Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

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Bericht vom 27. Januar 2020

Schlechte Karten für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung: Der „Staatsrat“ (d.h. das höchste Verwaltungsgericht) pflückt den Gesetzentwurf zur Renten„reform“ unbarmherzig auseinander – Die CFDT verliert an Mitgliedern – Ein Abgeordneter des Regierungslagers flippt aus und stellt einmal mehr unsägliche Terror- und Jihadisten-Vergleiche an – Emmanuel Macron glaubt, ernsthaft gegen die These argumentieren zu müssen, Frankreich sei ein autoritäres Regime. Nun, wenn er’s nötig hat…

Es ist dermaßen dämlich, dass es beinahe schon wieder lustig wird. Und dieses Mal ist es nicht „bloß“ eine durchgeknallte Lokalpolitikerin des Regierungslagers wie im Dezember 19 (vgl. http://trend.infopartisan.net/), die – in der Öffentlichkeit allerdings viel beachtete – waghalsige Parallelen zwischen Muslimen respektive Islamisten und Streikenden in den öffentlichen Diensten Frankreichs herstellt. Dieses Mal ist es ein waschechter Abgeordneter der Regierungspartei LREM in der französischen Nationalversammlung (wenngleich dort eher Hinterbänkler), welcher in aller Öffentlichkeit aberwitzige Vergleiche zwischen „radikalisierten“ Islamisten, Jihadisten, Terror und Streikenden anstellt.

Islamisten und radikale Gewerkschafter, der gleiche Kampf gegen die Republik und die Demokratie?“ twitterte der Parlamentarier Jean-Baptiste, der das zentralfranzösische Département Creuse in der Nationalversammlung vertritt, drauf los. Bezug nahm er dabei auf die Tumulte aus Anlass eines Besuchs von Staatspräsident Emmanuel Macron im Pariser Theater Les Bouffes du Nord am Abend des Freitag, den 17. Januar d.J., infolge eines per Twitternachricht abgegebenen Hinweises des algerischstämmigen linksradikalen Journalisten Taha Bouhafs, der drei Reihen hinter Macron im Saal hockte. Alles klar, dachte sich da unser schlaues Parlamentarierchen wohl, algerischstämmig = Islamist = notwendig Terrorist = tolle Erklärung für die böse Gewalt, die da von den uneinsichtigen Streikenden und Protestierenden ausgeht. (Wie, liebe Leser/innen, Sie erkennen da gar keine Gewalt? Na, psychische Gewalt ist es doch mindestens, oder?!) Die vorübergehende Flucht Emmanuel Macrons – aus dem Aufführungssaal in obere Etagen des Theaters – wurde durch eine sehr breite Öffentlichkeit wahrgenommen, und unter Rückgriff auf die französische Geschichte alsbald mit der „Flucht nach Varennes“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Flucht_nach_Varennes) verglichen.

Inzwischen, bis zum vergangenen Wochenende, wurden diese Ausfälle des oberklugen Parlamentariers nun auch in breiteren Kreisen bekannt, nachdem zunächst die zentralfranzösische Regionalzeitung La Montagne darüber berichtet hatte. (Vgl. https://www.lamontagne.fr/

Seinerseits hatte der konservative Abgeordnete und Fraktionsvorsitzende Damien Abad zur Mitte voriger Woche die durch Streikenden bei den Energiewerken ausgelösten Stromabschaltungen als „Akte der Barbarei“ bezeichnet (vgl. https://www.lefigaro.fr/); Begriffe, die normalerweise bei Folter oder Massakern Anwendung finden…

Höchstrichterliche Schelte für die Regierungspläne

Unterdessen kommt auf die Regierung neues Ungemach zu. Der „Staatsrat“ (Conseil d’Etat), so lautet in Frankreich die Bezeichnung des höchsten Verwaltungsgerichts, hat im Laufe des Freitag, 24.01.20 eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Regierung bei der Renten-Konterreform abgegeben. Diese Institution heißt so, weil sie historisch zuerst – bis ins 19. Jahrhundert hinein – ein Beratungsorgan des Monarchen darstellte, bevor sie sich zunehmend selbständig machte und zur eigenständigen, vollen Gerichtsbarkeit (mit der Aufgabe einer Kontrolle der Rechtsbindung des Staats) ausgebaut wurde. Doch bis heute hat sich, ähnlich einem Evolutions-Überbleibsel wie einem Blinddarm, ein Rudiment der vormaligen Beraterfunktion des „Staats-Rats“ in früheren Zeiten erhalten: Regierungen schalten ihn regelmäßig ein, um einen Gesetzentwurf von ihm juristisch – vor Beginn der parlamentarischen Beratung – auf Herz & Nieren überprüfen zu lassen, um nämlich möglichst geringe Risiken einer Rechts-, d.h. Verfassungs- oder internationalen Vertragswidrigkeit einzugehen. (Letztere könnte das Verfassungsgericht, also den Conseil constitutionnel, späterhin dazu führen, das Gesetz zu kassieren. Dazu ist der Staatsrat selbst nicht befugt.)

In diesem Falle erteilte das oberste Verwaltungsgericht, d.h. der „Staatsrat“, der Regierung jedoch ausdrücklich miserable Zensuren. Er monierte das Verfahren, einen „Löchertext“ zu präsentieren; denn der Gesetzentwurf zur Renten„reform“ (in Wirklichkeit ein doppelter Text: ein einfaches Gesetz zum Inhalt der Reform und ein zusätzliches „Organgesetz“, also ein Gesetz, das eine neue Institution schafft, ein die Regierung beratendes Technokratengremium zur Rentenentwicklung) enthält an vielen Stellen gar keine Bestimmungen, sondern verweist auf später zu verabschiedende ordonnances. Solche sind Verordnungen mit Gesetzeskraft, d.h. durch die Exekutive und nicht durch das Parlament verabschiedete Regelwerke, die jedoch denselben Rang & Stellenwert wie ein Parlamentsgesetz aufweisen. Was die geltende französische Verfassung der Fünften Republik unter bestimmten Umständen, dazu gehören eine „Dringlichkeits“erklärung und eine allgemeine Ermächtigung durch das Parlament, zulässt.

(Dieses Verfahren läuft daraus heraus, Regeln durch die Exekutive, doch am Parlament vorbei verabschieden zu können. Eine gewisse Komplizenschaft der Parlamentsmehrheit ist dabei jedoch Voraussetzung; es geht vor allem darum, die Opposition in der Sache nicht mit debattieren zu lassen. Auf eine gewisse Aushebelung der Oppositionsrechte läuft im Übrigen auch das bei der Renten-„Reform“debatte hinaus. Nachdem der Textentwurf am 24. Januar 20 einmal im Ministerrat abgesegnet war, begann gleich zu Beginn der darauffolgenden Wochenanfang ein Reigen parlamentarischer Ausschusssitzungen, die die Debatte im Plenarsaal vorbereiten. Dabei hatten die Oppositionsfraktionen genau vier Tage Zeit, um Änderungsanträge in die zuständigen Fachausschüsse einzubringen – quasi ein Ding der Unmöglichkeit, soll das Verfahren eine Debatte über alle Aspekte ermöglichen, denn der Entwurf umfasst - mitsamt Begleitstudie und Finanzierungsvorschlägen - über 1.000 Seiten. Er soll ab dem 17. Februar dieses Jahres im Plenarsaal debattiert, in erster Lesung im März und in letzter Lesung mit im Juni d.J. verabschiedet werden.)

Im konkreten Falle sieht der Entwurf zur Renten„reform“ nicht weniger als 29 künftige ordonnances vor. An diesem Prozedere macht nun also auch das höchste Gericht im öffentlichen Recht Bedenken geltend, die natürlich Wasser auf die Mühlen der Kritiker/innen darstellen. Hinzu kommt, dass der „Staatsrat“ es als mutmaßlich verfassungswidrig betrachtet, wenn derselbe Gesetzentwurf an anderer Stelle – zum Auffüllen inhaltlicher Leerstellen – schlicht auf die Absicht der Regierung hinweist, künftig (irgendwann einmal) zu den offen gelassenen Fragen auch noch mal die Gesetzesinitiative zu ergreifen.

Dies tut der „Reform“entwurf konkret bei der Frage des zu erwartenden, besonders starken Kaufkraftverlusts für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen infolge der Rentenreform: Hier verweist der Text darauf, man erteile der Regierung den Auftrag, entsprechende Maßnahmen zum Auffangen der Verluste (und zur Aufwertung der Lehrer/innen/einkommen) durch spätere Gesetzesvorhaben zu ergreifen.

CFDT: zwischen gestern & heute

Unangenehm für die Regierung erscheint ebenfalls, dass eine wichtige Stütze ihrer Politik in den vergangenen Wochen – die CFDT – derzeit in relativ erheblichem Ausmaß Mitglieder zu verlieren scheint. „5.000“ Austritte räumt der Dachverband selbst ein. Ende vergangener Woche erschien sogar ein eigener Beitrag dazu auf der Webseite der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/)

Zur Erinnerung: Die CFDT bzw. ihr Apparat hatten ab dem 11. Januar lauthals „Sieg!“ (dies bedeutete in Wirklichkeit: „Aufhören mit dem Streiken!“) ausgerufen, nachdem Premierminister Edouard Philippe angekündigt hatte, er werde eine in der Renten„reform“ enthaltene Altersmaßnahme zurücknehmen, also das âge pivot („Scharnier“- oder „Gleichgewichtsalter“), ohne jedoch den Rest der Konterreform – dazu zählen die durch die CGT geschätzten 25 % erwarteter Absenkung der Renten, vgl. https://www.cgt.fr/ – anzutasten. Der „Gag“ bei der Sache ist nun jedoch, dass laut neuesten Ankündigungen auch dieses „Scharnieralter“ eben doch sehr wohl in dem Gesetzentwurf, wie er am 24. Januar d.J. durch das Regierungskabinett beschlossen worden ist und nun ab 17. Februar im Plenarsaal des Parlament (doch diese Woche bereits in den Ausschüssen) debattiert wird, enthalten ist. (Vgl. https://actu.orange.fr/) Ein guter Witz, über den die meisten Lohnabhängigen jedoch nicht lachen dürften. Dies bedeutet nichts Anderes als: Die CFDT hat nichts erreicht. Überhaupt nichts. Denn die Bourgeoisie liebt den Verrat, nicht den Verräter.

A propos: Zu den insgesamt sieben rapporteurs („Berichterstattern“, d.h. Abgeordneten des Regierungslagers, die die Annahme des Textes im Plenarsaal verteidigen werden und ggf. über die Aufnahme von Änderungsanträgen entscheiden, zählt auch Jacques Maire. (Vgl. https://www.lemonde.fr/politique/) Er ist der Sohn von Edmond Maire, Generalsekretär der CFDT von 1971 bis 1988; nun kann er zwar prinzipiell nichts für seinen Vater und jener nichts für seinen Sohn. Doch in diesem Falle wandelt der Sohn ziemlich in den Fußstapfen seines Vaters; so stand er zu Anfang der 2000er Jahre einer ausgesprochen CFDT-nahen sozialdemokratischen Studierendengewerkschaft vor. Und er setzte sich in den letzten zweieinhalb Jahren wiederholt innerhalb des Regierungslagers für einen „sozialeren Kurs“ ein, was jedoch stets nur eine taktische Rücksichtnahme auf die CFDT und ihre bessere Einbindung bedeutete. Er weist also eine bedeutende Nähe zum Apparat der CFDT auf.

Edmond Maire war jener Chef der CFDT – Letztere war nach dem Mai 1968 vorübergehend die für Veränderungswillen und für junge Linke offenste Gewerkschaft, in Abgrenzung von den damals z.T. stalinistischen Strukturen innerhalb der CGT -, der diese ab Ende der siebziger Jahre auf einen klaren Rechtskurs trimmte. Auf dem Kongress von Brest im Jahr 1979 rief er u.a. zum Beginn der Ausschlusstendenzen gegen zu unruhige Linke auf. (Vgl.: https://www.unioncommunistelibertaire.org/) Nun, in der nächsten Generation wurde der Apfel nicht weit vom Stamm platziert: Sein Sohn Jacques Maire, früherer rechter Sozialdemokrat, zählt heute zur Regierungspartei Emmanuel Macrons, LREM. (Vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/) Nun darf er bei der Renten-Konterreform mit ‘ran.

Und noch ein Schmankerl

Zu guter Letzt: Emmanuel Macron glaubte, am Wochenende ernsthaft dagegen argumentieren zu müssen, dass manche Leute mittlerweile die französische Regierungsmethode für die eines „autoritären Regimes“ halten. (Den Ausdruck benutzte jüngst die rechtssozialdemokratische Politikerinnentante und frühere Präsidentschaftskandidatin aus 2007, Ségolène Royal – sie selbst möchte gerne 2022 erneut als Präsidentschaftsanwärterin antreten, wovor Frankreich verschont bleiben möge -, in ihrem Falle aus persönlichen Profilierungsgründen, doch hat sie dadurch zugleich irgendwo einen Nerv getroffen…)

Mehrere Linkspolitiker antworteten Macron daraufhin; vgl. https://fr.sputniknews.com  oder https://www.gentside.com/  und https://www.youtube.com/watch?

Macron behauptet, jene, die glaubten, bereits in einer Diktatur zu leben (was so unmittelbar niemand behauptet hatte; von der Diktatur der Bourgeoisie einmal abgesehen), sollten einmal „eine Diktatur ausprobieren“. In den sozialen Medien antworteten darauf unzählige Menschen unter Verweis auf einen französischen Film aus dem Jahr 2009: OSS117- Rio ne répond plus. Darin hört man den begnadeten Schauspieler Jean Dujardin (in der Filmhandlung in Brasilien herumstapfend) erklären, was eine Diktatur sei: „Eine Diktatur, das ist, wenn die Leute Kommunisten sind, wenn es kalt ist, nicht genug zu essen gibt und die Leute graue Hüte tragen.“ Darauf erwidert seine Begleiterin ihm, indem sie die Frage aufwirft, wie man ein Land nenne, in welchem ein Clan regiere und die Medien kontrolliert würden. Sei dies keine Diktatur? Nein. Denn die Antwort lautet: „Aber, das ist Frankreich! Das Frankreich von Charles de Gaulle!“ (Vgl. zur Filmszene: https://www.youtube.com/) Eine Replik, die nun durch viele Personen in einer modernisierten Variante auf Macrons Art des Durchregierens zur Anwendung gebracht wird… (Vgl. bspw. https://www.youtube.com/watch?v=w0GWM7elfo8 )

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.