.

Seinerseits behauptete das Innenministerium, in ganz Frankreich sei am gestrigen Tag „452.000“ Menschen gleichzeitig (in 216 Städten und Orten) auf die Straße gegangen; am 17. Dezember 19 hatte dieselbe Quelle von insgesamt „615.000“ gesprochen. Die CGT ihrerseits sprach im Laufe des Abends von „1,7 Millionen“ Menschen auf Demonstrationen in ganz Frankreich; am Abend des 17.12.19 hatte der Gewerkschaftsdachverband von 1,8 Millionen gesprochen.

Unter dem Strich dürfen wir festhalten: Auch am 36. Streiktag, der mit der (zum Großteil unbefristeten) Arbeitsniederlegung von relevanten Teilen des Personals v.a. in den Transportbetrieben SNCF und RATP sowie in Teilen des Schuldiensts und bei Teilen des Raffineriepersonals – jedoch nicht oder nur unzureichend in anderen Branchen – einhergeht, bleibt die Mobilisierung mächtig. Nach dem unvermeidbaren Einschnitt durch die Feiertagsperiode zwischen Weihnachten 19 und Neujahr 20 darf und muss man dies als neuen Schwung bezeichnen. Jedenfalls in Paris ist die Demonstrationsbeteiligung definitiv nicht rückläufig. Das streikgegnerische Lager, das sich in Teilen der französischen Gesellschaft nun deutlicher zu Wort melden (auf der einen Seite die ohnehin gegen Streik eingestellten Milieus, auf der anderen Seite nun auch vermehrt streik- respektive transportmüde Lohnabhängige), hat sich jedoch zur propagandistischen Volloffensive formiert.

Es versucht nun, mit allen Mitteln den Eindruck zu vermitteln, es gehe mit der Mobilisierung nur noch bergab. Und da Macron & Co. ohnehin nicht nachgeben würden, könne man sich auf Seiten der Streikenden nur entmutigen. Eine solche Botschaft verfängt jedenfalls auf Seiten der Streikenden und ihrer Unterstützer/innen bislang nicht; Teile der Gesellschaft werden durchaus von ihr beeinflusst.

Da auch ihnen klar ist, dass in gewisser Weise nun die Devise „Jetzt oder nie!“ gilt, haben die den Protest organisierenden Verbände (d.h. insbesondere der historisch älteste Gewerkschaftsdachverband CGT, der drittstärkste Gewerkschaftsdachverband Force Ouvrière/FO, der Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften vom Typ SUD – die Union syndicale Solidaires – sowie die Bildungsgewerkschaften-Vereinigung FSU und mehrere Jugend- sowie Studierendenverbände) im Rahmen ihres Aktionsbündnisses intersyndicale bereits neue Termine beschlossen.

Einen Aktionstag am Samstag, den 11. Januar 20 – welcher auch Nichtstreikenden eine leichtere Teilnahme ermöglichen soll – hatten dieselben Organisationen ohnehin bereits zuvor beschlossen. Neu kommt seit dem gestrigen Abend hinzu, dass auch bereits für einen weiteren zentralen Aktionstag am Dienstag, den 14. Januar 20 aufgerufen wird sowie zu weiteren Aktionen „in allen Formen“ am Mittwoch, den 15. und Donnerstag, den 16. Januar 20. Vgl. den Beschluss bzw. Aufruf der intersyndicale dazu: https://solidaires.org/

Ansonsten im Überblick:

Inzwischen befinden sich über zwei Millionen Euro in der derzeit „prominentesten“, aus Spendengeldern gefüllten Streikkasse, jener der CGT; insgesamt befinden sich 2,5 Millionen in Spendenkassen für die Streikenden. Vgl. https://www.lemonde.fr/ und https://www.bastamag.net/

Ihrerseits haben Gewerkschaften aus dem Nachbarland Belgien eine finanzielle Unterstützung für den Streik in Frankreich angekündigt; vgl. : https://www.rtbf.be/

Es gab heftige Polizeiübergriffe am Rande der Pariser Demonstration, bei der die „Ordnungskräfte“ (forces de l’ordre) im vorderen Teil von Anfang an provozierend Spalier liefen (wobei auch die Glasbruchfraktion in der Nähe des Saint Lazare-Bahnhofs aktiv wurde, jedoch nur in geringfügigem Umfang). Darauf wird in Kürze noch näher einzugehen sein. Vgl. dazu bereits an dieser Stelle hier: https://www.revolutionpermanente.fr/ und https://twitter.com/MT oder https://twitter.com/laurentbigotfr/

Sowie zu Polizeigewalt in Rouen: https://www.20minutes.fr/ und https://www.ouest-france.fr/

Zum Abschluss der Demo gab’s noch einen kleinen Stromausfall auf der zentral gelegenen place de la République, ausgelöst durch Streikende beim Energieversorgungsunternehmen EDF : https://twitter.com/AudeDeraedt/

Ausblick:

Auf diese Weise nun das Tempo zu beschleunigen, dürfte auch wirklich das einzige probate Mittel sein, nun die wirkliche Kraftprobe zu suchen und die Protestdynamik nicht verpuffen oder sich verzetteln zu lassen. Dies bedeutet aber auch, dass sich möglicherweise innerhalb einiger Tage – jedenfalls von ein bis anderthalb Wochen - erweisen wird, ob der Atem ausreicht, um die Kraftprobe zu gewinnen. Zwar ist auch an die Perspektive einer etwas länger schwelenden sozialen Krise zu denken (diese wird auch in TV-Debatten immer wieder beschworen). Allerdings eröffnet die Festlegung solcher zeitlich nahe beinahe liegender Aktionstags-Termine nun tatsächlich einen Abschnitt der expliziten, auf einen kürzeren Zeitraum gebrachten Kraftprobe.

Verhandlungen zwischen Regierung und Sozial„partnern“, zwischen Verbänden getrennt, werden nun am heutigen Freitag, den 10.01.19 fortgeführt; zwischen Regierungslager und rechtssozialdemokratisch geführter CFDT bleibt die Abschaffung eines fixierten Eintrittsalters (64) im Gespräch. Es wäre ein eher symbolpolitisches Zugeständnis und würde am Rest der „Reform“ nichts Wesentliches ändern, sofern es zugleich bei der erforderlichen Zahl von Beitragsjahren bleibt: derzeit mindestens 41,5, künftig 43 (diese Anhebung wurde bereits durch die Renten„reform“ von „Sozial“miniterin Marisol Touraine unter Präsident François Hollande 2013/14 festgelegt). Wer weniger als diese Mindestzahl von Beitragsjahren zusammen hat, kann ohnehin nur mit Strafabzügen in Rente gehen.

Am gestrigen Tag tönte zwar Emmanuel Macrons Haushaltsminister Gérald Darmanin noch einmal, die Regierung halte gerade auch an diesem Eintrittsalter 64 fest (vgl. https://actu.orange.fr/ ); während die CFDT-Spitze ihrerseits just zu dieser Frage polarisiert (vgl. https://finance.orange.fr/l). Und zugleich indirekt aber deutlich signalisiert, dass sie quasi alle anderen Aspekte der Reform„pläne“ schlucken würde…

Eine Reihe von Beobachter/inne/n – viele kritische gewerkschaftliche Stimmen, aber auch die demagogische „Unterstützerin“ Marine Le Pen (vgl. zu ihrer Position: https://www.rtl.fr/ und https://actu.orange.fr ) unterstreichen gleichzeitig, dass es sich um eine eingeplante Verhandlungsmasse handele. Auf welche die Regierung irgendwann verzichten werde. Die Frage, die sich nun stellt, ist die, ob die Regierung dazu einen Kompromiss (unter Opferung von Verhandlungsmasse) mit der CFDT anstrebt – oder Thatcher-ähnlich durchregieren möchte, also auch ohne Rücksichtnahme auf die CFDT. Auflösung in Kürze…

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.