Texte zu Klasse & Partei
Marx und Engels zur politischen Partei des Proletariats
Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung (Teil 1)

Diskussionsvorlage des ZK der KPD (1979)

03/2016

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In der Entwicklungsgeschichte des Marxismus finden wir theoretische Arbeiten zur politischen Partei des Proletariats nicht als ,reine' und isolierte, sondern stets im Zusammenhang mit geschichtlichen Ereignissen, Erörterungen über den revolutionären Prozeß und ideologischen Kämpfen in der Arbeiterbewe­gung. Die Auseinandersetzungen um die Parteifrage waren also immer welche um den revolutionären Prozeß und die darin einzuschlagende Strategie.
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Das ist auch notwendig so, da die sozialistische Revolution und die schließliche Aufhe­bung der Klassen das Ziel der Kommunisten und die Partei auf diesem Wege Mittel zum Zweck ist. Die Erreichung des Ziels einer Kommunistischen Partei bedeutet schließlich im Kommunismus ja sogar, daß sie überflüssig wird und sich auflöst. Durch die Auseinandersetzungen um die Parteifrage ziehen sich al­lerdings bestimmte gleiche oder ähnliche Fragen:

  • Die Beziehung zwischen der politischen Partei, der Arbeiterklasse und den Massen (und davon abgeleitet die Beziehungen innerhalb der Partei)
  • Die Beziehung zwischen der Theorie und politischen Strategie der Partei einerseits, den wirklichen Klassenaktionen des Proletariats andererseits;
  • Der Ort einer politischen Partei des Proletariats im Rahmen der gesamten Klassen in den Wechselbeziehungen aller Klassen und Schichten, im politi­schen Leben auf gesamtstaatlichem Niveau;
  • Der nationale Charakter und das internationalistische Wesen der Partei; Dies allerdings immer auf dem gesellschaftlichen und historischen "Boden, auf dem die Auseinandersetzung jeweils geführt wurde. Um unseren eigenen Stan­dort bestimmen zu können, müssen wir also die Parteitheorie stets mit den hi­storisch besonderen Bedingungen vermitteln. Denn es gibt sowohl hinsichtlich der nationalen als auch internationalistischen Aufgaben historisch jeweils be­sondere, und wir müssen davon ausgehen, daß keine Partei ihre endgültige Form findet, sondern ihre eigenen nationalen und geschichtlich gewordenen Züge immer wieder neu ausprägt.

Wollen wir nicht wie die modernen Revisionisten den wirklichen Geschichtsprozeß in den Schraubstock von nachträglichen Beschlüssen, Geschichtsfälschungen zwängen, so dürfen wir eben die geschichtliche Darstellung der Parteitheo­rie nicht als eine Geschichte von Parteitagen, Schriften oder Resolutionen mit direkt durchschlagender Wirkung auf den geschichtlichen Prozeß verstehen. Die Wirkungsgeschichte einer Partei oder theoretischer Vorstellungen ist ei­gentlich die Geschichte der Klasse, deren Interessen sie vertritt innerhalb des ganzen Ensembles von Klassen und politischen Kräften, in die die Gesellschaft sich teilt, innerhalb dessen die politische Partei des Proletariats nur ein Teil, ein bestimmter Machtfaktor ist. Auch wenn wir in dieser Skizze der Entwicklung der Parteitheorie diesen Anspruch nicht einfach einlösen können, halten wir es für wichtig, ihn anzumelden. Denn dieser Ausgangspunkt enthält in sich schon eine Aussage über den Stellenwert der Partei im Verhältnis zur Geschichte und deren Subjekt, den Volksmassen. Eine Darstellung der Geschichte als einer „Resolutions-Geschichte" heißt nämlich, die Partei als geschichtliches Subjekt an die Stelle des Volkes zu stellen oder zumindest die Funktion der Partei zu übertreiben, d.h. dies ist immanent schon eine parteitheoretische Aussage, un­seres Erachtens ein Fehler, der in der Geschichte der KI weit verbreitet war. Dies bedeutet gleichzeitig eine selbstkritische Aussage, denn diese Verengung des Geschichtsbildes war unsere eigene Praxis in der Darstellung der histori­schen Entwicklung. Bei den modernen Revisionisten allerdings ist dies nicht ein Fehler innerhalb einer grundlegend revolutionären Strategie und Politik, auch nicht nur ein Fehler in weltanschaulichen Grundlagen. Bei ihnen kommt darin ihr Verständnis der politischen Partei als einer bürgerlichen, eines Instruments zur Erringung von Machtpositionen zum Ausdruck.

Unser Interesse an der Entwicklung der Parteitheorie ist nicht abstrakt. Es geht allgemein um die Verbindung des wissenschaftlichen Sozialismus mit der Arbei­terbewegung.

Heute werden Lenins Vorstellungen über die politische Avantgarde des Proleta­riats innerhalb der linken und fortschrittlichen Bewegung von vielen kritisiert und abgelehnt. Lenin wird dabei als russischer Theoretiker gesehen, dessen Auffassungen in Westeuropa sowohl damals nicht galten, unter den veränder­ten geschichtlichen Bedingungen heute erst recht nicht. Ihm wird der Vorwurf gemacht, mit seiner Vorstellung einer politischen Vorhut die Spaltung inner­halb der Arbeiterklasse und -bewegung organisatorisch noch verdoppelt zu ha­ben. Und — seine Vorstellungen liefen darauf hinaus, die Aktion einer Minder­heit oder Elite im Sinne Blanquis an die Stelle der geschichtlichen Aktion der Volksmassen zu setzen. Diese Auseinandersetzung um den Leninismus in der Parteifrage wird dabei mit historischen Bezügen geführt. Die Auffassungen von Marx und Engels werden dabei gegen Lenin gestellt und es wird gefordert, man müsse zu Marx, zum Ausgangspunkt des Marxismus zurückkehren, weg von Le­nins .Irrweg'. Oder es wird Bezug genommen auf die Auseinandersetzung zwi­schen Rosa Luxemburg und Lenin 1904. Die These der Aktualität des Lenin­schen Parteikonzepts muß sich an ihren Kritiken abarbeiten und beweisen. Des­halb wollen wir uns zunächst mit diesen historischen Bezügen auseinanderset­zen, um unseren eigenen Standort zu bestimmen.

Marx und Engels zur politischen Partei des Proletariats

Marx und Engels beschrieben in ihren Schriften den Prozeß, wie die Entwick­lung des Kapitalismus die Klasse der Proletarier selbst hervorbringt und als Klasse zusammenschweißt, wie sich der Entwicklungsgang von der Klasse an sich zur Klasse für sich vollzieht. Dabei lebten Marx und Engels in der Zeit, in der sich diese Prozesse vor ihren Augen bzw. unter ihrer tätigen Mitwirkung vollzogen. Die kapitalistische Entwicklung aus feudalen Verhältnissen heraus, die Entwicklung von Arbeitervereinen, Gewerkschaften und politischen Organi­sationsformen, in denen das Proletariat seine Interessen artikuliert, bürgerliche Revolutionen, in denen bereits das Proletariat ansatzweise seine eigenen, weiter­führenden Klasseninteressen vorbringt, die Beziehungen von ökonomischen Kampfbewegungen und politischer Bewußtheit des Proletariats, zwischen Ge­werkschaft und politischen Organisationen — dies ist das historische und gesell­schaftliche Milieu, in dem Marx und Engels arbeiteten, ihre Aufgaben fanden und in dem ihre theoretischen Auffassungen verstanden werden müssen. In ih­ren Beschreibungen des Bildungsprozesses der Arbeiterklasse kommt zum Aus­druck, daß es damals objektiv um die Herausbildung des Proletariats als Klasse gegenüber dem Kapital im Produktionsprozeß und subjektiv um die Uberwin­dung vorkapitalistischer Elemente in der Arbeiterklasse selber ging. Marx' und Engels' Auffassungen zur Partei sind nicht einheitlich, sie änderten sich mit den sich ändernden historischen Bedingungen dieses Bildungsprozesses. Im Kom­munistischen Manifest, das sie für den ,Bund der Kommunisten' in der bürger­lichen deutschen Revolution von 1848 schrieben, umreißen sie die großen histo­rischen Aufgaben der Arbeiterklasse und die Rolle der Kommunisten in diesem Prozeß:

"In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern über­haupt? Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorhe­ben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschie­denen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourge­oisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kom­munisten sind also der praktisch entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegungen voraus. " (MEW Bd.4, S.474)

In seinen wesentlichen Aussagen ist dieser Abschnitt grundlegend und war seit­dem Leitfaden einer kommunistischen Arbeit. Marx stellt hier aber auch im konkreten Zusammenhang dar, worum es damals ging: Um die Uberwindung der Zersplitterung der proletarischen Bewegung in viele Ansätze von Arbeiter­und Bildungsvereinen, Geheimbünden usw. Und es ging theoretisch vor allem um den Kampf gegen und die Überwindung der Ansätze des utopischen Sozia­lismus, dessen Kritik im .Manifest' ein eigenes Kapitel gewidmet ist. D.h. es ging um eine wissenschaftliche und nicht utopische Grundlage der Arbeiterbe­wegung.

Ist die Überwindung vorkapitalistischer, utopischer und sektenmäßiger Züge und die theoretische und politische Vereinheitlichung die Aufgabe innerhalb der Arbeiterklasse und -bewegung, so stellt sich innerhalb der bürgerlichen Re­volution zweitens aber die Frage, wie sich die Arbeiterklasse in ihr gegenüber dem demokratischen Kleinbürgertum verhalten soll. Marx und Engels plädie­ren aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem schwankenden Kleinbürgertum, das sich aus Furcht vor der Arbeiterklasse in die Arme der Bourgeoisie und des Feu­dalismus zurückflüchtet, dafür, daß die Arbeiterklasse sich nicht politisch zum Anhängsel des Kleinbürgertums machen lassen darf. In ihrer ,,Ansprache der Zentralbehörde an den Bund" nach der Niederlage der bürgerlichen Revolution schreiben sie ihre Erfahrungen nieder:

,,Statt sich abermals dazu herabzulassen, den bürgerlichen Demokraten als beifallklatschender Chor zu dienen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, da­hin wirken, neben den offiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stel­lung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden. " (Ausgewählte Werke Bd.l, S.102f)

Hier wird also die Frage der politischen Partei des Proletariats in den Rahmen des Verhältnisses des Proletariats zur bürgerlich-demokratischen Revolution ge­setzt. Sie ist für Marx notwendig, um die gesonderten Klasseninteressen des Pro­letariats anmelden zu können, und spielt auch eine Rolle in seinen Überlegun­gen, die bürgerliche Revolution über sich hinaus zu treiben, sie durch die Ak­tion des Proletariats ,,permanent zu machen". In der weiteren geschichtlichen Entwicklung und der rasanten Entwicklung der kapitalistischen Produktions­weise treten diese Überlegungen von Marx und Engels jedoch in den Hinter­grund, ihr Ansatzpunkt in der Frage der politischen Partei ändert sich. Nicht die Reinigung von vorkapitalistischen Elementen steht dann im Vordergrund, sondern die Frage, wie die vor ihren Augen vom Kapitalismus zusammenge­brachte Klasse zum politischen Ausdruck gelangt und zur Klasse für sich wird. Marx und Engels gebrauchen hier häufig die Begriffe Partei und Klasse als sy­nonyme Begriffe, weil sie diesen Prozeß als einen ansehen, den die ganze Klasse vollziehen muß. Für Marx entwickelte sich die proletarische Partei „aus dem Boden der modernen Gesellschaft überall naturwüchsig"(MEW Bd. 30, S. 490 ff). Es ist diese grundlegende Identität von Partei und Klasse, die Marx dazu bringt, gegenüber den existierenden Arbeiterorganisationen eine sehr flexible Taktik anzuwenden. Marx' Gedanken über den Parteibildungsprozeß kreisen vor allem um das Verhältnis des ökonomischen und politischen Kampfes. Wenn er von einer ,,previous Organisation"(dazu weiter unten) spricht, dann meint er eine Organisation, die Ausdruck einer sich auf dem Boden des Kapitalismus entwickelnden, mächtiger werdenden, aber theoretisch hilflosen Arbeiterbewe­gung, eine „ursprüngliche Organisation" ist. Die Gründung der I. Internatio­nale war der Versuch, die verschiedenen Organisationsansätze (mit verschiede­nen Ideologien) auf der Basis eines Minimalprogramms zu vereinigen.

Für Marx und Engels waren dieses Minimalprogramm, theoretisch-ideologische Auseinandersetzung und Öffentlichkeit als Medium des Kampfes die Grundla­gen ihrer Arbeit. Deshalb reagierten Marx und Engels auch so allergisch, als die Bakunisten diese Grundlage mit ihrer Geheimbündelei verletzten. Marx pole­misierte gegen sie, weil sie sich als „privilegierte Vertreter der revolutionären Idee" betrachteten und eine „Einheit der Gedanken und des Handelns" woll­ten, die der „Orthodoxie und dem blinden Gehorsam der Gesellschaft fesu" (MEW 18, Bd., S.346) gleichkäme.

Marx und Engels befanden sich ja in einer Position, wo sie mit den nationalen Arbeiterbewegungen in Europa und Amerika zwar verbunden waren, aber ih­nen selbständig gegenüber standen. Ihre Zeit ihres Lebens geübte scharfe theo­retische Kritik nicht allein an utopischen Restbeständen, sondern gerade gegen­über der deutschen Sozialdemokratie auch am Opportunismus, der auf dem ka­pitalistischen Boden sproß, ihre Ratschläge an verschiedene Arbeiterparteien müssen aus dieser Position verstanden werden. Dabei ist die konkrete Analyse der jeweiligen Situation stets die Voraussetzung ihres Urteils. So wie Marx und Engels in den theoretischen und ideologischen Kämpfen nie einen Kompromiß gemacht haben, so wenig haben sie aus den politischen Fragen der Arbeiterbe­wegung und der Parteien in den verschiedenen Ländern ein abstraktes Schema gemacht. Sie haben allerdings auch nicht an ihrer Grundüberzeugung gerüt­telt daß die politischen Fraktionierungen, der Opportunismus usw. gegenüber dem Parteibildungsprozeß der ganzen Klasse zwar notwendige „innere Kämpfe", aber letztlich doch gegenüber der grundlegenden Tendenz zur Ein­heit der Klasse und der Identität von Partei und Klasse nebenseitige Faktoren sind.

Da es um die Entwicklung der ganzen Klasse zur Partei oder Klasse für sich ging, spielten im Denken Marx' und Engels' natürlich die Gewerkschaften eine große Rolle. Sie sollten „ihre organisierten Kräfte ... gebrauchen als einen He­bel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Ab­schaffung des Lohnsystems"(AW Bd.l, S.418) und „lernen, bewußt als organi­sierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer voll­ständigen Emanzipation" (MEW Bd.16, S.197). Die politische Bewegung und politische Organisation geht dabei für Marx aus den ökonomischen Kämpfen selbst hervor, wie er im Brief an Bolte schreibt:

Das political movement (die politische Bewegung, d.Verf.) der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Eroberung der political power (der politischen Macht, d. Verf.)/ür sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte previous Organisation (vorhergehende Organisation im Sinne des zeitlichen Vorlaufs, d. Verf.) der working class (Arbeiterklasse, d. Verf.) nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst Und in dieser Weise (wie beim 10-Stunden-Kampf) wächst überall aus den vereinzelten ökonomi­schen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d.h. eine Be­wegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form, die allgemeine, gesellschaftlich zwingende Kraft besitzt. Wenn diese Bewegungen eine gewisse previous Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebenso sehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation. Wo die Arbeiterklasse noch nicht weit genug in ihrer Organisation fortgeschritten ist, um gegen die Kollektivge­walt der herrschenden Klassen einen Feldzug zu unternehmen, muß sie jeden­falls dazu geschult werden, durch fortwährende Agitation gegen die (und feind­liche Haltung zur) Politik der herrschenden Klassen. " (AW Bd.2, S.437)

Es wäre falsch, hieraus Marx in eine ökonomistische Zwangsjacke pressen zu wollen. Seine politischen Schriften insbesondere zu den französischen Klassen­kämpfen oder seine Herausarbeitung der politischen Elemente in der Bildung von Klassenbewußtsein bei der irischen oder polnischen Frage beweisep das Ge­genteil. Dieses Zitat zeigt daher, daß Marx und Engels die Spaltungen und Schichtungen innerhalb der Arbeiterklasse als etwas Vorübergehendes und ge­genüber der Tendenz zur politischen Vereinheitlichung Nebensächliches ansa­hen. Für Marx' und Engels' Beiträge zur Parteitheorie gelten aber auch die selbstkritischen Hinweise Engels', er und Marx hätten sich notgedrungen .etwas einseitig' auf die Analyse der ökonomischen Struktur beschränken müssen. Marx und Engels haben in ihren Schriften zur politischen Ökonomie und zum historischen Materialismus selbst Beispiele gegeben, aus den materiellen Exi­stenzbedingungen heraus notwendige Bewußtseinsformen zu analysieren. Sie haben den Fetischcharakter der Warenbeziehungen, der die Beziehungen zwi sehen Menschen als solche zwischen Sachen, als objektive, erscheinen läßt, und dessen Bedeutung für die Produktion falschen Bewußtseins analysiert. Und sie haben gezeigt, wie die Menschen die Geschichte aufgrund vorgefundener Be­dingungen machen, und darauf hingewiesen, daß die Traditionen und ge­schichtlichen Erfahrungen „wie ein Alp auf den Lebenden lasten". Diese Aus­führungen haben sie aber nicht als wesentliche Bedingungen für den Entwick­lungsprozeß zur Klasse für sich auf ihre Darlegungen zur Partei angewandt. In seinen Spätschriften entwickelte Engels zwar noch hellsichtig, wie die Monopol­stellung Englands die Ursache der .Verbürgerlichung' der englischen Arbeiter­partei ist, und geißelte den erstarkenden Opportunismus in der deutschen So­zialdemokratie. Aber er ging davon aus, daß dieser Opportunismus eine ziem­lich leicht zu überwindende Nebenströmung war. Engels' Erklärungen trugen immer noch den Stempel der Grundannahme von Marx und Engels — die Mo­nopolstellung Englands war etwas Vorübergehendes, das wie der Opportunis­mus die Entwicklung des Proletariats zur politischen Partei nur zeitweilig hem­men konnte.

Wir stoßen hier einmal auf die theoretischen Grenzen des Werks von Marx und Engels; zweitens sehen wir aber auch, unter welchen historischen Bedingungen sie ihre Theorie entwickelten, deren historische Schranke sie notwendig auch nicht überschreiten konnten. Dies war erst möglich, als diese Schranken objek­tiv überschritten waren.

Wo mußte über Marx und Engels hinausgegangen werden? Es zeigte sich, daß der Opportunismus in der Sozialdemokratie und anderen Parteien eben keine vorübergehende Erscheinung war, sondern tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Dies konnte nur auf der Grundlage der materiellen Existenzbedingungen des Prole­tariats, auf der Grundlage der kapitalistischen ökonomischen Basis wirklich ma­terialistisch erklärt werden, da es kein vorkapitalistischer Rückstand im Be­wußtsein und Sein der Klasse war, sondern Produkt des kapitalistischen ent­wickelten Seins der Klasse. Über Marx und Engels hinausgegangen werden mußte auch in der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialis­mus, in den Schlußfolgerungen, die daraus für die ökonomischen Grundlagen der Arbeiterklasse und ihr Bewußtsein, für die Schichtungen innerhalb der Klasse usw. zu ziehen waren.

Beides warf das Problem der Einheit der Klasse und ihrer Zersplitterung auf dem Boden eines entwickelten Kapitalismus und seines Übergangs zum imperia­listischen Stadium neu auf, weshalb sich auch die Parteifrage und das Verhält­nis Partei und Klasse in einer neuen Weise stellen mußte.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:  Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung, in: Theorie und Praxis 2/1979, Köln 1979, S. 9-14


 

Teil 2: Lenins Auffassungen zur politischen Partei folgt demnächst