Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

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onlinezeitung

Bericht vom 29. Januar 2020

Feuerwehrleute erringen einen (wichtigen) Teilsieg für ihre sozialen Forderungen, u.a. auch im Zusammenhang mit der geplanten Renten-Konterreform – Ein Streikaktivist, dem eine Disziplinarstrafe droht, beging einen Suizidversuch - Innenminister Christophe Castaner landet einen (nicht allzu lustigen) PR-Gag, um auf die wachsende Kritik an Polizeigewalt zu antworten

Eine blutige Angelegenheit wurde der Protest am Dienstag dieser Woche im westfranzösischen Le Mans. Nein, nicht was Sie jetzt gleich wieder denken, liebe Leser/innen. Aber die dortigen Anwältinnen und Anwälten, die wie andere Berufsgruppen – auch freiberufliche (unter ihnen selbständige Pflegekräfte und Kinesitherapeut/inn/en) – gegen die geplanten Renten„reform“ protestieren, gingen an diesem 28. Januar 20 kollektiv zum Blutspenden. Eine PR-Aktion unter dem Motto: „Wenn wir uns schon ausbluten lassen, dann bitte richtig!“, über welche die lokalen und regionalen Medien entsprechend viel berichteten. (Vgl. https://www.ouest-france.fr/)

Anwältinnen und Anwälte, von denen in Frankreich rund 5 % abhängige Beschäftigte, die übrigen selbstständig oder aber scheinselbständig (und ökonomisch abhängig) sind, zählen ebenfalls zu den Hauptbetroffenen der geplanten Konterreform. Derzeit existiert eine eigene Rentenkasse der Berufsgruppe – derzeit circa 70.000 Anwälte und Anwältinnen in Frankreich – mit rund drei Milliarden Euro Umfang, welche die Regierung ganz gerne schröpfen würde. Die geplanten Regelungen der „Reform“ würden die Rentenbeiträge der Anwälte und Anwältinnen von 14 % auf 28 % des Einkommens anheben. Viele wirtschaftlich schwächere Kolleg/inn/en und Berufsanfänger/innen müssten wohl aufhören, ihre Tätigkeit jedenfalls unter den bisherigen Bedingungen auszuüben. Zu einigen anderen Protest-Aktivitäten aus der Berufsgruppe vgl. http://www.leparisien.fr/

Aktuelle Debatte um Polizeigranaten

Ebenfalls eine blutige Dimension, jedoch in einem weitaus weniger amüsanten Sinne, hat die Polizeigewalt, die in Frankreich in den letzten ein bis anderthalb Jahre völlig neue Ausmaße angenommen hat. Um auf die jüngsten Vorfälle und die verstärkte Medienberichterstattung darüber – bei den Demonstrationen am 09. Januar 20 hatten Polizisten etwa eine Demonstration, die lediglich ihr Handy am Boden aufheben wollte (und der als „moderat“ geltenden Gewerkschaft UNSA bei der RATP angehörte) geschlagen, was zu einer Polemik Anlass gab, vgl. https://www.rtl.fr/ - zu reagieren, tat Innenminister Christoph Castaner nun eine Ankündigung: Er werde, verlautbarte er, die umstrittene Polizeigranate GLIF4 aus dem Verkehr ziehen.

Diese enthält den Strengstoff TNT und verströmt beim Aufplatzen Tränengas, soll aber auch eine Blend-Schock-Wirkung entfalten. Als im Jahr 2014 ein Lohnabhängiger der Fabrik Alsetex (wo die Geschosse hergestellt wurden) bei einem Arbeitsunfall zu Tode kam, wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Im selben Jahr kam ein Untersuchungsbericht der Dienstinspektion IGPN – die dem Innenministerium, jedoch nicht direkt der Polizeihierarchie untersteht und die Einsatzkräfte kontrollieren soll, mit umstrittener Effizienz – zu dem Ergebnis, explodiere diese Granate auf Oberkörperhöhe, könne ein Tötungsrisiko bestehen. 2017 hatte die Regierung ihren Entschluss verkündet, die Herstellung von Granaten einzustellen. Allerdings sollten ihre vorhandenen Bestände noch benutzt werden, bis diese aufgebraucht seien, „bis zum Zeithorizont 2020 bis 2022“. Welcher nun erreicht sein dürfte.

Anscheinend wie aus heiterem Himmel (jedoch natürlich, um infolge der jüngsten Polemiken nunmehr eine „positiv“ klingende Ankündigung machen zu können) verkündete Innenminister Castaner nun am Montag, den 27. Januar 20, die GLIF4 werde nunmehr aus dem Verkehr gezogen. Das (nicht wirklich) Lustige an dieser Ankündigung ist aber, dass die GLIF4 umgehend durch eine andere Granate ersetzt wird – die GM2L -, die zwar kein TNT, sondern andere Substanzen enthält, jedoch eine vergleichbare Sprengwirkung aufweist.

Die sozialdemokratisch geprägte, traditionsreiche „Liga für Menschenrechte“ (LDH) begrüßte diese Maßnahme, obwohl sie sie auch als „reichlich spät kommend“ bezeichnete. Anders reagierten mehrere Anwälte in einem Kommuniqué, unter ihnen Arié Alimi – obwohl selbst einer der Rechtsvertreter und Vorstandsmitglieder der LDH -, die von einer „PR-Operation“ (opération de communication) sprachen und auf den Austausch dieser Polizeiwaffe durch eine andere, vergleichbare hinwiesen. Vgl.: https://actu.orange.fr/ und und: https://twitter.com/

Selbstmordversuch eines Streikaktivisten

Ebenfalls am Montag, den 27. Januar 20 wurde bekannt, dass ein Streikaktivist aus dem Busdepot der RATP in Vitry-sur-Seine (einer Vorstadt südöstlich von Paris) einen Suizidversuch am Arbeitsplatz beging, und dies kurz nach der Wiederaufnahme seiner Arbeit nach mehrwöchigem Streik. „François“ – der breiteren Öffentlichkeit wurde nur sein Vorname bekannt – schnitt sich am Montag früh zwischen 07.30 Uhr und 8 Uhr die Pulsadern auf. Dazu gibt es inzwischen auch einen in weiten Teilen anständigen Artikel in einer bürgerlichen Zeitung, Le Parisien: http://www.leparisien.fr/

Er zählte zu den drei Lohnabhängigen, die am 13. Januar 20 vor eine „Disziplinarkommission“ der RATP für eventuelle Disziplinarstrafen antreten musste. An jenem Tag waren die drei Streikenden durch mehrere Hundert Personen, unter ihnen CGT-Generalsekretär Philippe Martinez und mehrere etablierte Linkspolitiker wie Jean-Luc Mélenchon und radikale Linke wie die trotzkistische Ex-Präsidentschaftskandidatin Nathalie Arthaud, bis zur Tür begleitet worden. Inzwischen wurde am selben Ort auch noch ein vierter Lohnabhängiger vorgeladen. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/)

Dem Vierten wird die Teilnahme an einer Blockadeaktion vor dem Busdepot vorgeworfen. Die übrigen (ersten) drei mussten infolge der Spannungen, die am 10. Dezember 19 zwischen Streikenden und Nichtstreikenden unter den Beschäftigten auftraten, antanzen. Vor allem in den ersten Streikwochen im Dezember 19 kam es vor mehreren Bus- und Métro-Depots bei der Ausfahrt am frühen Morgen zu angespannten (meist verbalen) Konfliktsituationen. In den darauffolgenden Wochen hat dies eher abgenommen, da zunehmend viele Beschäftigte selbst zwischen Streikbeteiligung (vor allem an größeren Aktionstagen) und vorübergehender Wiederaufnahme der Arbeit (etwa um die Lohnverluste einzudämmen) hin- und herwanderten. Auch kam es etwa vor dem Busdepot im 18. Pariser Arrondissement in der Nähe der porte de Clignancourt dazu, dass zu beobachten war, dass auch (zum konkreten Zeitpunkt) Nichtstreikende Geld in die ihnen hingehaltene Streikkasse warfen.

Die Direktion der RATP ist in ihrem PR-Vorgehen ziemlich geschickt. Sie stellt die Dinge so hin, als wolle sie eine homophobe Aggression oder diskriminierende Haltung sanktionieren. Im Zuge der verbalen Auseinandersetzungen mit Nichtstreikenden hatten mehrere der Streikende ein Lied des Rappers Vegedream angestimmt, das auch eine Zeile enthält, die sinngemäß (pardon, liebe Leser/innen) so viel wie „Ihr Schwanzlutscher“ bedeutet – und im Deutschen ungefähr dem Ausdruck „Arschkriecher“ entsprechen würde. Auch fiel allem Anschein nach bei den Wortgefechten der Ausdruck enculé (wörtlich „Arschgefickter“, wurde im Französischen jedoch bis in jüngster Vergangenheit geläufig benutzt, ähnlich wie „Arschloch“ im Deutschen – was nun wegen der potenziell homophoben Deutung auf wachsende Kritik stößt).

Beides sind, (nicht nur) im so genannten Arbeitermilieu, relativ übliche Beschimpfungen. Sicherlich wäre es auf jeden Fall eine Debatte wert, wie man dafür sorgen kann, dass ähnliche tatsächlich oder potenziell homophobe Aussprüche nicht länger benutzt werden, auch und gerade nicht in den Reihen der Arbeiterbewegung. Eine andere Sache ist es, wenn nun eine Direktion dies aufgreift, um – so lautet natürlich ihre Absicht – Streikende zu sanktionieren, wie etwa CGT-Generalsekretär Philippe Martinez mehrfach vor den Kameras deutlich unterstrich, während bestimmte Interviewer/innen ihn geradezu aufdringlich selbst in die Ecke eines „Komplizen von homophoben Aussagen“ zu drängen versuchten. Martinez machte sowohl die Ablehnung jeglicher, auch homophober Diskriminierung, als auch die Zurückweisung des Ansinnens der Direktion deutlich.

Bislang wurden die Disziplinarstrafen, die potenziell verhängt werden könnten, noch nicht bekannt gegeben.

Feuerwehrleute versus Polizei

Am Nachmittag des gestrigen Dienstag, den 28. Januar 20 demonstrierten Tausende von Feuerwehrleuten, die aus ganz Frankreich angereist waren, in Paris von der place de la République aus in Richtung Südosten (über die place de la Bastille zur place de la Nation). Bereits seit Juni 2019 lief ein Streik vor allem der hauptberuflichen Feuerwehrleute gegen die Nichtanerkennung ihrer beruflichen Risiken, ihre finanzielle Schlechtbehandlung; und im Laufe der Monate kam ihre Ablehnung der Renten-Konterreform als Motiv hinzu. Hauptberufliche Feuerwehrleute dürfen derzeit ab 57 Jahren einen Rentenanspruch geltend machen, was in Anbetracht der (oftmals nötigen) körperlichen Anstrengung und der mit ihr verbundenen Risiken nicht sonderlich verwunderlich ist. Auch ihr „frühes“ Renteneinstiegsalter sollte ersatzlos gestrichen werden. Hinzu kam ferner eine Missbilligung der wachsenden Angriffe, denen sich Feuerwehrleute oft ausgesetzt sehen, nicht nur in „sozialen Brennpunkten“ – als Staatsdiener angegriffen, beschimpft, bespuckt, bisweilen attackiert.

In Frankreich besteht derzeit rund 80 Prozent der Feuerwehr aus freiwilligen Feuerwehrleuten (pompiers volontaires), 16 Prozent aus hauptberuflichen, und vier Prozent sind von ihrem Statuts her Militärs – die Feuerwehren in Paris und Marseille unterstehen dem Verteidigungsministerium. Die Letztgenannten dürfen nicht streiken, wie alle Armeeangehörigen in Frankreich mit Ausnahme des zivilen Verwaltungspersonals. Hauptsächlich die 16 Prozent sind vom Streikaufruf betroffen gewesen. Dabei unterließen die Betreffenden allerdings nicht ihre Rettungsmissionen, sondern bestreikten Alles, was mit Verwaltungstätigkeiten, Berichteschreiben und Instandsetzungstätigkeiten an Gebäuden und Fahrzeugen zu tun hatte.

Am gestrigen Spätnachmittag kam es infolge des Versuchs, von der place de la Nation aus auf den nahe vorbeiführenden boulevard périphérique (die Ringautobahn rund um Paris entlang des früheren militärischen Festungsrings, die heutige Grenze zwischen dem Pariser Stadtgebiet und den direkt angrenzenden banlieues) vorzudringen, kurzzeitig zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Letztere setzte zeitweilig Wasserwerfer ein.

Die umfassendste Dokumentation von Bildern und Kurzvideos befindet sich an dieser Stelle: https://fr.sputniknews.com/ (Anmerkung: Das betreffende Medium ist ansonsten ein Propagandainstrument der russischen Staatsmacht, das erheblich leichter über soziale Probleme in anderen Ländern und wenig über solche in Russland berichtet; dies tut dem Wert der Dokumentation im konkreten Falle keinen Abbruch!).

Am Abend wurde bekannt, dass die Regierung – vertreten durch Innenminister Christophe Castaner – relativ weitgehende Zugeständisse (die jedenfalls als solche gewertet wurden) gemacht habe. Eine existierende „Feuerprämie“, die infolge von Einsätzen ausbezahlt wird, beträgt statt bislang 19 % künftig 25 % des Grundeinkommens; die in dem Sektor verankerten Gewerkschaften (am stärksten ist dort die CGT, neben ihr befinden sich aber auch Le Pen-Wähler in der Berufsgruppe…) hatten 28 % gefordert. Überdies wird den Feuerwehrleuten garantiert, dass sie auch künftig ab dem jetzigen Mindestalter in Rente gehen dürfen, allerdings um den Preis erhöhter Rentenbeiträge der abhängig Beschäftigten. Zu der weiteren zentralen Forderung der Streikenden – gegen Personalmangel, für bessere Personal- und Mittelausstattung – wurde eine Untersuchung und Gremienarbeit angekündigt.

Am Dienstag Abend wurde bekannt, die wichtigsten Gewerkschaften des Sektors setzten ihren Streik nun aus, blieben jedoch „wachsam“ bezüglich der Umsetzung der Ankündigungen. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/f) Dem Vernehmen nach waren nicht alle betroffenen Beschäftigten mit dieser Entscheidung einverstanden.

Gemessen am Verhalten der Regierung andernorts ist jedoch als vorläufiges Fazit festzuhalten, dass sie sich relativ stark auf die Forderungen hat einlassen müssen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.