Was ist marxistische Erkenntnistheorie?
Teil 3: Wie verläuft der Erkenntnisprozeß?

von M. Rosental

03-2015

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Ein grober Fehler wäre die Annahme, die Welt werde im menschlichen Gehirn ebenso einfach widergespiegelt wie Gegen­stände in einem Spiegel. In Wirklichkeit verläuft dieser Vor­gang viel verwickelter. Die Erkenntnis ist ein Prozeß, der be­stimmte Stufen, Etappen aufweist. Bevor die Erkenntnis zur Wahrheit gelangt, muß sie einen schwierigen Weg zurücklegen. Um die Frage zu klären, wie der Erkenntnisprozeß verlaufe, wollen wir ihn in Abschnitten, in einzelnen Punkten besprechen. Teil 1
Vermögen wir unsere Umwelt richtig zu erkennen?

Teil 2
Die Erkenntnis als Widerspiegelung der Außenwelt im Gehirn des Menschen


a) Die Praxis als Grundlage des Erkenntnisprozesses

Die marxistische Philosophie lehrt, daß die Erkenntnis auf der Grundlage und im Verlauf der praktischen Tätigkeit der Menschen entsteht. „Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis", sagt Lenin, „muß der erste und grundlegende Gesichts­punkt der Erkenntnistheorie sein."

Die Erkenntnis existiert nicht um ihrer selbst willen. Sie hilft dem Menschen, die Natur umzugestalten und die Erforder­nisse des gesellschaftlichen Lebens zu lösen. Die Praxis stellt der Erkenntnis Aufgaben und Forderungen. Sofern und soweit die Erkenntnis diesen Forderungen Genüge tut und die sich aus der praktischen Tätigkeit des Menschen bei der Umgestaltung der Na­tur und des gesellschaftlichen Lebens ergebenden Aufgaben löst, entwickelt sie sich und erklärt die Erscheinungen der Umwelt.

Es gibt keine einzige Wissenschaft, kein einziges Gebiet des menschlichen Wissens, das nicht aus den praktischen Bedürfnis­sen des menschlichen Lebens entstanden wäre. Beispielsweise ist die Geometrie aus dem Bedürfnis hervorgegangen, Boden­flächen zu messen; aus dem Griechischen ins Deutsche über­setzt, bedeutet Geometrie: „Landvermessung". Die Physik ist aus der Notwendigkeit entstanden, den Aufbau und die Eigenschaften der Materie zur praktischen Beherrschung der Na­turkräfte zu erkennen. Die Geologie - die Wissenschaft von der Entstehung und Struktur der Erde - ist aus den praktischen Bedürfnissen der Technik und des täglichen Lebens nach Nutzung der Bodenschätze hervorgegangen. Das gleiche gilt für jede beliebige Wissenschaft; alle Wissenschaften sind direkt oder indirekt mit der Praxis verbunden.

Gegenwärtig entstehen unter dem Einfluß der praktischen Bedürfnisse neue Wissenschaften als neue Zweige längst be­stehender Wissenschaften, beispielsweise die Kernphysik, dieser noch junge, aber zukunftsträchtige Wissenszweig; sie dient dazu, die ungeheuren Kräfte der dem Atom innewohnenden Energie zu meistern.

Besonders große Forderungen an Erkenntnis und Wissen­schaft stellt der sozialistische Aufbau. Wir bauen gigantische Kraftwerke, verwerten die Atomenergie zu friedlichen Zwecken, verbinden Meere und Flüsse durch Kanäle, mechanisieren die Landwirtschaft, erschließen jungfräulichen und brachliegenden Boden, züchten neue Pflanzensorten, errichten Betriebe, die mit modernsten, früher nie dagewesenen technischen Mitteln aus­gerüstet sind. Das alles fordert von Erkenntnis und Wissen­schaft die kühne Lösung neuer Fragen, fordert die Entwicklung des Erfindergeistes.

Für die Erkenntnis beschränkt sich die Rolle der praktischen Tätigkeit des Menschen nicht darauf, daß die Praxis ihre For­derungen und Ansprüche an die Wissenschaft stellt. Dank der Tatsache, daß der Mensch die Natur praktisch umgestaltet, sich mit der Produktion materieller Güter befaßt, das gesellschaft­liche Leben verändert, kann er die wirklichen Eigenschaften der Dinge erkennen, die äußere, häufig trügerische Form vom Wesen der Dinge unterscheiden.

Das Ding, das von der Einwirkung der Arbeit, der Praxis, nicht berührt wird, bleibt in weitem Maße Geheimnis. Indem wir die Natur umgestalten, die Gegenstände verändern, sie un­seren Bedürfnissen anpassen, reißen wir ihnen das Siegel des Unbekannten ab, erkennen wir sie.

Lange Zeit hindurch glaubten die Menschen, die Erde sei eine flache Scheibe. Es gab zwar Vermutungen über die Kugelgestalt der Erde, jedoch ließen sie sich vorerst nicht so unumstößlich beweisen, daß jeder Widerspruch verstummt wäre. Die prak­tische Tätigkeit trug dazu bei, die Wahrheit so genau zu er­kennen, daß sie beweisbar wurde. Gegen Ende des 15. und im 16. Jahrhundert rief das Wachstum von Handel und Ge­werbe den Antrieb zur Entdeckung neuer Länder als Rohstoff­quellen und Absatzmärkte sowie einen gewaltigen Durst nach Gold hervor, so daß viele Entdeckungsreisen gemacht wurden. Neue Länder, darunter Amerika, wurden entdeckt. In den J ah-ren 1519 bis 1522 wurde die Erde zum erstenmal umsegelt. Die vielen Entdeckungsreisen jener Zeit bewiesen nunmehr, daß die Erde nicht flach, sondern kugelförmig ist.

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nahm man an, die Pflan­zen- und Tierwelt unseres Planeten unterliege keinen Ver­änderungen, sie bleibe sich stets gleich. Dann aber erzwangen die Bedürfnisse der sich entwickelnden Industrie die verstärkte Förderung von Steinkohle und Erzen, was den Menschen ver-anlaßte, ins Innere der Erde einzudringen. In verschiedenen Erdschichten entdeckte man Reste von Pflanzen und Tieren, die auf unserem Planeten in Urzeiten gelebt hatten. Diese Reste einer früheren Pflanzen- und Tierwelt widerlegten die falsche Vorstellung ihrer Unveränderlichkeit. Die Praxis der Züchtung von Haustieren und der künstlichen Veränderung der Tierrassen ebenso wie die Praxis der Züchtung neuer Pflanzen­sorten bestätigten ebenfalls, daß Pflanzen und Tiere sich ver­ändern. So machte auf der Grundlage der praktischen Tätig­keit des Menschen der englische Gelehrte Charles Darwin in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine der größten Entdeckungen: die Entdeckung der Veränderlichkeit der Tier-^ und Pflanzen­welt. Der Religion und ihrer Legende von der Schöpfung der Welt durch Gott wurde damit ein vernichtender Schlag ver­setzt. In unserem Lande wurde Darwins Lehre von dem großen Umgestalter der Natur I. W. Mitschurin und seinen Schülern weiterentwickelt. Die neue, früher unbekannte Praxis der so­zialistischen Großlandwirtschaft hat es ermöglicht, tiefer in die Gesetzmäßigkeiten des pflanzlichen Lebens einzudringen und sie zu meistern.

Die gleiche Rolle spielt die Praxis auch im Prozeß der Er­kenntnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens. So entstand beispielsweise die von Marx und Engels geschaffene Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus aus der gesamten Praxis des Klassenkampfs, vor allem des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR bereicherte diese Theorie durch neue Leitsätze. Die Begründer des Marxismus arbeiteten ihre Theorie auf Grund der gesell­schaftlichen Praxis ihrer Zeit aus, als überall noch der Kapita­lismus herrschte. Es ist begreiflich, daß die Praxis zu dem Zeit­punkt, da das Sowjetvolk das Joch des Kapitalismus abschüttelte und den Aufbau des Sozialismus in Angriff nahm, eine ganze Reihe neuer Fragen aufwarf und die Möglichkeit schuf, die Wege und Mittel zur sozialistischen Umgestaltung der Gesell­schaft tiefer zu erkennen. So sahen beispielsweise Marx und Engels, daß die auf dem Kleineigentum beruhende bäuerliche Wirtschaft nach der prole­tarischen Revolution allmählich zu einer sozialistischen Groß­landwirtschaft umzugestalten sein werde. Zu ihrer Zeit jedoch ließ sich noch nicht im einzelnen beantworten, wie diese Um­gestaltung konkret verlaufen werde, welche Formen der Ver­einigung der kleinen Wirtschaften zu großen auftreten, welche Wechselbeziehungen sich zwischen dem sozialistischen Staat und diesen landwirtschaftlichen Vereinigungen herausbilden würden usw. In unserem Lande gewannen diese Fragen nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution erhebliche praktische Bedeu­tung und wurden besonders brennend, als in den Jahren der Kollektivierung die Kommunistische Partei die große Umwäl­zung im Dorf zu verwirklichen begann. Hier half der Partei die Praxis, alle diese Fragen zu lösen und damit die marxistische Theorie zu bereichern. Die praktischen Erfahrungen ließen er­kennen, daß die erfolgreiche und einzig richtige Form für die Ver­einigung der Bauernwirtschaften in der Periode des Sozialismus das landwirtschaftliche Artel ist. Die Erfahrungen des sozialisti­schen Aufbaus im Dorf brachten als wesentliche Form der Be­ziehung zwischen Staat und Kollektivwirtschaft die Maschinen-traktorenstation hervor, die jetzt die mächtige industrielle Grundlage für die Entwicklung der kollektivwirtschaftlichen Produktion darstellt.

In den Werken Lenins, seiner Mitkämpfer und Schüler er­fuhren die Ideen von Marx und Engels - auf der Grundlage neuer Ergebnisse der Praxis im Zeitabschnitt der proletarischen Revolution und des Auf baus des Sozialismus in unserem Lande-ihre schöpferische Weiterentwicklung. Ohne theoretische Ver­allgemeinerung der Praxis und der praktischen Erfahrungen ist es unmöglich, die verwickelten Probleme des sozialistischen Auf baus zu lösen.

Aus allen angeführten Tatsachen geht hervor: Die Erkenntnis im ganzen und jeder einzelne Schritt der Erkenntnis sind un­trennbar mit der Praxis verbunden. Diese Beziehung dürfen wir daher bei der Klärung der Frage, wie die Umwelt erkannt werde, keinen Augenblick außer acht lassen; wir dürfen nie ver­gessen, daß die Praxis die eherne Grundlage der Erkenntnis ist. Wie wir sehen werden, gebührt der Praxis auch das entschei­dende Wort bei der Überprüfung des Wahrheitsgehalts des von uns erworbenen Wissens.

Womit beginnt nun die Erkenntnis der Dinge? Was ist der erste Schritt beim Voranschreiten der Erkenntnis zur objektiven Wahrheit?

b) Die Rolle der Wahrnehmung im Erkenntnisprozeß

Nehmen wir an, wir wollten einen unbekannten Gegenstand kennenlernen. Naturgemäß beginnen wir damit, daß wir diesen Gegenstand betrachten oder, falls nötig, ihn berühren oder be­lauschen. Anders gesagt, unsere Erkenntnis beginnt mit dem Gebrauch unserer Sinnesorgane: Gesicht, Gehör, Tastsinn, Ge­ruch und Geschmack. Das gibt uns das Recht zu der Feststellung: Die Anfangsetappe, der erste Schritt bei der Erkenntnis eines jeden Gegenstandes - sowohl des einfachsten als auch des schwierigsten - sind unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere Empfindungen. Dabei muß betont werden: Weite und Tiefe der Wahrnehmungen und Empfindungen des Menschen, der Beob­achtungen, die er in seinem Leben macht, und seiner Eindrücke stehen in enger Beziehung zu seiner praktischen Tätigkeit. Je mannigfaltiger die praktische Tätigkeit des Menschen ist, um so weiter ist sein Horizont und sein Beobachtungsfeld, um so rei­cher sind seine Wahrnehmungen und Empfindungen. Die gewaltige Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmungen für den Erkenntnisprozeß besteht darin, daß sie uns das Material liefern, aus dem wir uns ein Urteil über den Gegenstand bilden. Die weiteren Schritte der Erkenntnis stützen sich auf jene Kenntnisse der Dinge, die uns die Sinnesorgane vermittelt haben. Aufgabe der Erkenntnis ist es, die Erscheinungen unserer Umwelt zu erklären, da ohnedem jede erfolgreiche praktische Tätigkeit unmöglich ist. Um aber die Erscheinungen zu erklären und über sie nachzudenken, benötigen wir unbedingt die ent­sprechenden Tatsachen; andernfalls würden Erklärung und Untersuchung der Erscheinungen auf Sand gebaut sein. Francis Bacon, ein englischer Materialist aus dem 17. Jahrhundert, ver­glich die Erkenntnis, die sich nicht auf der Natur entnommene Tatsachen stütze, sehr treffend mit der Handlungsweise einer Spinne, die den Webfaden aus sich selbst herauszieht. Aus dem Verstand allein, ohne Beobachtung der Naturerschei­nungen und ohne Studium der Tatsachen, kann man keine ein­zige wirklich wissenschaftliche Theorie aufstellen. Die dem Le­ben, der praktischen Erfahrung, den wahrgenommenen Dingen und Erscheinungen entnommenen Tatsachen stellen jenes Bau­material dar, aus dem die Wissenschaft das Gebäude ihrer Theorien und Leitsätze errichtet. Pawlow bezeichnet die Tat­sachen als die Luft des Gelehrten. In der Tat, welche Erfolge könnte etwa ein Astronom erringen, wenn er die Bewegung der Sterne und Planeten erklären möchte, aber ihre Bewegung nicht beobachten, keine Tatsachen sammeln und erforschen wollte?

Oder könnten die Botaniker das Pflanzenreich nach Stämmen, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten einteilen, ohne sie zu beobachten, ohne die Tatsachen zu untersuchen? Muß man doch, um eine Fichte einer bestimmten Nadelbaum­gattung zuzurechnen, die sich von der Gattung, zu der die Kiefer gehört, unterscheidet, den Unterschied zwischen Fichte und Kie­fer sinnlich wahrnehmen und erkennen, die Ähnlichkeit aller Fichten feststellen, die uns berechtigt, sie einer Gattung zuzu­zählen.

Natürlich genügt die Beobachtung mit Hilfe der Sinnesorgane allein nicht, um die Zugehörigkeit einer Pflanze oder eines Tieres zu einer bestimmten Familie oder Gattung richtig zu beurteilen. Auf Grund des bloßen Augenscheins könnte man beispielsweise den Walfisch zu den Fischen zählen. In Wirklichkeit jedoch ge­hört der Walfisch der Klasse der Säugetiere und nicht der der Fische an. Somit genügen Beobachtungen und Wahrnehmungen allein nicht, die Dinge richtig zu erkennen. Darauf werden wir noch ausführlich zurückkommen.

Wie dem auch sei, ohne sinnliche Wahrnehmung, ohne jene Abbilder der Dinge, wie sie uns die Sinnesorgane liefern, könnte die Erkenntnis auch nicht einen Schritt vorankommen. Der Auf­stellung wissenschaftlicher Theorien geht stets ein emsiges Sam­meln von Tatsachen, eine unmittelbare Erforschung der Er­scheinungen der Wirklichkeit voraus. Dabei spielt die Sinnes­wahrnehmung, die Tätigkeit unserer Sinne die entscheidende Rolle.

So wichtig die Rolle der Empfindungen und Wahrnehmungen für die Erkenntnis der Dinge auch ist, so erschöpft sich doch die Erkenntnis nicht in der einfachen sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung der Dinge in unserer Umgebung. Wenn dem so wäre, würde die Erkenntnis eine recht einfache Sache sein. Indessen weiß jedermann, auch wer der Wissenschaft fernsteht, wie schwer es manchmal ist, diese oder jene Wahrheit zu ermitteln. Es ist bekannt, wie sehr sich die Gelehrten zuweilen mühen, das eine oder andere Geheimnis der Natur zu enträtseln.

Unser Auge nimmt mühelos das Sonnenlicht wahr. Die bloße Wahrnehmung reicht jedoch nicht aus, zu erkennen, daß der weiße Sonnenstrahl eine Mischung aller Regenbogenfarben vom Violett bis zum Rot ist. Noch weniger genügen Empfindungen allein, die Existenz unsichtbarerstrahlen festzustellen, zum Bei­spiel der Radiowellen oder der Röntgenstrahlen, mit deren Hilfe der menschliche Organismus durchleuchtet wird. Diese Strahlen sind erst vor kurzem entdeckt worden, ihre Existenz hat die Menschheit früher nicht einmal geahnt. Keine Empfindung an sich vermittelt die Feststellung, daß ein Liter Wasser eine so gewaltige Zahl kleinster Stoffteilchen, Moleküle, enthält, daß sie, aneinandergereiht, eine Kette ergeben würden, die man mehr als 200 Millionen mal um den Erdball schlingen könnte. Eine Bewegungsgeschwindigkeit von 300 000 Kilometer in der Sekunde kann man sich nicht vorstellen. Indessen gibt es eine derartige Geschwindigkeit, mit ihr breitet sich das Licht aus, und die Erkenntnis hat diese Tatsache entdeckt.

Somit ist es klar, daß die Erkenntnis nicht auf Empfindungen allein, auf die ausschließliche Tätigkeit der Sinne beschränkt werden kann. Mit den Sinnesorganen allein sind wir nicht im­stande, das Wesen der Dinge zu erkennen. Die Philosophie des Marxismus lehrt das Wesen, das heißt die innere Beschaffenheit der Dinge, von der Erscheinung, das heißt ihrer äußeren Seite, zu unterscheiden. Die Erscheinung stimmt häufig nicht nur mit dem Wesen eines Gegenstandes nicht überein, sondern steht in direktem Widerspruch zu seinem Wesen.

Können wir einen Menschen nach seinem Äußeren allein rich­tig beurteilen? Natürlich nicht. Das Äußere sagt gewöhnlich nichts darüber aus, was der Mensch in Wirklichkeit darstellt. Wir beurteilen den Menschen nach seinem Handeln, nach seinen Taten.

Genausowenig darf man über die Dinge und Erscheinungen der Natur allein aus ihrer äußeren Form, allein daraus, als was sie auf den ersten Blick erscheinen, Schlüsse ziehen.

Im Altertum dachten die Menschen - nicht nur die Ungebil­deten, sondern auch die Gelehrten -, im Mittelpunkt des Welt alls stehe die unbewegliche Erde, um die Sonne und Sternt kreisen. Wie ist diese Vorstellung entstanden? Sie entstammte einer oberflächlichen Beobachtung. Alle sahen, daß die Sonne morgens aufgeht, im Laufe des Tages einen bestimmten Weg zurücklegt und abends untergeht. Dabei hat es den Anschein, als kreise die Sonne um die Erde. Die Bewegung der Erde aber spüren wir nicht. Seit langem ist jedoch bewiesen, daß in Wirk­lichkeit die Sonne sich im Mittelpunkt des Sonnensystems be­findet, während die Erde und die anderen Planeten um sie krei­sen. Die Erde (und zusammen mit ihr auch wir) bewegt sich um die Sonne mit einer großen Geschwindigkeit, etwa 30 Kilometer in der Sekunde. Außerdem dreht sich die Erde um ihre Achse, doch auch das nehmen wir nicht wahr, uns scheint es, als kreise die Sonne um die Erde.

Wollten wir uns mit dem Anschein zufriedengeben, mit dem, was wir unmittelbar als Erscheinungen erblicken, so wären wir in der Erkenntnis der Welt selbstverständlich noch nicht weit vorgedrungen. Indessen ist der Weg von dem, was scheint, zum wirklichen Wesen der Dinge außerordentlich schwierig und lang.

In den kapitalistischen Ländern arbeitet der Arbeiter in einem Betrieb, der einem Kapitalisten gehört. Für seine Arbeit erhält er Lohn. Auf den ersten Augenblick sieht es so aus, als bezahle der Kapitalist die Arbeit des Arbeiters voll. Nehmen wir an, daß der Arbeiter acht Stunden täglich arbeite. Der Kapitalist erklärt, für diese acht Arbeitsstunden zahle er dem Arbeiter den gebüh­renden Lohn. So hat es den Anschein, als erweise er dem Arbei­ter eine Wohltat: Er biete ihm die Arbeitsmöglichkeit und be­zahle seine Arbeit in voller Höhe. Der Kapitalist wird erstaunt fragen: Wo bleibt hier die Ausbeutung, von der die Marxisten und Kommunisten soviel reden? Wenn man sich damit begnügt, nur die äußere Seite der Sache zu beobachten, kann die falsche Ansicht entstehen, der Kapitalist habe recht. Die Verteidiger der Bourgeoisie benutzen diesen täuschenden Schein und malen die Beziehungen zwischen Kapitalisten und Arbeitern in rosigen Farben. Natürlich bedarf es keines besonderen Scharfsinns, die himmelschreiende Ungerechtigkeit der unter dem Kapitalismus herrschenden Verhältnisse zu erkennen. Die meisten Menschen arbeiten rastlos und haben trotzdem kaum ihr Auskommen. Eine Handvoll Kapitalisten aber erzielt sagenhafte Profite und schwelgt im Luxus.

Um das zu sehen, wir wiederholen es, bedarf es keiner be­sonderen Mühe. Man muß jedoch erklären, woher die sagen­haften Profite der Kapitalisten kommen, woher sie ihre un­geheuren Reichtümer schöpfen. Um die Werktätigen zu ver­wirren, erfinden die Ideologen der Bourgeoisie alle möglichen Märchen. Sie erklären, der Reichtum der Kapitalisten rühre aus ihrer Sparsamkeit, ihrem Fleiß her, die Armut der Werktätigen dagegen aus ihrer Faulheit und Unfähigkeit, etwas zu erreichen. Mit einem Wort, sie tun alles, um die tatsächlichen Bereiche­rungsquellen der Kapitalisten zu verheimlichen.

Karl Marx war der erste, der diese Quellen untersuchte. Er bewies, daß der Lohn des Arbeiters nur scheinbar die vollstän­dige Bezahlung seiner Arbeit darstellt. In Wirklichkeit verdient der Arbeiter den ausgezahlten Lohn im Verlauf eines Teils seines Arbeitstages, sagen wir in drei oder vier Stunden; der Kapitalist aber zwingt ihn, den ganzen Tag zu arbeiten; den Reichtum, den der Arbeiter durch seine unbezahlte Mehrarbeit geschaffen hat, steckt der Kapitalist ein. Das ist keine erfundene, sondern die wahre Profitquelle der Kapitalisten. Die Ausbeu­tung der Arbeiter durch die Bourgeoisie - das ist die objektive Wahrheit, die zur Erklärung der in der kapitalistischen Gesell­schaft tatsächlich herrschenden Verhältnisse den Schlüssel liefert.

Die wissenschaftliche Wahrheit liegt nicht an der Oberfläche, sie kann nicht so einfach erblickt werden, wie wir einen Baum oder Tisch erblicken. Mehr noch, die äußere Seite der Dinge, die sich leicht feststellen läßt, entstellt häufig ihre innere, ihre wesentliche Seite. Natürlich führt uns die äußere Seite der Dinge nicht immer irre; wenn es sich jedoch um komplizierte Erscheinungen der Natur oder der Gesellschaft handelt, kann man sich mit der Kenntnis der Oberfläche der Dinge allein kei­neswegs begnügen. Aufgabe der Erkenntnis ist es, in das Wesen dieser Erscheinungen einzudringen und alles abzustreifen, was das tatsächliche Bild entstellt.

Das edle Ziel der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Er­kenntnis, besteht darin, die Praxis, die praktische Tätigkeit des Menschen, mit dem klaren Wissen vom Wesen der Erscheinun­gen der Natur und des gesellschaftlichen Lebens auszurüsten. Das aber läßt sich nicht erreichen, wenn man an der Oberfläche der Dinge verharrt. Die Erkenntnis muß uns das Wissen von den Gesetzen der Natur und der Gesellschaft vermitteln. Was ein Gesetz ist, werden wir später erläutern, hier wollen wir nur sagen, daß Gesetze nur erkannt werden können, wenn man in das innerste Wesen der Dinge eindringt, wenn man die innere, wesentliche Seite der Erscheinungen aufdeckt.

Daraus geht klar hervor, warum man die Schwierigkeit der Erkenntnis nicht unterschätzen, warum man die Erkenntnis nicht auf einfache Wahrnehmung und Empfindung der Dinge beschränken darf.

c) Die Rolle des Denkens im Erkenntnisprozeß

Nachdem wir mit Hilfe der Sinnesorgane bestimmte Kennt­nisse von einem uns unbekannten Ding oder einer Gruppe von Dingen erhalten haben, schreiten wir zur nächsthöheren Stufe der Erkenntnis weiter. Auf der neuen Stufe vollbringen wir eine Leistung, die zu erreichen wir bei der einfachen Beobachtung und Betrachtung nicht imstande waren: Wir stellen fest, welches die Haupteigenschaften und -merkmale des Gegenstandes sind.

Solange wir eine Erscheinung nur betrachten und beobachten, trennen wir die wesentlichen und wichtigen Merkmale nicht von den unwichtigen und zufälligen. Im sinnlichen Abbild sind die wesentlichen und unwesentlichen, die wichtigen und unwich­tigen Seiten des Gegenstandes vermischt. Wie soll man feststel­len, welche Seiten die wichtigen und welche die unwichtigen sind? Das ist recht schwierig. Hier reicht die bloße Sinneswahr­nehmung nicht aus, sondern es wird Gedankenarbeit notwendig.

Unsere Wahrnehmungen und Empfindungen liefern uns das Material, kraft dessen wir uns Urteile über den Gegenstand bil­den können. Jedoch begnügen wir uns nicht mit der Kenntnis dieses Materials, sondern verarbeiten es. Diese Verarbeitung besteht darin, daß wir in Gedanken die wahrgenommenen Eigenschaften und Merkmale des zu untersuchenden Gegen­standes aufgliedern, und zwar in solche, die für ihn unwichtig und unwesentlich sind, und in andere, ohne die er nicht exi­stierte. Während wir die unwesentlichen Eigenschaften und Merkmale fallenlassen, heben wir die wichtigen und entschei­denden hervor.

Unsere Werkzeuge zur lebendigen Wahrnehmung und Beob­achtung der Dinge und Erscheinungen unserer Umwelt sind, wie wir bereits wissen, die Sinnesorgane. Auf der neuen Stufe der Erkenntnis, auf der wir die Angaben der Sinnesorgane ver­arbeiten, tritt ein neues Werkzeug, eine neue Fähigkeit der menschlichen Erkenntnis in Tätigkeit. Es ist dies das Denken, der Verstand.

Die Kraft des menschlichen Denkens ist gewaltig. Gerade das Denken gestattet uns, in das Innere der Dinge einzudringen, die wesentlichen von den unwesentlichen Seiten auszusondern, zwischen dem häufig täuschenden Äußeren und dem wichtigen und entscheidenden Inneren zu unterscheiden. Auf welchem Wege erreicht das Denken sein Ziel?

Wir geben ein einfaches Beispiel, an dem wir diese wichtige Frage untersuchen wollen. Vor uns sehen wir mehrere Fichten. Es gibt nicht zwei Fichten, die einander völlig gleich wären. Eine jede unterscheidet sich von der anderen durch die Höhe, den Stammumfang, die Dichte der Krone, die Aststellung usw. Wie soll man nun herausfinden, welches ein wesentliches Merkmal der Fichte und welches ein unwesentliches sei, warum wir einen bestimmten Baum als Fichte anzusehen haben oder nicht? Schon als wir die Fichten anschaulich wahrgenommen haben, hat jenes Gleiche, Allgemeine, Gleichartige, das allen Fichten eigen ist, eine tiefere Spur in unserem Gehirn hinterlassen als das, wodurch sich die eine Fichte von der anderen unterscheidet. Je häufiger wir die Wahrnehmung der gleichen Fichten wieder­holen, desto stärker prägen sich unserem Gehirn gewisse ge­meinsame charakteristische Züge ein und treten in den Vorder­grund unserer Vorstellung. Von diesen Sinnesangaben her son­dert unser Denken das aus, was die eine Fichte von der anderen unterscheidet, weil es klar ist, daß das nicht das Hauptmerkmal jedweder Fichte ausmachen kann. Wir isolieren in Gedanken jenes Allgemeine, sich Wiederholende, Gleiche, das jeder Fichte trotz aller individuellen Unterschiede eigen ist. Dieses Allge­meine sind zum Beispiel die feinschuppige, rötliche Rinde oder die spiralig gestellten, vierkantigen Nadeln. Es ist klar, daß ge­rade diese gemeinsamen, gleichen, sich wiederholenden Merk­male für die Fichte wesentlich sind und nicht jene bloß individu­ellen Eigenschaften wie diese oder jene Dichte der Krone, Ast­stellung usw. Natürlich ist damit das Wissen vom Wesen der Fichte noch nicht erschöpft. Die nächste Aufgabe besteht darin, die wichtigsten Eigenschaften, die Gesetze der Entwicklung und Vermehrung dieser Nadelbaumgattung zu erkennen.

Erst dieses Wissen ermöglicht es dem Menschen, die Natur praktisch zu beeinflussen; gewonnen wird es ebenfalls durch das Denken.

Die wichtigste Eigenschaft des Denkens, die für die Erkennt­nis von gewaltiger Bedeutung ist, ist die Fähigkeit zur wissen­schaftlichen Abstraktion. Das aus dem Lateinischen stammende Wort „abstrakt" bedeutet wörtlich „abgezogen". Unser Beispiel von der Fichte war ein Beispiel für den Denkvorgang der Ab­straktion: Indem das Denken die unwesentlichen Merkmale der Fichte „abzog", sie aussonderte, isolierte es jenes Haupt­sächliche, das ihr eigen ist und ihr Wesen ausmacht.

Die wissenschaftliche Abstraktion ist aufs engste mit der Ver­allgemeinerung verbunden. Die Verallgemeinerung bedeutet die Erforschung einer großen Anzahl von Dingen und Erscheinun­gen und das Herauslösen jenes Allgemeinen, das ihnen eigen ist. Daher stammt auch das Wort „Verallgemeinerung".

Unsere sinnlichen Wahrnehmungen haben es mit einzelnen, individuellen Dingen zu tun. Die Sinne liefern uns Abbilder der individuellen Dinge und Erscheinungen, Abbilder einer be­stimmten Fichte, eines bestimmten Menschen, eines bestimmten Tisches, eines bestimmten Flusses.

Wenn wir es aber mit einer einzelnen, unbekannten, noch nicht erkannten Sache oder Erscheinung zu tun haben, können wir uns bei der Bestimmung ihrer wichtigsten und wesentlichsten Seite leicht irren. Wir können ein bloß individuelles und un­wesentliches, recht zufälliges Merkmal für ein wesentliches und notwendiges halten.

Die Kraft des verallgemeinernden menschlichen Denkens be­steht nun darin, daß es nicht ein einzelnes Ding betrachtet, son­dern eine große Anzahl von Dingen, daß es von ihren äußeren und zufälligen Merkmalen und Besonderheiten absieht und ihre gemeinsamen, ihre wirklich wichtigen Eigenschaften findet und erklärt.

Die materialistische Philosophie lehrt, daß alle Dinge unserer Umwelt materieller Natur sind, daß sie verschiedene Erschei­nungsformen der gleichen Materie sind, daß der Mensch selber ebenfalls eine Erscheinungsform der Materie ist. Diese Schluß­folgerung ist das Ergebnis der wissenschaftlichen Verallgemei­nerung. Tatsächlich ist die Natur überaus vielfältig. Die man­nigfaltigen Naturerscheinungen unterscheiden sich voneinander durch sehr wesentliche Merkmale. Erde, Luft, Pflanze, Tier, Mensch - das alles sind Erscheinungsformen der Natur. Es ist gewiß wichtig, die Unterschiede zwischen ihnen zu erkennen. Gibt es aber nicht in allen Naturerscheinungen, so sehr sie sich voneinander unterscheiden mögen, irgend etwas Gemeinsames? Sie alle sind doch Äußerungen derselben Natur. Diese Frage wird vermöge der wissenschaftlichen Verallgemeinerung beant­wortet. Wenn wir von den Besonderheiten absehen, durch die sich die mannigfaltigen Dinge voneinander unterscheiden, stel­len wir fest, daß sie alle von materieller Art sind, das heißt, aus Materie bestehen. Luft und Erde, Pflanze, Tier und Mensch, und dazu alle übrigen Erscheinungen der Natur - das alles ist Ma­terie* das sind ihre verschiedenen Formen. Die Materialität, das ist jenes Gemeinsame und Wesentliche, das jede beliebige Na­turerscheinung charakterisiert.

Die Materialität der Welt bedeutet, daß alle Vorgänge, die in der Natur stattfinden, die Entwicklung und Veränderung der Materie und nicht irgendeines Geistes sind. „In der Welt gibt es nichts", sagt Lenin, „außer der sich bewegenden Materie ..." Unter Materie aber versteht die marxistische Philosophie die objektive Realität, die Wirklichkeit, die unabhängig vom mensch­lichen Bewußtsein existiert. Gerade die Einwirkung der Mate­rie auf unsere Sinnesorgane ruft die Empfindungen hervor. Die Quelle des gesamten Reichtums, der ganzen Mannigfaltigkeit der Welt ist keine übernatürliche Kraft, sondern die Bewegung der Materie.

Indem sich die Materie entwickelt und verändert, geht sie aus einer Form in eine andere, aus niederen Formen in höhere über. So entstand auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Natur das Leben, und allmählich bildeten sich zahlreiche Pflan­zen- und Tierarten. Aus der Klasse der Säugetiere ging der Mensch hervor. Zusammen mit dem Menschen entstand die menschliche Gesellschaft.

Es ist klar, daß die so gewonnene Verallgemeinerung, näm­lich die Gewißheit des materiellen Charakters der Welt, für un­sere Erkenntnis von gewaltiger Bedeutung ist. Sie widerlegt die religiöse oder idealistische Legende, der Welt liege irgendein göttliches oder geistiges Prinzip zugrunde.

Nehmen wir jetzt ein anderes Beispiel, und zwar aus dem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens. Die Gesellschaft besteht aus Milliarden Menschen. Jeder Mensch unterscheidet sich vom anderen in irgend etwas: durch seine Stellung in der Gesell­schaft, durch seine Lebensart, durch seine Fähigkeiten, Wünsche usw. Wie soll man sich in diesem vielfältigen und zunächst ver­wirrenden Bild des gesellschaftlichen Lebens zurechtfinden? Scheinbar herrscht hier Unordnung und Chaos. Jedoch ist das nur auf den ersten Blick so. Die Verallgemeinerung hilft auch in diesem bunten Bild das Wichtige, das Wesentliche her­auszufinden. So verschiedenartig die Stellung von Hunderten Millionen Menschen beispielsweise in der kapitalistischen Ge­sellschaft auch ist, die Wissenschaft hat festgestellt, daß sie sich in zwei große entgegengesetzte Klassen scheiden, in Proletariat und Bourgeoisie. (Außer diesen Hauptklassen gibt es noch Nebenklassen.)

Wenn wir die Stellung von Millionen Menschen in der kapita­listischen Gesellschaft untersuchen, sehen wir von einer ganzen Reihe von Eigenschaften und Merkmalen ab,die hierbei unwesent­lich sind. Nehmen wir an, daß die Menschen sich voneinander ihren Fähigkeiten nach unterschieden. Fähige Menschen gibt es jedoch sowohl unter denen, die in Armut leben, als auch unter denen, die in Luxus leben. Es ist klar, daß dieses Merkmal nicht entscheidend ist. Vielleicht besteht das maßgebliche Merkmal, wie die bürgerlichen Ideologen behaupten, in der Faulheit oder im Fleiß der Menschen? Auch das ist nicht der Fall, denn wenn davon die Stellung der Menschen in der bürgerlichen Gesell­schaft abhinge, müßten die Arbeiter, die ihr ganzes Leben der Arbeit hingeben, im Wohlstand leben, während die Bourgeois, die ein müßiges Leben führen, hungern müßten.

Die Untersuchung der wirklichen Lage der Dinge hilft uns, das wesentliche, das entscheidende Merkmal, das Prinzip für die Teilung der Gesellschaft in Bourgeoisie und Proletariat zu fin­den. Dieses Merkmal ist das Verhältnis zu den Produktionsmit­teln. Sosehr sich ein Kapitalist vom anderen unterscheiden mag, hier finden wir jenes Gemeinsame, das ihnen die gleiche Stel­lung verleiht, das sie zur Klasse der Kapitalisten vereinigt. Die­ses gemeinsame und wirklich bedeutsame Merkmal besteht darin, daß sie im Besitz der Fabriken und des gesamten Reich­tums der Gesellschaft sind. Sosehr sich anderseits ein Arbeiter vom anderen unterscheiden mag, sie besitzen ein gemeinsames und wirklich wichtiges Merkmal, das sie zur Klasse der Proleta­rier vereinigt. Das ist die Tatsache, daß sie über keine Produk­tionsmittel verfügen und außer ihrer Arbeitskraft nichts be­sitzen. Daher müssen sich die Arbeiter bei den Kapitalisten ver­dingen, ihnen ihre Arbeitskraft verkaufen, sich ausbeuten lassen. Daraus ergibt sich der erbitterte Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat.

Auch dieses Beispiel zeigt uns, daß ohne wissenschaftliche Ab­straktion und Verallgemeinerung eine gründliche Erkenntnis des Wesens der Erscheinungen unmöglich ist.

Falsch wäre jedoch die Annahme, auf dieser neuen Stufe voll­ziehe sich die Erkenntnis ohne Verbindung zur Praxis. Auch hier spielt die praktische Tätigkeit eine gewaltige Rolle in der Er­kenntnis. Nur dank der Praxis, der praktischen Veränderung der Natur und der Gesellschaft kann das Denken, der Verstand des Menschen die unwesentlichen Merkmale außer acht lassen, die wesentlichen verallgemeinern und das innere Wesen der Dinge aufdecken.

In unserer Zeit ist es den Gelehrten gelungen, die Atomenergie zu entdecken. Das erklärt sich nicht daraus, daß sie etwa höhere Fähigkeiten und ein besseres Denkvermögen besäßen als jene Gelehrten, die vor hundert Jahren lebten. Es erklärt sich vor allem aus dem neuen, früher ungeahnten Entwicklungsstand von Wissenschaft und Technik, aus den neuen Möglichkeiten der praktischen Tätigkeit, die einen tieferen Blick in die Geheim­nisse der Natur gestatten.

Hier müssen wir die Aufmerksamkeit auf eine der wichtigsten Besonderheiten des Denkens lenken. Nachdem uns, wie wir ge­zeigt haben, die Sinneswahrnehmung konkrete Abbilder der ein­zelnen Dinge geliefert hat, ist das Ergebnis unserer Denktätig­keit die Erkenntnis allgemeiner, wesentlicher Eigenschaften einer großen Zahl von Dingen und Erscheinungen. Das Resultat dieser Verallgemeinerung verkörpert sich in den Begriffen, die unser Denken schafft. Das sind beispielsweise die Begriffe Baum, Materie, Mensch, Bourgeoisie, Proletariat.

Was ist nun ein Begriff? Wodurch unterscheidet er sich von der Sinnes Wahrnehmung?

Um das zu erklären, wollen wir unser Beispiel von der Fichte wieder aufgreifen. Die sinnliche Wahrnehmung liefert uns das Abbild einer einzelnen, bestimmten Fichte mit allen ihren indi­viduellen Besonderheiten. Der Begriff der Fichte aber bringt jenes Allgemeine zum Ausdruck, das ausnahmslos allen Bäumen dieser Gattung eigen ist. In diesem Begriff sind die rein indivi­duellen, unwesentlichen Eigenschaften und Merkmale, durch die sich die einzelnen Fichten untereinander unterscheiden, gewis­sermaßen gelöscht, verwischt, und er spiegelt nur ihre allgemei­nen, dafür aber wesentlichen Merkmale und Eigenschaften wider.

Ebenso ist es um den Begriff der Materie bestellt. In ihm kom­men die Besonderheiten und Unterscheidungsmerkmale eines jeden konkreten materiellen Gegenstandes - des Steins, des Feuers, der Pflanze, der Luft - nicht zum Ausdruck. Er umfaßt nur jenes Allgemeine, das ihnen allen eigen ist, ihre Materialität.

Begriffe können mehr oder weniger umfassend sein. Umfas­sende Begriffe verallgemeinern einen großen Kreis von Erschei­nungen. Derartige Begriffe sind „Materie", „Tier", „Gesell­schaft", „Produktion". Weniger umfassende Begriffe schließen einen relativ engen Kreis von Erscheinungen und Gegenständen ein, zum Beispiel „Pferd", „Fichte", „Kiefer".

Bei der Bildung eines Begriffs spielt die Sprache, das Ver­ständigungsmittel zwischen den Menschen, eine große Rolle. Be­griffe, die unser Denken formt, müssen wir in Worte fassen. Es können im menschlichen Hirn keine Begriffe und Gedanken ent­stehen, ohne daß sie in Worten ausgedrückt würden. Mit den Wörtern „Materie", „Bourgeoisie", „Proletariat" bezeichnen wir eben den Inhalt, der diesen Begriffen eigen ist.

Die wissenschaftlichen Begriffe sind für die Erkenntnis von außerordentlicher Bedeutung. Sie sind die Stützpfeiler der Er­kenntnis. Gestützt auf die von der Wissenschaft ausgearbeiteten Begriffe, finden wir uns in der Vielfalt der Erscheinungen zu­recht, gestalten wir unsere praktische Tätigkeit erfolgreich.

Man kann sich leicht vorstellen, welch große Bürde es für den Menschen wäre, wenn er jeden einzelnen Gegenstand er­kennen und die individuellen Unterschiede jedes Gegenstandes, beispielsweise jeder Fichte, jeder Weizenähre, im Gedächtnis behalten müßte. Im Gehirn des Menschen würden sich dann viele Tausend konkrete Abbilder von Gegenständen und Er­scheinungen auftürmen, was das normale Denken schlechthin unmöglich machen würde. Begriffe entheben das menschliche Gedächtnis der Überlastung durch zahllose konkrete Abbilder einzelner Gegenstände. Die Begriffe, als Verallgemeinerungen der großen Zahl gleichartiger Erscheinungen und Dinge, geben uns die Möglichkeit, die wesentliche Seite jeder dieser Erschei­nungen zu erkennen, ohne sie im einzelnen untersuchen zu müs­sen. Das bedeutet natürlich nicht, daß wir die individuellen Ver­schiedenheiten, die zwischen ähnlichen Gegenständen und Er­scheinungen vorhanden sind, außer acht lassen dürfen. Auch die individuellen Eigenschaften und Besonderheiten der Einzeldinge sind von Bedeutung. Wenn man jedoch das Wesen eines Gegen­standes kennt, kann man mit diesem Wissen ohne weiteres fest­stellen, worin er sich von anderen, ähnlichen unterscheidet.

Die Hauptbedeutung der Begriffe sowie des Denkens über­haupt besteht darin, daß wir mit ihrer Hilfe die Ursache der Erscheinungen finden und feststellen.

Wir haben bereits davon gesprochen, daß die Erkenntnis uns das Wissen von den Gesetzen der Natur und des gesellschaft­lichen Lebens liefern muß, daß wir nur dann, wenn wir diese Gesetze kennen, auch unsere praktische Tätigkeit erfolgreich zu gestalten vermögen. Jetzt können wir erklären, welche Bedeu­tung der Kenntnis der Gesetze zukommt. Die Kenntnis der Ge­setze ist eben die Kenntnis der wichtigsten Ursachen der Er­scheinungen. Das Gesetz dieser oder jener Erscheinung ent­decken heißt feststellen und begreifen, aus welchem Grunde diese Erscheinung entsteht und existiert, warum sie sich so und nicht anders entwickelt.

Die Sinneswahrnehmung, die lebendige Beobachtung für sich allein kann, besonders wenn es sich um verwickelte Erschei­nungen handelt, die wirklichen Ursachen und Gesetze dieser Erscheinungen nicht aufdecken. Der altgriechische Philosoph Aristoteles, der im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte, sagte treffend, daß die Sinneswahrnehmung uns melden kann, das Feuer sei heiß. Warum aber das Feuer heiß sei, das kann sie uns nicht sagen.

Wenn wir uns auf die Sinneswahrnehmung beschränken, wer­den wir uns manchmal über die wirkliche Ursache einer Er­scheinung täuschen. Bemerken wir zum Beispiel, wie ein Stein, nachdem die Sonne aufgegangen ist, allmählich wärmer wird, so bringen wir beide Erscheinungen in eine ursächliche Beziehung zueinander und schließen, daß die Wärmestrahlung der Sonne die Ursache der Erwärmung des Steins ist. Es fragt sich aber, ob uns der zeitliche Ablauf, die Aufeinanderfolge der Ereignisse und Erscheinungen immer berechtige, ein Kausalverhältnis, das ist ein Verhältnis von Ursache und Wirkung, zwischen ihnen festzustellen.

Natürlich nicht. Wenn beispielsweise nach einer Sonnenfinster­nis ein Heer geschlagen wird, wäre es Unsinn, zu glauben, die Sonnenfinsternis sei die Ursache dieser Niederlage. Solchen Aber­glauben gab es jedoch im Altertum sehr häufig; er stützte sich gerade auf derartige Vorstellungen von den Beziehungen zwi­schen den Erscheinungen. Häufig wird ein Witterungsumschlag mit dem Neumond, dem Vollmond oder allgemein den Mond­phasen in Verbindung gebracht. Diese irrtümliche Ansicht be­ruht auf der rein zufälligen Aufeinanderfolge der Erscheinun­gen. In Wirklichkeit jedoch gibt es zwischen dem Mond und dem Wetter gar keine Beziehung.

Somit ist es klar, daß die sinnliche Betrachtung, die Beobach­tung allein, leicht dazu führen kann, daß rein äußerliche, zufäl­lige Beziehungen zwischen den Dingen für wesentlich und ent­scheidend gehalten werden.

Die Kraft des Denkens besteht darin, daß es die inneren, tat­sächlich wichtigen kausalen Beziehungen und Verhältnisse zwi­schen den Dingen aufdeckt. Das bedeutet aber gerade die Er­kenntnis der Gesetze der Natur und der Gesellschaft.

Nehmen wir zum Beispiel das Fallgesetz. Gemäß diesem Gesetz fällt jeder aufwärts geworfene Körper unbedingt wieder auf die Erde zurück. Wenn man einen Stein in die Luft wirft, in Geschoß abschießt, einen Wasserstrahl aus dem Schlauch spritzt - der Stein, das Geschoß, das Wasser werden wieder auf die Erde zurückkehren. Das ist ein Naturgesetz. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, daß die Kenntnis dieses Naturgesetzes in der Kenntnis der bloßen Tatsache bestehe, daß aufwärts gewor­fene Körper auf die Erde zurückkehren. Das Hauptsächliche die­ses Gesetzes ist die Ursächlichkeit dieser Erscheinungen, der Grund, warum die Körper auf die Erde fallen. Das Wissen dar­über erlangen wir durch das Denken. Die Wissenschaft hat ge­klärt, daß die Körper deshalb fallen, weil die Erde sie anzieht. Diese Anziehungskraft heißt Gravitation; somit ist das Fall­gesetz eines der Gesetze der Gravitation.

Die Kenntnis der Naturgesetze gibt dem Menschen ein mäch­tiges Mittel zur Unterwerfung der Naturkräfte, zur Unterord­nung der Natur unter seine Bedürfnisse. Gestützt auf die Kennt­nis der Naturgesetze, bändigt der Mensch die Elemente: Er er­richtet Dämme und benutzt die Wasserkraft zur Energieerzeu­gung, baut großartige Gebäude, bewässert dürregefährdete Län­dereien, erhöht die Bodenfruchtbarkeit, züchtet neue Pflanzen­arten, verbindet Meere und Flüsse und vieles andere mehr.

Seit langem träumt der Mensch von einer Reise auf andere Sterne. Solche Reisen wären für die Erforschung der Natur von großer Bedeutung. Durch die Kenntnis der Naturgesetze schafft der Mensch die Bedingungen, unter denen sich dieser Traum verwirklichen läßt, und wird ihn verwirklichen.

Von großer Bedeutung ist die Kenntnis der Gesetze des ge­sellschaftlichen Lebens. Auch hier tritt die Kraft des Denkens, die Kraft des Verstandes zutage. Durch die praktische gesell­schaftliche Tätigkeit erkennt der Mensch die Ursachen und die Gesetze der gesellschaftlichen Erscheinungen. Dadurch sind wir imstande, unsere praktische Tätigkeit mit der entsprechenden Sachkenntnis auszuüben, für ein freies und glückliches Leben zu kämpfen. Ohne Kenntnis der Ursachen von gesellschaftlichen Erscheinungen würde der Mensch blind handeln und jenem „Helden" gleichen, wie ihn Kosma Prutkow in einem satirischen Gedicht verspottet:

„Da steh' ich hier auf diesem Stein -
Spring' doch ich mal ins Meer hinein ...
Was hält das Schicksal wohl bereit:
Freud oder Leid?
Vielleicht werd' ich's bereuen?
Vielleicht werd' ich's nicht scheuen ...
Springt doch der Heuschreck ohne Sinn,
weiß nicht, wohin ..."

Wer nicht weiß, welche Ursachen diesem oder jenem Ereignis zugrunde liegen, ist geneigt, alles auf das „Schicksal" zu schie­ben. Das „Schicksal" hat jedoch damit nichts zu tun. Der Glaube an ein „Schicksal" bindet dem Menschen Hände und Füße, machl ihn willenlos, passiv sowohl gegenüber den Naturkräften als auch gegenüber den Unterdrückern. Diesen Schicksalsglauben benutzt die Religion und zwingt mit ihm den Menschen, sich damit abzufinden, daß sein Leben von einer geheimnisvollen, göttlichen Kraft gelenkt werde, gegen die er nicht ankämpfen könne.

Nehmen wir Erscheinungen wie die Wirtschaftskrisen und die Arbeitslosigkeit, die alle Arbeiter und Werktätigen in den kapi­talistischen Ländern in große Not bringen. Diese Krisen ent­stehen ziemlich regelmäßig alle zehn bis fünfzehn Jahre. Wäh­rend der Wirtschaftskrise werden viele Betriebe geschlossen, Hunderttausende, ja, Millionen von Arbeitern werden auf du1 Straße gesetzt. Um eine Vorstellung davon zu geben, welche Zer­störung materieller Werte eine Krise mit sich bringt, genügt es zu erwähnen, daß die Krise der Jahre 1929 bis 1933 den Ver­einigten Staaten von Amerika 300 Milliarden Dollar kostete Etwa die gleiche Höhe erreichten die militärischen Ausgaben der USA während des zweiten Weltkriegs. Wie erklärt sich die Entstehung von Krisen in den kapitalistischen Ländern? Die bürgerlichen Wissenschaftler behaupten, die Krisen seien eine zufällige Erscheinung, sie entständen nicht zwangsläufig. Das ist jedoch eine ausgesprochene Lüge.

Der menschliche Verstand hilft uns, diese Frage zu lösen. Wie wir bereits sagten, besteht das Begreifen einer Erscheinung, das Eindringen in ihr Wesen darin, ihre Ursache, ihr Gesetz festzu­stellen. Haben Wirtschaftskrisen eine Ursache? Ja, die haben sie. Diese Ursache ist die kapitalistische Ordnung, in der die Pro­duktionsmittel Privateigentum sind. Das Hauptziel der Produk­tion unter dem Kapitalismus ist die Bereicherung der Kapita­listen, die Vermehrung ihrer Profite. Um höhere Profite zu ziehen, verringern die Kapitalisten die Löhne der Arbeiter, plün­dern sie die Völker aus, entfesseln sie blutige Kriege. Was ergibt sich daraus? Die Hauptkäufer der Waren sind die Arbeiter, die Werktätigen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Ge­rade sie sind es aber, die von den Kapitalisten schonungslos aus­gebeutet werden. Das führt dahin, daß die Arbeiter und alle Werktätigen immer weniger imstande sind, die lebensnotwen­digen Waren zu kaufen. Da aber unter dem Kapitalismus eine Produktionsanarchie besteht - jeder Kapitalist handelt nach eigenem Gutdünken und versucht möglichst viel zu produzieren, um die höchsten Profite zu erzielen -, kommt es bald so weit, daß bedeutend mehr Waren erzeugt worden sind, als die Werk­tätigen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, kaufen können. Dann entlädt sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die nächste Krise. Die Produktion wird rasch und erheblich ein­geschränkt, die Zahl der Arbeitslosen steigt. Somit ist das kapi­talistische Regime und System die Ursache der Wirtschafts­krisen. Mit eherner Notwendigkeit ruft es Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit hervor. Die Entstehung von Wirtschaftskrisen m bestimmten Zeitabständen ist also gesetzmäßig und nicht zu­fällig.

Wir erforschen die Gesetze nicht, um unsere Neugier zu be­ledigen. Wenn wir die Gesetze, die Ursachen der gesellschaftlichen Erscheinungen kennen, können wir auf den gesellschaft­lichen Entwicklungsablauf einwirken und uns um die Errei­chung unserer Ziele bemühen. Nur wer die Ursache einer Krank­heit kennt, kann sie heilen. Wenn der Kapitalismus die Ursache der Krisen, der Arbeitslosigkeit, der Kriege, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und anderer Leiden der Werk­tätigen ist, muß man die Ursache dieser Leiden vernichten; also muß man den Kapitalismus vernichten, damit die Leiden ein Ende nehmen.

Gerade die Lehre des Marxismus-Leninismus ist es, die den Weg zur Bekämpfung dieses Regimes der Unterdrückung und Sklaverei weist. Im Sowjetland haben die Arbeiter und Bauern unter der Führung der Kommunistischen Partei erstmalig in der Geschichte mit dem Kapitalismus Schluß gemacht und die so­zialistische Gesellschaft erbaut. Im Sozialismus gibt es jene Ur­sachen nicht mehr, die Ausbeutung, Krisen und Arbeitslosigkeit hervorrufen. Hier arbeiten die Menschen nicht, um Kapitalisten zu bereichern, sondern um ihr eigenes Leben zu verbessern, um das Gedeihen der Heimat zu sichern. Bei uns werden die Güter erzeugt, um die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen zu befriedigen. Das aber bedeutet: Je schneller Produktion und Arbeitsproduktivität wachsen, desto besser wer­den die Bedürfnisse der Menschen befriedigt. Bei uns überholen die wachsenden Bedürfnisse der Werktätigen die Produktion und stoßen sie vorwärts. Das ist der Grund, warum die Sowjet­menschen keine Wirtschaftskrisen und keine Arbeitslosigkeit kennen.

Die Erkenntnis schreitet von der Stufe der Sinneswahrneh­mung mit Hilfe des Denkens, des Verstandes auf die Stufe der Verarbeitung und Erforschung der Tatsachen fort und dringt damit zum inneren Kern der Erscheinungen vor. Auf dieser Stufe erkennen wir das Wichtigste: die Gesetze der Natur und der Gesellschaft.

Jedoch macht der Erkenntnisprozeß, wie wir gleich sehen wer­den, auch hier noch nicht halt.

d) Die Rolle der Praxis bei der Uberprüfung des Wahrheitsgehalts unseres Wissens

Nachdem sich in uns dank den Sinnesorganen und dem Den­ken bestimmte Vorstellungen von den Dingen und Erscheinun­gen herausgebildet haben, muß die Erkenntnis noch eine weitere verantwortungsvolle Etappe zurücklegen: die Überprüfung des erworbenen Wissens durch die Praxis.

Die Praxis, die praktische Tätigkeit, ist die sichere und einzige Methode bei der Überprüfung, ob diese oder jene Theorie richtig oder falsch sei. Sie ist gewissermaßen das Feuer, in dem alles Wahre gehärtet, alles Falsche hingegen verbrannt wird. Natür­lich ist die Praxis auch auf den ersten Stufen des Erkenntnis­prozesses an der Ermittlung der Wahrheit aktiv beteiligt. Sie ist uns behilflich, uns eine bestimmte Vorstellung von dem Gegen­stand zu bilden, den wir erforschen. Und doch sind wir, wenn wir uns eine Vorstellung von einem Gegenstand gebildet haben, noch nicht gewiß, ob sie völlig richtig sei. Erst dann, wenn die Praxis unsere Vorstellung bestätigt, dürfen wir überzeugt sein, daß wir die Wahrheit erkannt haben.

Beispielsweise schafft ein Flugzeugkonstrukteur einen neuen Flugzeugtyp. Schon beim Entwurf stützt er sich auf die bis­herigen Erfahrungen des Flugzeugbaus, prüft er diesen und jenen Teil praktisch. Schließlich ist der neue Typ fertig. Dürfen Konstrukteur und Erbauer des Flugzeugs überzeugt sein, daß alles in Ordnung sei, daß alle Berechnungen stimmen? Natürlich nicht. Es beginnt die Prüfung in der Praxis, Probeflüge werden unternommen. Hierbei kommt es vor, daß sich die Pläne des Konstrukteurs nicht bewähren. Wenn die Konstruktion aber richtig ist, wird sich das bei der praktischen Prüfung bestätigen, andernfalls wird man sie wesentlichen Veränderungen und Ver­besserungen unterwerfen und diese wiederum in der Praxis überprüfen müssen.

Häufig, besonders in den Naturwissenschaften, tritt diese oder jene Theorie zuerst als Hypothese, als bloße Vermutung auf. So forschen beispielsweise sowjetische Gelehrte danach, wie die Planeten des Sonnensystems, zu denen ja auch unsere Erde ge­hört, einst entstanden sind. Dieses Problem bietet große Schwie­rigkeiten, und es ist begreiflich, daß die Wahrheit hier zunächst nur als Vermutung, als Annahme auftritt. Natürlich stützen sich diese Vermutungen auf Tatsachen, auf Berechnungen, doch blei­ben sie trotzdem Vermutungen.

Wissenschaftliche Hypothesen werden alsbald eingehend über­prüft. Manche von ihnen halten keiner Prüfung durch die Praxis stand, andere bewähren sich und werden so aus Vermutungen zu bewiesenen Theorien.

Die marxistische Erkenntnistheorie hält die Praxis für das einzige Kriterium, das heißt für den einzigen Maßstab, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit unseres erworbenen Wissens zu beurteilen.

Was muß unter Praxis verstanden werden? Praxis ist vor allem und hauptsächlich die Produktionstätigkeit des Menschen, weil er nur vermöge dieser Tätigkeit existieren kann. Praxis ist auch die gesellschaftliche und politische Tätigkeit des Menschen, der Kampf der fortschrittlichen Klassen gegen die reaktionären Klassen mit dem Ziel, eine überlebte gesellschaftliche Ordnung auf revolutionärem Wege zu ändern. Unter Praxis muß man auch wissenschaftliche Versuche und Experimente verstehen, die zur Überprüfung von Vorstellungen oder Begriffen vor­genommen werden.

Warum ermöglicht es nur die Praxis, die Richtigkeit oder Un­richtigkeit unseres Wissens unfehlbar zu beurteilen? Kann nicht der menschliche Verstand selber über Richtigkeit und Irrtümlichkeit entscheiden? Die Idealisten beispielsweise be­haupten, nur der Verstand könne entscheiden, ob unser Wissen richtig oder falsch sei. Der Standpunkt der Idealisten hält jedoch keiner Kritik stand. Der Verstand des Menschen kann sich so­wohl richtige als auch falsche Vorstellungen von den Dingen bilden. Wie soll dann dieser Verstand selber entscheiden, welche Vorstellung richtig und welche falsch sei?

Manche Idealisten sind der Ansicht, nur klare und deutliche Vorstellungen und Begriffe könnten wahr sein. Die Klarheit und Deutlichkeit von Begriffen und Vorstellungen bestätigt jedoch keineswegs ihren Wahrheitsgehalt. Natürlich ist es wichtig, daß unsere Begriffe klar und deutlich sind. Ihre Richtigkeit jedoch hängt davon ab, ob sie den realen Dingen entsprechen und ihre Eigenschaften richtig widerspiegeln. Um das zu beantworten, gibt es nur einen einzigen Weg: die Überprüfung jeder Vorstel­lung in der Praxis.

Die Idealisten verleugnen das Kriterium der Praxis aus dem Grunde, weil es genügt, diesen wissenschaftlichen Maßstab des Wahrheitsgehalts an ihre Theorien anzulegen, um diese Theo­rien völlig zu zerstören. Keine Erfahrung hat je den Satz von der Erzeugung der Materie durch das Bewußtsein bestätigt oder wäre je dazu imstande. Der Leitsatz der Materialisten dagegen, daß ein materieller Körper, das Gehirn, das Organ des Bewußt­seins ist, wird durch das Leben selbst bestätigt. Ohne dieses Organ ist kein Bewußtsein, kein Denken möglich. Die Praxis, die praktische Tätigkeit, ist gerade darum der höchste Richter für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts menschlichen Wis­sens, weil sie gestattet, es durch Versuche, durch Tatsachen, zu überprüfen.

Unser Wissen stellt beispielsweise fest, daß die Ursache der Ausdehnung von festen Körpern, Flüssigkeiten und Gasen ihre Erwärmung ist. Wir können diese Beziehung zwischen der Ur­sache, der Erwärmung, und der Folge, der Ausdehnung der Stoffe, durch Versuche überprüfen. Da der Versuch diese Be­ziehung bestätigt und beweist, bedeutet das, daß wir die Ursache der Ausdehnung der Stoffe richtig erkannt haben; folglich ist unser Wissen wahr.

Vor etwa zwei Jahrhunderten herrschte in der Wissenschaft die Vorstellung, die Wärme werde durch einen besonderen Wärmestoff verursacht, das „Phlogiston", das aus brennenden Körpern unsichtbar entweiche. Diese Vorstellung wurde lange Zeit für wahr gehalten, obwohl kein praktischer Versuch diesen geheimnisvollen Stoff feststellen konnte. Der große russische Gelehrte Lomonossow bewies, daß die Ursache der Wärme die Eigenbewegung der Moleküle ist - der kleinsten Stoffteilchen. Die Praxis hat gezeigt und bestätigt täglich aufs neue, daß diese Theorie, die kinetische Wärmetheorie, richtig und die Phlogiston-theorie falsch ist.

Die Wissenschaft entdeckte auch, daß in der Natur eine Um­wandlung von Wärmeenergie in mechanische Energie, in Be­wegungsenergie, stattfindet. Auf Grund dieses Gesetzes schuf man zahlreiche Wärmekraftmaschinen, die Wärmeenergie aus­nutzen. Offensichtlich hat die Praxis die Richtigkeit der wissen­schaftlichen These von der Umwandlung der Wärmeenergie in mechanische Energie voll bestätigt.

Schon vor vielen Jahren stellte die Wissenschaft fest, daß in den Atomkernen eine ungeheure Energie geballt ist. Aber nur die praktische Beherrschung dieser Energie konnte die wissen­schaftliche These darüber voll bestätigen. Wie bekannt, ist die Erzeugung von Atomenergie heute zur Tatsache geworden.

Auch in der Wissenschaft von der Gesellschaft ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit. Jede Theorie wird auch hier in den Erfahrungen des Klassenkampfs, in der politischen Tätigkeit der Staaten und Parteien, in der Bewegung der Volksmassen, die die entscheidende Rolle in der Geschichte spielen, praktisch überprüft.

Viele Jahrhunderte versuchten die Prediger religiöser An­sichten den werktätigen Massen einzureden, ihr Schicksal werde von Gott gelenkt, die Beteiligung an revolutionären Kämpfen sei schädlich, man müsse ergeben auf die Ankunft des Erlösers warten, der, wie sie meinten, Ordnung schaffen und den Men­schen ein glückliches Leben bringen werde. Die Werktätigen in den kapitalistischen Ländern überzeugen sich jedoch an Hand ihrer Lebenserfahrungen immer mehr davon, daß diese Lehren falsch sind und den Ausbeuterklassen nur als Mittel dienen, sie an der Kandare zu halten und sie zu zwingen, das Joch der Sklaverei ohne Murren zu ertragen.

Die Idealisten behaupten auch, nicht die Volksmassen spiel­ten die Hauptrolle im Leben der Gesellschaft, sondern hervor­ragende Persönlichkeiten, Helden, von denen in jeder Hinsicht die gesellschaftliche Entwicklung abhänge. Das Leben und die gesellschaftliche Praxis entlarven jedoch auf Schritt und Tritt solche religiöse und idealistische Legenden und lehren, daß „kein Gott, kein Kaiser noch Tribun" die Freiheit bringen wird. Die marxistische Wissenschaft von der Gesellschaft hat die werk­tätigen Massen mit der Kenntnis gewappnet, daß nur ihr von der Kommunistischen Partei geleiteter, geeinter und konsequenter Klassenkampf gegen Gutsherren und Kapitalisten die wirkliche Freiheit bringen und die Möglichkeit geben wird, ein neues Leben aufzubauen.

Die bürgerlichen Philosophen, Ökonomen und die Pfaffen aller Kirchen und Religionen haben die kapitalistische Ordnung als „ewige" und „vernünftige" Ordnung gepriesen und heilig­gesprochen.

Der Marxismus hat die Theorie von der Unvergänglichkeit des Kapitalismus seit langem widerlegt und hat bewiesen, daß sich die kapitalistische Ordnung überlebt hat und von der sozia­listischen Ordnung abgelöst werden wird.

Wer hat nun recht behalten? Wessen Lehre erwies sich als wahr, als der Wirklichkeit entsprechend? Auch hier hat die Praxis, das Leben, das entscheidende Wort gesprochen. Die Er­fahrungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in un­serem Land und des weiteren die Revolutionen in einer Reihe von Ländern Europas und Asiens haben die Lehre des Marxis­mus-Leninismus in vollem Umfang bestätigt. Diese Lehre hat im Feuer des Klassenkampfs und in der Praxis des sozialisti­schen Aufbaus in der UdSSR eine allseitige Prüfung bestanden. Das Leben hat bewiesen, wer recht hat. Die Ideen des Sozialis­mus, des Friedens und der Demokratie dringen immer tiefer in das Bewußtsein der werktätigen Massen der ganzen Welt, da das Leben und die Lebenserfahrungen die größten Lehrer und Erzieher der Menschen sind.

Unser Wissen von den Dingen und Erscheinungen kann zu sicherem Wissen nur werden, sofern es durch die Praxis über­prüft worden ist. „... die Dinge existieren außer uns", stellt Lenin fest. „Unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen sind ihre Abbilder. Durch die Praxis werden diese Abbilder einer Probe unterzogen, werden die richtigen von den unrichtigen geschieden."

Editorische Hinweise

M. Rosental: Was ist marxistische Erkenntnistheorie?, Berlin 1956, S. 22-52