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GELSENKIRCHEN, im März 1999

Aspekte der endzeitlichen Krisenphilosophie
Naht das Millenium Teil II
Das "Ganzheits"-Denken und der Anti-Intelektualismus


Der Irrationalismus im Räderwerk des bürgerlichen Staates

von DIETMAR KESTEN

03/99
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Teil I erschien in der Februarausgabe

Der Irrationalismus des "Ganzheits"-Denken (Mensch und Kosmos) stellt sich sich in der Krisenphilosophie als "Zerrissenheit" dar, die den modernen Menschen wie ein Geschwür umschließt. Es ist die zerstörte Einheit von "Leib" (Natur) und "Geist" (Seele), die seit der FREUDschen Endeckung des Unterbewußten bekannt ist. Hinter dieser idealistischen Nomenklatur verbirgt sich heute als real- gesellschaftliche Erscheinung der Entwicklungsprozeß der kapitalistischen Arbeitsteilung, der die Scheidung von Kopf- und Handarbeit auf die Spitze getrieben hat und alle menschlichen Lebensbereiche (Arbeit, Konsum, Freizeit, Sexualität etc.) immer mehr aufspaltet und voneinander trennt; die Menschen in arbeitende, konsumierende oder sexbesessene Monaden verwandelt, die in einer denaturierten Umwelt und kulturellen Wüste vegetieren. Nicht von ungefähr feiert die "STAR -TREK" Serie (1) gerade in diesen Tagen einen ungemeine Aufschwung, die den "Instinkten" des Menschen zu folgen scheint, seiner naturellen Art, ihn vorbereitet für den schweren Gang ins 21. Jahrhundert, wo es zwar trennende, durch böse Leidenschaften verursachte Mythen gibt, sie aber letztendlich durch die "überschaubare Vernunft" in der Ganzheit des Individuums aufgehoben werden können. Die Reise in den Schoß der "Mutter der Natur" ist als akute Enderwartung gedeutet, die abgewanderte Sehnsucht des irdischen Menschen - die schlimmste Verkümmerung der modernen Zeit - wird durch neue Botschaften der Hoffnung endlich ins Eschatologische hinübergerettet.

Der Irrationalismus der Moderne hat verschiedene Spielarten, er hat sich in der gesamten modernen Geschichte gefestigt, sich vor allem im kulturellen Bereich eine gewisse Vormachtstellung "erarbeitet", freilich nicht, um die Probleme zu lösen, sondern um sie "spirituell" zu verarbeiten, zu überspielen und in der einen oder an- deren Form die Rückkehr ins Imaginäre zu predigen. Die "Ganzheit" von Leib und Seele, Geist und Natur soll dadurch wiederhergestellt werden, daß das "Gefühl" oder der "Instinkt" die Steuerung des Handelns anstatt des Intellekts übernimmt; die Misere der "modernen Welt" scheint also nicht auf etwaige materielle Widersprüche zurückgeführt zu werden, sondern auf ein "zu viel Denken", auf den "Intellektualimus", der unmittelbar durch stärkere Zuwendung zum "Körperli- chen" oder "Gefühlsmäßigen" gezügelt werden soll.

Die bürgerliche Gesellschaft der Moderne mag sich nach dem Untergang des Arbeiterbewegungsmarxismus unter dem Vorwand der Wiederherstellung des "gesamten Menschen", der Einheit von Leib und Seele zuzuwenden, diesem dumpfen Anti- Intellektualismus, der bei den schlechten "Instinkten" des"Volkes" immer auf Zustimmung hoffen kann. Aber die Gefühlsarmut, weil sie materielle gesellschaftliche Ursachen hat, wird da- durch nicht beseitigt, der Kult des Gefühls, mit dem gerade die Unterhaltungsmedien in den 90er Jahren aufgetrumpft haben, feiert munter seine Renaissance als Attidüde kleinbürgerlicher Sekten oder neuer Lebensformate.

Historisch betrachtet, war es der Faschismus, der von einem gewissen Anti-Intellek-tualismus profitierte und ihn in seine irrationalistische ideologische Synthese aufgenommen hatte; denn der Kampf gegen den Intellektualismus zeigte sich im Dritten Reich im gesamten Überbau von Kulturproduktion und Kulturideologie, im Alltags- leben sowie in der (Kultur)-Politik. Es war der "Instinkt" und die "Stimme des Blutes", die die Befeiung bringen sollten, die Loslösung von der Geistestätigkeit. Verstandesmäßige Regeln und Gesetze soll- ten keine Chance erhalten; die dekonstruierte "Ganzheits"-Sehnsucht feierte in aller- lei Gebrauchsanweisungen für das praktische Leben der Menschen die eigentliche Konstituierung der neuen Rasse. Auf ideologischem Gebiet war der Erzfeind des Nationalsozialismus der Intellektualismus. Ihm hatte HITLER besonders den Kampf angesagt: "Die Schule als solche muß in einem völkischen Staat unendlich mehr Zeit freimachen für die körperliche Ertüchtigung. Es geht nicht an, die jungen Gehirne mit einem Ballast zu beladen, den sie erfahrungsgemäß nur zu einem Bruchteil behalten...(2) Und: "Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß die Krö- nung darin finden, daß sie den Rassensinn und das Rassengefühl instinkt- und verstandesgemäß in Herz und Hirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt. Es soll kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein..." (3)

Der Nationalsozialismus wandte sich an die Gesamtseele, an das Denken, Fühlen und Wollen. Mit der Erkenntnis und dem Erleben des Völkischen hatte er das Unerhörte in die Welt gesetzt, daß auf den Verstand zu verzichten ist, auf die theoretische Vernunft. Es ging um das Erleben, das praktische Handeln. Nachweislich lehnte er sich damit an GUSTAV Le BON und seine Massenpsychologie an, an das Aufmerksammachen der Menge, an die wirklichen Vorgänge im Staat, den bestimmten Tatsachen, den Hinweisen, deren Bedeutung dadurch erst in den Gesichtskreis der Massen gerückt werden sollte. Wirken und Wille müssen immer auf das Gefühl der Masse gerichtet sein. Erst das würde den "durchschlagenden Erfolg bringen". (4)

Mit dieser psychologischen Basis menschlicher Geistestätigkeit konnte der Faschismus in der Gänze den Intellektualismus ablehnen; jeder konnte sich befugt fühlen, kraft der eigenen Intuition und der reinen subjektiven irrationalen "Wesensschau" die Alpträume politischer Spekulationen und die reaktionärsten Vorstellungen als neue Wahrheiten auszugeben und ganze Ethnen damit zu "erleuchten".

Es war eben nicht der Intellektuelle, der die ideologischen Warnbilder verbreiten durf- te, das hybride Pathos, sondern der "Volksredner", der auf die Massen einhämmerte und so eine fabelhafte Kenntnis dieses Menschenmaterials zu gewinnen wußte. Die versierten Praktiker standen ohne Zweifel im Vordergrund, die "die verhaßte bür- gerliche Welt dereinst in Feuer und Flammen aufgehen" (5) lassen und die menschliche Kulturentwicklungen neu schreiben. Die Abwehrhaltung gegenüber der Ratio führte dazu, daß sich ungehindert jeder in das Wesen aller Dinge versenken konnte, ohne daß es eine rationale Kontrolle dieser Art von Ergebnissen gegeben hätte. Es reichte, ein "gutes" Herz, Gefühle, Tiefe der Natur zu haben, zu entdecken oder sich anzueignen. Was der Nationalsozialismus vor und nach 1933 systematisch praktizierte, ist offenkundig: Jede Hinwendung zum Intellektualismus widersprach der "Blutreinheit"; es ging um Überrumpelung, um Manipulation, um eine gefühlsbetonte Unterwanderung und Überwältigung der Massen. Das Volk sollte keine Möglichkeit mehr erhalten, sich verstandesgemäß mit den dargebotenen Schauspielen auseinanderzusetzen, das Subjekt mußte radikal aus- geschaltet werden, das reine Objekt, der Staat, denkt "gefühlsmäßig" und handelt stellvertretend, und diese paranoiden Verzückungszustände waren nichts anderes als die totale Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Individuums: Fahnen, "Sieg-Heil" Rufe, Fanfaren, Marschkolonnen und Massenveranstaltungen im Sportpalast, auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg und auf dem Bückeberg, Flammen, Fackeln, Banner, Spruchbänder, Lichtdome - das ganze Arsenal diente der Selbstauslöschung des Subjekts und darüberhinaus des Intellektuellen.

Die permanente Besinnungslosigkeit, zu der die Massen getrieben wurden, war jene irrationale Vorstellung, die im Einheitsbrei einer "Volksseele" aufgehen sollte. Alles Denken löste sich für den Nationalsozialismus in einem Prozeß der psychi- schen Reaktionen auf. Der freie Geist hatte seinen Standort im Universum verloren, deshalb ging es um die "vollkommene Umstellung des gesamten öffentlichen Le- bens"; (6) der Rückschlag gegen jedes Fortschrittsdenken . Die Idee, die alles vereinigen sollte, war die Unsterblichkeit des "Dritten Reiches" in der menschlichen Kulturentwicklung. Und dabei griff es auf alle Facetten des Unbewußten, des Dunkeln, den Todes-Geist, der selbstmörderischen verhängnisvollen Wege, wie es HITLER in der Darstellung über die Flandern-Offensive (7) getan hatte, zurück. Das irrationale Seelendunkle, das Mütterlich-Chaotische, der geisitge Schmerz, das Wollen der Erprobung des Leibes, die gebärische Unterwelt, das war der ultimative Schöpfungsakt, die Lebenskunst. Wenn es individuelle Ethik im "Dritten Reich" gab, dann bestand sie in einer gewis- sen "Verkopfung", in einer "Schöpfung aus dem Nichts".

Es ist mehr als naiv, wenn sich die modische Kritik des 20. Jahrhunderts an der zu schaffenden "Idee des Menschen" heranmacht, um zu zeigen, daß sie sich ganz und gar von der Modellierung des Nationalsozialismus verabschiedet hätte. Weit gefehlt! Die Mystifizierung ist geblieben, die Hinwendung zur "Ganzheit", "Kör- perlichkeit", zum "Gefühl", zu all den "Tugenden", die der Nationalsozialismus zur deutschen Lebensführung erklärt hatte, zu SEINER ästhetischen Konzeption des Menschen. Das heutige Aufblitzen des Irrationalismus an der Schwelle zum neuen Jahrtausend scheint sich wieder in einer gewissen Omnipotenz widerzuspiegeln. Der Staat als Gehirn der Massen; diese exorbitante Ausweitung der Theorie von den "unsterblichen Übermenschen" ist wie ein Geschwür latent vorhanden, zwar noch verdeckt, in der Literatur nur zwischen den Zeilen zu erlesen, aber als eine Art Aufbruchs- euphorie, die eine fragwürdige Vermittlerrolle spielen könnte, doch nicht gänzlich wegzuleugnen, wenn etwa an die Betonung der Gefühlsapparatur des Homo erek- tus gedacht wird.

Wiederum scheint es gewisse Vorreiter zu geben, die allesamt in der einen oder anderen Weise den Code des "Aubruchs zu neuen Ufern" verkünden. Man kann etwa an den amerikanischen Biologen O. WILSON (8) denken, an den Berliner Philosophen WILHELM SCHMID, RICHARD SENNETT, oder wie könnte es anders sein, an den Nationalkonservativen Ernst NOLTE. (9) Sicherlich sind sie keine Vordenker des Heraufziehens eines "D(T)eutschtums"; jedoch ist frappant: Alle ziehen am Vorabend der Jahrtausendwende Bilanz und zwar in einer Art, die ihre Geschichtslosigkeit, ihre Ahnungslosigkeit zeigt, was man z. B. gerade von Historikern wie ERNST NOLTE nicht unbedingt erwartet hätte. Es wuchert nämlich in der einen oder anderen Form der ganze Irrationalismus, das Gefühlsdenken und der Anti-Intellektualismus, was uns leider bei vielen neuzeitlichen Philosophen immer öfter zu begegnen scheint. NOLTE hat nun gerade in "Historische Existenzen" den gescheiterten Versuch un- ternommen, die Menschheit in einen "nachgeschichtlichen Zustand" (10) hineinzu- pressen. Der staatlichen "historischen Existenz" würde "staatliche Hierarchie feh- len", "praktische und spirituelle Transzendenz". (11) Was immer das heißen mag: Fast reicht es zu sagen, daß der, der "ein gutes Herz und Gefühl" hat, der nach ihm die alten "geschichtlich genannten Zustände" zurückläßt, überleben wird. Die Gedankenspiele der Irrationlismen: Der "Wille" wird zur Geschichte, der "kalte" Intellekt setzt sich nicht mehr in Szene, ist fehl am Platz.

Zur Milleniumswende wird scheinbar die physikalische Welt, damit auch der Mensch entsubstantialisiert, seine lebendige Seele eliminiert. An Stelle des Menschen tritt wie bei A. HUXLEY (12) formuliert, seine Betäubung, Verblödung, die "ganzheitliche" Erschlaffung; alle intellektuellen kreativen Kräfte sind auf einmal der Verblendungen des Geistes untergeordnet. Sollte die moderne Warenproduktion tatsächlich wieder auf Märchen, Mythen, Zeugnisse und Obskuranten setzen, auf die Mystiker, die Bilder, die Dinge, die sich jedem rationalen Blick verschließen; dem direkten Zugriff der Worte? Sollte sie wieder die Botschaften verschlüsseln wie bei dem französichen Philoso- phen JEAN-FRANCOIS LYOTARD, der für das menschliche Wissen "ein anderes Gefäß" (13) finden will, sollte das rationale Denken ad absurdum geführt werden, so daß es keine Gültigkeit mehr hat, gefolgt von der mystischen Erkenntnis wie etwa bei dem Science-Fiction Autor STANISLAW LEM (14) oder auch PAUL VIRILIO der die Äquivalenz seines Ebenbildes mit "der konkreten Lichtgeschwindigkeit" in Übereinstimmung bringen will; die erst das "vollkommene Bild erzeugt" (15) und die psychischen Eigenschaften der Menschen in eine "metabolische Verdunkelung" (16) hüllt? Sollte es so sein, dann hat das Selbstbewußtsein wiederum die absolte Kontrolle verloren. Die Rückkehr zum Imaginären, zum Irationalismus hätte vielleicht noch in einer viel schlimmeren Form, als sie uns aus der Geschichte bekannt ist, eingesetzt.

Anmerkungen

(1) STAR TREK: Feierte in den 70er Jahren als Raumschiff "Enterprise" (Fernseh- serie) seine Auferstehung; plätscherte im irrationalen pseudo-"philosophischen" Überbau in zig Filmen (z. B. "Star-Trek - Der Film" (1979); "Auf der Suche nach Mr. Spock" (1983); "Tödliche Manipulation" (1987) sein Dasein; feierte 1998 mit "Der Aufstand" ein Comeback. Der "Jungbrunnnen" das Außerirdische, das Geheimnisvolle und die spirituellen Moorleichen werden neu entdeckt.

(2) CHRISTIAN ZENTNER (Hrsg.): "Adolf Hitlers Mein Kampf", München 1974, S. 104.

(3) Ebd. S. 108.

(4) Ebd. S. 104.

(5) Ebd. S. 116.

(6) Ebd. S. 97.

(7) FLANDERN OFFENSIVE: Juni - Dezember 1917; Tankschlacht bei  Cambrai; deutscher Gegenangriff November/Anfang Dezember 1917 und Gegenoffensive der Alliierten ab Juli 1918; Generaloffensive der Alliierten ab September 1918 mit der Zurückschlagung der deutschen Angriffs ab Oktober/November 1918. Vgl. ZENTNER S. 118f.

(8) O. Wilson: "Die Einheit des Wissens", Berlin 1998.

(9) ERNST NOLTE: Historiker (11.1 1923); wurde 1965 Professor in Marburg; 1973 in Berlin (FU); forscht v.a. zu Entstehung und Wesen des Faschismus ("Der Faschismus in seiner Epoche", 1963) und zu totalitären Ideologien, stand 1986/87 im Mittelpunkt des Historikerstreits. Veröffentlichungen: "Theorien über den Faschismus" (1967); "Deutschland und der kalte Kreig" (1974); "Marxismus-Faschismus-Kalter Krieg" (1977); "Marxismus und industruielle Revolution" (1983); "Der Europäische Bürgerkrieg 1917 - 1945" (1987); "Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus" (1993); "Feindliche Nähe" (Briefwechsel mit F. FURET -1998); "Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte" (1998).

(10) ERNST NOLTE: "Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte"; München 1998, S. 597ff.

(11) Ebd. S. 290 ("Religion ist das spezifisch Menschliche schlechthin; denn kein anderes Lebewesen ist durch "Transzendenz" bestimmt"); 597ff.; S. 680.

(12) Vgl. ALDOUS HUXLEY: "Schöne neue Welt", Frankfurt/M. 1953 und "Das Genie und die Götter", Frankfurt/M. 1958.

(13) Vgl. JEAN-FRANCOIS LYOTARD: "Heidegger und die Juden". Wien  1988, S. 20ff.; 44ff.

(14) Vgl. z. B. STANISLAW LEM: "Der Unbesiegbare" (1967); "Solaris"

(1972); "Fiasko" (1989).

(15) PAUL VIRILIO: "Der negative Horizont. Bewegung - GeschwindigkeitBeschleunigung"; München/Wien 1989; S. 185ff.

(16) Ebd., S. 210ff.

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