Die kurze Geschichte der PROVO-Bewegung
erzählt von Jochen Schmück

mit einer redaktionellen Vorbemerkung von Karl-Heinz Schubert

03/2017

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung
Für die erste Generation der TREND-Macher*innen, die ihre politischen Wurzeln in der westberliner Jugend- und Studentenwegung hatte, war es in den 1990er Jahren ein besonderes Anliegen, die politische Bewertung von "1968" nicht denen zu überlassen, die mit ihrer linken Vergangenheit gebrochen hatten oder schon immer "auf der anderen Seite" standen. Dazu gehörte für uns in erster Linie, die 1968er Bewegung nicht als bornierte kulturelle Erscheinung in einem Land darzustellen, sondern so wie sie wirklich war, als eine sich über Jahre herausbildende internationale Erscheinung der damaligen Klassen- und sozialen Verhältnisse in der jeweiligen länderspezifischen Ausformung (siehe Textarchive unten).

Die Beilage "APuZ" für die Wochenzeitung "Das Parlament" stellte im Januar 2017 gleichfalls fest, dass "1968" seine Ursprünge in den vorherigen Jahren  hatte  und nannte in diesem Kontext die "Protest- und Bürgerrechtsbewegungen, die sich vor allem, aber nicht nur in Westeuropa und den Vereinigten Staaten bildeten".

Die Aufgabe von ApuZ besteht darin, politische Mainstreams für die staatsbürgerliche Unterweisung in den bürgerlichen Zustimmungsapparaten (Schule, Hochschule, Verbände, Parteien) zu formulieren. Insofern ist sie ein Indikator, was in Sachen 1968 bereits in diesem Jahr - nämlich des 50. Jahrestages der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 an Neu- und Uminterpretationen auf uns zukommt. Gegen solche Vorhaben bedarf es nicht nur schlüssiger Argumente sondern auch  ein gerüttelt Maß an Faktenwissen. Im Editorial dieser Ausgabe schrieben wir dazu, dass wir uns daher bei der Behandlung historischer Themen wie z. B. "100 Jahre Oktoberrevolution" nicht aus "der Chronist*innenpflicht entlassen". Deshalb veröffentlichen  wir anläßlich des nahenden 50. Jahrestages des Endes der niederländischen  PROVO-Bewegung deren kurze Geschichte.

Weitere Texte zur Revolte in den 1960er werden in unregelmäßiger Erscheinungsweise in diesem Jahr folgen, um die bei Infopartisan.net vorhandenen Materialsammlungen zu ergänzen. / khs für red. trend

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PROVO markiert den Beginn einer neuen anarchistischen Bewe­gung in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg. Der traditionelle, mit der Arbeiterbewegung verknüpfte Anarchismus der Vor­kriegszeit hatte 1939 mit der Zerschlagung der libertären Bewegung Spaniens seinen endgültigen Niedergang gefunden.

Bis zum Ende der 50er Jahre war es den isolierten anarchisti­schen Gruppen der Nachkriegszeit in Westeuropa nicht gelun­gen, etwa in der Ostermarschbewegung ihren Einfluß zu vergrö­ßern. Erst im Zuge der Schüler- und Studentenunruhen, die An­fang der 60er Jahre begannen und im legendären Pariser Mai 1968 ihren Höhepunkt erreichten, kam es zu einer breiteren Wiederbelebung anarchistischer Ideen.

Die PROVO-Bewegung in den Niederlanden entstand 1965 aus ei­ner Fusion verschiedener, meist unpolitischer Jugendprotest­bewegungen. Der eigentliche Anlaß, der zu ihrer Entstehung führte, waren die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und einer Gruppe Jugendlicher um den 33jährigen Fensterput­zer und Magier Robert Jasper Grootveld, die seit 1964 regelmäßig an den Wochenenden Happenings auf dem Amsterdamer Spui-Platz veranstaltete. Mit ihren nächtlichen Straßenfe­sten wollten sie die Obrigkeit und das spießige Bürgertum provozieren, was ihnen schließlich auch gelang: Woche für Wo­che trieben Polizisten die Jugendlichen mit Gummiknüppeln und gezogenen Säbeln auseinander.

Die verkrustete und beleidigte niederländische Obrigkeit rea­gierte auf die fantasievollen, fast neckischen Provokationen der Jugendlichen mit einer Welle von Verhaftungen und ge­richtlichen Verurteilungen von Happening-Teilnehmern. Selbst das saturierte Bürgertum zeigte sich von der staatlich insze­nierten Hexenverfolgung der PROVOs schockiert. In einem am 18. Juni 1966 von ca. 1200 zum Teil prominenten niederländi­schen Bürgern unterzeichneten offenen Brief an die Staatsbe­hörden hieß es:

„Wir sind in unserem Gefühl für Gerechtigkeit verletzt worden..." und „Wir fordern alle Polizeibeamten, Bürger­meister, Mitglieder von Gemeinderäten, Justizbeamten, Oberrichter, Parlamentsmitglieder, die Regierung und alle weiteren Behörden auf, alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit Vernunft und Gerechtigkeit wieder in die Ju­stizverwaltung einziehen. Zur Zeit kann von Vernunft und Gerechtigkeit nicht die Rede sein."

Weit entfernt davon abschreckend zu wirken, brachten die staatlichen Verfolgungen der PROVOs ihnen den Zulauf weite­rer Jugendlicher. Schon im April 1965 waren zu der Grootveld-Gruppe junge Arbeiter und Studenten gestoßen, die sich um den damals 23jährigen Philosophiestudenten Roel van Duyn zusammengeschlossen hatten. Bei ihrer Zusammenarbeit mit der anarchistischen Zeitschrift „De Vrije" waren sie zu der Ein­sicht gekommen, daß die traditionellen, auf die Arbeiterbe­wegung ausgerichteten Methoden der anarchistischen Bewegung sich als untauglich für die Gegenwart erweisen. Ihrer Ansicht nach war in den westlichen Wohlfahrtsstaaten der einstige Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat bis zur Un­kenntlichkeit verschmolzen. Die einzige noch rebellische Gruppierung sahen sie in dem sogenannten „Provotariat", d.h. in all den verschiedenen Jugendprotestbewegungen, die als Beatniks, Mods, Rocker usw. sich alle bereits auf ihre eige­ne, jedoch unpolitische Weise gegen die bestehende Gesell­schaft und ihre Normen auflehnten. Sie zu politisieren und ihren Protest zum aktiven Widerstand gegen Staat und Autori­tät zu vereinen, war das erklärte Ziel, das sich die Grün­dungsmitglieder der PROVO-Bewegung um Roel van Duyn gesetzt hatten. (Der von ihnen verwendete Name „PROVO" wurde ur­sprünglich von dem niederländischen Soziologen W. Buikhuisen geprägt, der mit diesem Begriff eine bestimmte Gruppierung Jugendlicher bezeichnete, die sich durch ihr nonkonformisti­sches und provozierendes Verhalten gegen die bestehende Ge­sellschaft auflehnten.)

Viele der älteren Anarchisten fühlten sich durch die PROVO-Bewegung stark angesprochen, waren aber zugleich verwirrt über den anarchistischen Anspruch. So berichtet beispielswei­se der niederländische Anarchist Rudolf de Jong :

„Anarchisten aus anderen Ländern, die die PROVOs aufsuch­ten, waren oft geradezu verzweifelt über ihren Mangel an theoretischem Interesse und theoretischer Kenntnis."

Die im Juni 1965 gegründete und schon bald in einer Auflage von 20 000 Exemplaren monatlich erscheinende Zeitschrift „PROVO" trug stark zur Verbreitung anarchistischer Ideen un­ter den Jugendlichen bei. Weiteren Zulauf erhielten die PROVOs im Herbst 1965 durch Studenten, die sich in der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung engagierten.

Mit zunehmender Staatsrepression nahmen die einst unpoliti­schen Happenings der PROVOs den Charakter politischer Demon­strationen an, die sich gegen die atomare Aufrüstung, den Vietnamkrieg, die Monarchie, das koloniale Erbe sowie gegen den täglichen Konsumterror und die Verpestung der Städte durch Industrie- und Autoabgase richteten.

Internationales Aufsehen erzielten die PROVOs am 10. März 1966 mit ihren Aktionen und Demonstrationen aus Anlaß der Hochzeit der niederländischen Kronprinzessin Beatrix mit dem Deutschen Claus von Arnsberg, einem ehemaligen Panzergrenadier in Hitlers Wehrmacht. Die überwiegende Mehrheit der nieder­ländischen Bevölkerung stand dieser Verbindung ablehnend ge­genüber auf Grund ihrer aus der Zeit der Nazi-Besetzung re­sultierenden anti-deutschen Ressentiments. Dennoch beharrten Königshaus und Regierung darauf, die Hochzeit mit allem feu­dalen Prunk und Pomp ausgerechnet in der republikanischen Hochburg Amsterdam abzuhalten. Am Morgen des Hochzeittages versammelten sich PROVOs und Studenten am Denkmal des unbe­kannten Arbeiters zur Erinnerung an den großen, gegen die Judendeportation gerichteten Februarstreik des Jahres 1941. Der Demonstrationszug drang in die Paradestraße vor mit dem Ruf „Es lebe die Republik!1'. Selbstgefertigte Rauchbomben explodierten, und die halbe Welt konnte live über den Bild­schirm das von den PROVOs inszenierte Spektakel und die wil­den Knüppelorgien der Polizei miterleben.

Obschon auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, geriet die PRO­VO-Bewegung in eine Krise über die zukünftig einzuschlagende politische Strategie. Am heftigsten entzündete sich die Dis­kussion an der Frage der Wahlbeteiligung. Gegen den Wider­stand des radikalen und erklärt anarchistischen Flügels ge­lang es den „Revisionisten" um Duco van Weerlee und Bernhard de Vries, sich zugunsten der Wahlbeteiligung mit dem Argument durchzusetzen:

„Wenn wir uns nicht an den Gemeindewahlen beteiligen, wür­de PROVO Tausenden von Amsterdamern die Chance nehmen, ih­rer Unzufriedenheit mit dem heutigen Gang der Dinge eine positive und linksradikale Form zu geben."

Unterstützung erhielt diese Fraktion von einer anderen PR0V0-Gruppe, die die Wahlbeteiligung als eine Art politisches Happening verstand. Ihr Wahlslogan hieß: „Wähl'ste PROVO -kann'ste lachen." Im Wahlkampf traten die PROVOs mit einer Reihe „Weißer Pläne" (vgl. S. 30-32) an die Öffentlichkeit, in denen ihre ökologischen und basisdemokratischen Vorstel­lungen zum Ausdruck kamen. Mit 13 000 Stimmen wurde am 1. Juni 1966 der „Spitzenkandidat" der PROVOs Bernhard de Vries in die Amsterdamer Gemeindevertretung gewählt.

Wenige Tage später erlebte das militante, außerparlamentari­sche „Straßenprovotariat" einen seiner letzten Höhepunkte in den Barrikadenkämpfen des Amsterdamer Bauarbeiteraufstandes. Anläßlich einer Demonstration von Bauarbeitern, die einen Lohnkonflikt austrugen, kam es am 13. Juni zu schweren Zusam­menstößen zwischen der Polizei und den Demonstranten, bei de­nen ein 51 jähriger Maurer ums Leben kam. Die allgemeine Er­regung über den Tod des Arbeiters wurde besonders durch eine Hetzkampagne der reaktionären Zeitung „Telegraaf" angeheizt, die behauptete, die Arbeiter hätten ihren Kollegen durch Steinwürfe selbst umgebracht. Am nächsten Tag kam es zu er­neuten Demonstrationen, die ihren Höhepunkt in der gemeinsam durch PROVOs und Bauarbeiter organisierten Erstürmung des Verlagshauses des „Telegraaf" fanden, wobei ähnliche Taktiken angewandt wurden wie zwei Jahre später bei den Anti-Springer-Kampagnen in der Bundesrepublik und West-Berlin (Sabotage der Auslieferung neuer Hetzeditionen, Umzingelung, Isolierung des Redaktionspersonals von der Straße, Brandanschläge usw.) Die Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten, die ei­nen aufstandsähnlichen Charakter angenommen hatten, konnten von der niederländischen Regierung nur durch die Besetzung Amsterdams durch ein starkes Kontingent von Militär- und Reichspolizei unterdrückt werden.

Seit ihrem Einzug ins Parlament und den militanten Aktionen während des Amsterdamer BauarbeiteraufStandes hatten sich die Differenzen zwischen dem reformistischen und dem radikalen Flügel der PROVO-Bewegung von Monat zu Monat verschärft. Die­ser interne Spaltungsprozeß führte dazu, daß sich die Bewe­gung ab dem Frühjahr 1967 allmählich wieder in die einzelnen voneinander isolierten Strömungen auflöste, aus denen sie zwei Jahre zuvor entstanden war. Robert Jasper Grootveld widmete sich nur noch seinen immer mystischer werdenden Hap­penings. Bernhard de Vries ging nach einem kurzen parla­mentarischen Intermezzo nach Italien zum Film. Ein großer Teil der PROVOs schloß sich der gerade entstehenden Hippie-Bewegung an, während der politisch engagiertere Teil um Roel van Duyn - einem zeitgenössischen Pressebericht zu­folge - weiterhin „anarchistische Untergrundaktivitäten" betrieb und einen starken Einfluß auf die 1970 entstehende Kabouter- und Kraaker-Bewegung hatte.

Im Herbst 1967 wurde auf einer großen PROVO-Versammlung im Amsterdamer Vondelpark die Bewegung schließlich offiziell zu Grabe getragen. Luud Schimmelpenninck , einer ihrer ehe­maligen „Wortführer" erklärte:

„Die meisten von uns hatten eingesehen, daß wir nichts Neues mehr machen konnten. Wir hatten erreicht, was wir wollten: Anstöße gegeben, die Entwicklung beschleunigt. Unsere Ideen in konkrete Projekte umzusetzen, diese Chan­ce haben wir verpaßt. Aber ich glaube, dazu wäre PROVO auch gar nicht in der Lage gewesen."

Die anarchistischen Ideen, die mit Entstehen der PROVO-Bewegung erstmalig in der Nachkriegszeit wieder einen fruchtbaren Nährboden in den Niederlanden gefunden hatten, breiteten sich im Zuge der verschiedenen Jugendrebellionen der 60er Jahre über ganz Westeuropa aus und haben im Verlauf der 70er Jahre zur Bildung einer vitalen, internationalen anarchisti­schen Bewegung geführt. Es geht voran. Doch ob es uns gelin­gen wird, in den 80er Jahren eine gesamtgesellschaftliche, ja globale Bedeutung zu erlangen, wird vor allem davon ab­hängen, in wie weit wir in der Lage sind, die brennenden Fragen und Probleme der Gegenwart aufzugreifen - wie die zu­nehmende UmweltZerstörung, die galoppierende Massenarbeits­losigkeit in den westlichen Industriestaaten, die imperiali­stische Weltenteilung, die anwachsende Polizeistaatlichkeit und die tödliche Bedrohung der Menschheit durch den sich an­bahnenden 3. Weltkrieg -, und ob es uns gelingt, unseren aktiven Widerstand sowie die anarchistischen Alternativen länderübergreifend und koordiniert zu entfalten.

Die Nächte sind lang und voller Abenteuer - die Tage voller Träume!

Jochen Schmück West-Berlin im Herbst 1983

Editorische Hinweise

1966 veröffentliche die  Oberbaumpresse in Westberlin Roel van Duyns Agitationsschrift „Einleitung ins provozierende Denken" und den „Aufruf an das internationale Provotariat" sowie das  Wahlprogramm der PROVOs: „WARUM wählen unzufriedene Amsterdamer PROVO?"

 

Anhand der englischen Erstveröffentlichung der beiden Texte Roel van Duyns (Anarchy Nr. 6 , Vol. 6 , London 1966, S. 229ff., 235f.) wurde die leider sehr unvollständige deutsche Erst­Übersetzung von Cornelia Krasser und Jochen Schmück 1983 frei überarbeitet und unter dem Titel "Roel van Duyn: PROVO. Einleitung ins provozierende Denken" neu herausgegeben.

 

Aus dieser Broschüre übernahmen wir die "kurze Geschichte der Provo-Bewegung", die mit dem Titel "Nachwort" angefügt wurde.