Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

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Bericht vom 24. Januar 2020

Erneutes Aufflammen des Konflikts

Provokation oder Kommunikationsunfall?: Die französische Regierung plant nicht nur - wie bislang bekannt -, den Anteil der Renten am BIP bei 14 % einzufrieren. Sondern sie sieht in ihrem aktuellen Textpaket (Gesetzentwurf plus Begründung und Begleitstudie) gar vor, ihn auf 13 % abzusenken. Am heutigen Freitag verabschiedet das Regierungskabinett in außerordentlicher Sitzung, gewöhnlich tagt es sonst mittwochs, den Gesetzentwurf. Die soziale Protestmobilisierung flammt demgegenüber wieder mächtig auf. Der Nahverkehr in Paris ist im Laufe des Freitags stark beeinträchtigt. Am Vorabend fanden Nachtwanderungs-Demonstrationen als eine neue Aktionsform statt, und Kanalarbeiter (nein, nicht die von der SPD) traten in den Streik; auch sie sind in besonderer Weise durch die Renten"reform"pläne betroffen. Die entscheidende Frage lautet nun: Was ist jetzt zu tun, um zu verhindern, dass die Mobilisierung nach dem heutigen Stichdatum in ein Loch fällt, während die Parlamentsdebatte erst in circa einem Monat beginnt?

Frankreichs Regierungslager lässt derzeit in den Medien eine klare Haltung heraushängen: Der Konflikt ist ihr zufolge weitestgehend vorbei, die Auseinandersetzung um die Renten„reform“pläne „liegt hinter uns“; der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei LREM im Parlament tönt etwa: „Ich glaube, der Streik ist vorbei, der Verantwortungssinn trägt den Sieg davon“. (Vgl. etwa AFP-Meldung: https://www.lefigaro.fr )

Dass dies Unsinn ist und dass der Konflikt weiterhin vor sich hinköchelt, belegt die doch noch immer starke Protestmobilisierung auf den Straßen am heutigen Freitag, den 24. Januar 20. In der Hauptstadt Paris demonstrierten erneut mehrere Zehntausend Menschen – das französische Innenministerium zählte ihrer „31.000“; die Agentur Occurrence, die seit 2017 durch viele Zeitungsredaktionen mit Zählungen beauftragt wird, „39.000“; die CGT zählte „350.000 bis 400.000“. Nun, es dürften wohl um die 100.000 geweeeeeesen sein…

Und in ganz Frankreich (wo an insgesamt 350 Orten Protestzüge angemeldet waren) gingen laut Innenministerium „249.000“, laut Angaben der CGT „1,3 Millionen“ Menschen auf die Straßen. (Photos vom Verfasser folgen in den kommenden Tagen) Im Personennahverkehr, d.h. vor allem beim Pariser Métro-, Bus- und Nahverkehrszugsbetreiber RATP, nahm die zuletzt seit Wochenbeginn weitgehend weggebröckelte Streikbeteiligung wieder zu, und die Verkehrsausfälle ähnelten denen bis vorige Woche. Die Mehrzahl der Pariser Métro-Linien verkehrten nur zu Stoßzeiten mit einer eingeschränkten Anzahl von Zügen.

Doch kann diese nach wie vor erhebliche Mobilisierung, die vor allem im Bildungswesen noch eine ebenfalls erhebliche Streikbeteiligung beinhaltet – an diesem Freitag sprach das Bildungsministerium von einer Streikquote von „11 %“, die Lehrer/innen/gewerkschaften ihrerseits von „40 %“ im öffentlichen Schuldienst – nicht über offene strategische Fragen und Grenzen der Dynamik hinwegtäuschen, vgl. dazu unten mehr.

Die Haltung der Regierung ihrerseits dient ihr zur Begründung dafür, dass sie nun aller Auffassung nach „harte Kante“ durchzumarschieren gedenkt, ohne größere Rücksichtnahme selbst auf Kräfte wie die CFDT-Führung, die ihr noch vor circa ein bis zwei Woche (mit dem „Kompromiss“ vom 11. Januar 20) als, pardon, nützliche Idioten dienten. Im Namen und ihm Rahmen des damals angekündigten „Kompromisses“ hatte das Regierungslager vor nunmehr knapp Wochen verkündet, die Altersmaßnahme in Gestalt des âge pivot („Scharnier-“, „Drehtür-“ oder „Gleichgewichtsalter“, unterhalb dessen die Geltendmachung eines Rentenanspruchs nicht gesetzlich verboten ist, jedoch mit Strafabzügen belegt wird) sei „zurückgenommen“. In Wirklichkeit war sie dies nur für den Zeitraum 2022 und nur bis 2027.

Regierung schlägt härtere Töne an

Doch nun hat sich der Ton seitens des Regierungslagers schlagartig wieder verändert. Nun behauptet es nämlich gar nicht länger, das „Scharnieralter“ sei vom Tisch, vielmehr bestätigte Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am heutigen Freitag (24.01.20) ausdrücklich, es sei und bleibe „im Gesetzentwurf enthalten“. Ätsch. (Vgl. https://actu.orange.fr/ und https://www.challenges.fr/) Gemeint ist jener Entwurf, den das französische Regierungskabinett am heutigen Freitag in einer Sondersitzung – üblicherweise tagt der Ministerrat (conseil des ministres) ohnehin am Mittwoch und nicht freitags – annahm, um ihn ab Mitte Februar 20 ins Parlament einzubringen.

Es kommt noch „besser“: Wie die arbeit„geber“nahe Wirtschaftstageszeitung Les Echos am Vormittag verkündete, sieht die den Gesetzentwurf begleitete „Studie zur Folgenabschätzung“ vor, dass das „Scharnieralter“ (welches nicht gesetzlich festgelegt, sondern durch die Regierung bzw. einen ihr unterstellten Technokraten-Rat ausbalanciert und nachjustiert wird) künftig zunächst bei 65 liegen dürfte. Bislang war von 64 die Rede. Hinzu kommt, dass dem Papier zufolge künftig 13 % des Bruttoinlandsprodukts den Rentner/inne/n gewidmet werden sollen, derzeit sind es 14 %. Begründung: Man wolle ihren Anteil ja nicht absenken, aber da die derzeit in Rente befindlichen geburtenstarken Babyboom-Jahrgänge (aus den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg) im kommenden Jahrzehnt wohl wegstürben und schwächeren Jahrgängen Platz machten, sinke auch der Finanzierungsbedarf für die Rentner/innen als schrumpfende Bevölkerungsgruppe. Merke: Bislang wurden und werden „Einsparungsimperative“ bei den Rentensystemen durch das Regierungslager dadurch begründet, dass eine „alternde Bevölkerung mit höherer Lebenserwartung“ künftig einen steigenden Finanzierungsbedarf hervorrufen werde, man jedoch den Anteil bei 14 % des BIP konstant halten wolle. Was stimmt denn nun…? Nun, fest wohl nur eines: Die Regierung will Geld aus dem öffentlichen Rentensystem herauspressen, und einen Markt für private Altersabsicherungen eröffnen. (Vgl. zum Bericht der Tageszeitung Les Echos: https://www.lesechos.fr/ )

Die Demonstrationen vom heutigen Freitag darf man sicherlich als Erfolg betrachten. Am Vorabend (Donnerstag Abend, 23.01.20) fanden in einer zweistelligen Anzahl französischer Städte überdies Nachtwanderungs-Demonstrationen im Fackelschein statt, um noch mal eine neue Kommunikationsmethode auszuprobieren und Bilder zu liefern; lt. Beobachtungen des Autors kamen dazu in Paris rund 4.000 Menschen. Am Mittwoch hatten die Kanalisationsbeschäftigten (nein, nicht die „Kanalarbeiter“ im Sinne der SPD, wo dieser Begriff lange Jahre hindurch den rechten Mafiaflügel bezeichnete…) in Paris ihre Arbeitswerkzeuge in einer Aufsehen erregenden Aktion vor dem Wirtschafts- und Finanzministerium hingeworfen. Ihre Lebenserwartung soll laut Studien, die derzeit in der Presse kontrovers diskutiert werden, um 17 Jahre unterhalb derer des allgemeinen Durchschnitts im Lande liegen. (Vgl.: https://www.lesechos.fr/ und mit Kritik an der Zahl: https://www.liberation.fr/ ) – aufgrund von Untertagearbeit, verschmutzter Arbeitsumwelt und Krankheitskeimen. Bislang durften sie ab 52 einen Rentenanspruch geltend machen, ein Recht, das nunmehr durch die „Reform“ kassiert würde.

Offene Fragen

Trotz schöner Aktionen und motivierter Demonstrant/inn/en wurde in den Reihen der Demonstration mitunter in kritischen Tönen über den Fortgang der Protestbewegung und ihre Erfolgsaussichten diskutiert. St., ein mit dem Verf. befreundeter anarchistischer Verwaltungsrichter (dochdoch, gibt’s) sah etwa die Bewegung – obwohl er ihr Anderes wünschen würde – an dem Demo-Tag auf ihrer, fröhlichen, Beerdigung und befürchtet einen Show-down, ein letztes Aufbäumen. Pa., Hauptamtlicher bei einer CGT-Publikation, sieht dagegen nach wie vor gute Erfolgsaussichten, wobei die Bewegung jedoch notwendig ihren Charakter wandele: Die Last der Einkommensverluste infolge von Streikausfällen können nun nicht mehr auf den Schultern der Beschäftigten der Transportunternehmen SNCF und RATP liegen, die 45 Tage lang die Hauptlast trugen. (Anm.: Am selben Tag wurde etwa ein Scheck von 80.000 Euro aus einer der derzeit ausgeschütteten Streikkassen an ein Kollektiv von streikenden Eisenbahnbeschäftigten im Arbeiter- und Eisenbahnervorort der westfranzösischen Stadt Tours zugestellt. Es wurden bewegende Szenen beobachtet.)

Das heutige Datum konnte nochmals den Protest kristallisieren, da an diesem Tag die Annahme des Entwurfs im Kabinett erfolgte. Nun werden allerdings drei bis vier Wochen bis zur Eröffnung der Parlamentsdebatte vergehen; lt. ersten Informationen ist vom 17. Februar als ihrem Beginn die Rede. Und dies ohne Transportstreik, denn dieser dürfte weitgehend zu Ende gehen. In den Schulen bestehen bedeutende „harte Kerne“ bzw. „Streiknester“ fort, doch wird dies das Regierungslager letztendlich beeindrucken, wo es doch sozusagen kein Geld kostet? In manchen Sektoren funktionierte der Streik nur unzureichend, etwa in den Raffinerien, wo die CGT es im Dezember 19 und vor allem in der Woche vom 07. zum 10. Januar 20 tatsächlich ernsthaft mit dem Blockieren dieses Sektors probiert hat. Daran nahmen jedoch laut kritischen Diskussionsbeiträgen nahezu nur aktive Gewerkschaftsmitglieder teil. Drohungen mit Raffinerieverlagerungen und das „Argument“ der Arbeitsplätze-Erpressung (aber vielleicht auch stalinistische Strukturen der betreffenden Branchengewerkschaft, wagt der Verf. mal nebenbei in den Raum zu werfen) schlugen hier negativ durch.

Gerüchteweise soll jedoch bereits am kommenden Mittwoch, den 29. Januar 20 wieder ein Aktionstag durchgeführt werden, was die Flamme am Leben halten würde – denn ein dreiwöchiger „Tunnel“ bis zur Parlamentsdebatte könnte nun Gift bedeuten. Zu hoffen ist auch, dass neue Aktionsformen unter Einschluss von Boykotten, Kommunikationsguerilla und Blockadeaktionen weiterhin den Druck aufrechterhalten. Noch ist die Antwort auf die Frage, wie das Kräfteverhältnis sich mittelfristig entwickeln wird, nicht definitiv gegeben. Doch fest steht, dass auf der anderen Seite ein mittlerweile fester denn je entschlossener Gegner steht.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.