Material zum Thema "Schülerknast"

Lesauszug aus „Therapie unter geschlossenen Bedingungen – ein Widerspruch ?“ 5. Kapitel
Juristische Grundlagen der geschlossenen Heimunterbringung

Von Bernhard Stadler

04/09

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Die deutsche Rechtsordnung kennt den Begriff der „Geschlossenen Unterbringung“ weder im Zusammenhang mit dem Bundesgesetzbuch (BGB) noch mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Es handelt sich um einen Begriff, der aus der Heimerziehung stammt und in der Geltungszeit des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG), insbesondere in den späten 60-er Jahren in Verbindung mit der Diskussion der Reform der Fürsorgeerziehung eine Rolle gespielt hat.

 

Der Berliner Sozi-Senat unterstützt den sozialdemokratisch geführten Bezirk Neukölln bei der Einrichtung eines "Schülerknasts" für so genannte schuldistanzierte Jugendliche aus migrantischen Zusammenhängen.
Mitte April wird dieses Heim für freiheitsentziehende Maßnahmen eines Trägers der ev. Kirche eröffnet. In der letzten Ausgabe stellten wir historisches Material vor, um aufzuzeigen in welche real- und ideologiegeschichtlichen Traditionen dieser "Schülerknast"  einzuordnen ist. In der vorliegenden Ausgabe wollen wir auf die Rechtsgrundlagen eingehen, die dem heutigen Wegsperren und Aussondern dienen. Des weiteren wollen wir zeigen, wie diese Maßnahme zukünftig durch eine zentrale Schülerdatenbank unterstützt wird.

Für die Auseinandersetzung um die Notwendigkeit und rechtliche Zulässigkeit der geschlossenen Unterbringung ist daher von Bedeutung, dass es sich um eine ganz bestimmte inhaltlich konzeptionelle Vorgehensweise zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen handelt, die als solche aber nicht in dieser Form im Gesetz benannt ist.

5.1 Das alte Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG)

Das Jugendwohlfahrtsgesetz war von 1922 bis 1990 gültig. Die für die geschlossene Unterbringung wichtigen Paragrafen befinden sich im Abschnitt VI. Es handelt sich dabei um die §§ 62 und 63 JWG (Freiwillige Erziehungshilfe) und §§ 64 – 68 JWG (Fürsorgeerziehung). 

Die Freiwillige Erziehungshilfe wurde durchgeführt, wenn der Personensorgeberechtigte einen schriftlichen Antrag beim zuständigen Jugendamt gestellt hatte und laut § 62 JWG „...diese Maßnahme zur Abwendung der Gefahr oder zur Beseitigung des Schadens geboten ist.“ War hier noch der Antrag des Personensorgeberechtigten notwendig, konnte das Vormundschaftsgericht laut § 64 JWG diese Maßnahme dann anordnen, „...wenn sie erforderlich ist, weil der Minderjährige zu verwahrlosen droht oder verwahrlost ist.“ Sie durfte nur dann angeordnet werden, wenn keine andere Erziehungsmaßnahme ausreichend erschien. 

Der Antrag auf Fürsorgeerziehung konnte vom Jugendamt, Landesjugendamt oder den Personensorgeberechtigten gestellt werden (§ 65.1 JWG). Der Antragsberechtigte und der/die Minderjährige waren mündlich anzuhören, soweit dies ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich war. 

Der Hinweis in § 64 JWG, dass Fürsorgeerziehung nur dann angeordnet werden durfte, wenn keine andere ausreichende Erziehungsmaßnahme gewährt werden konnte, deutet auf die Schwere des Eingriffes hin. 

Im Anordnungsverfahren konnte das Vormundschaftsgericht einen Sachverständigen zur Begutachtung heranziehen. Bei Gefahr im Verzuge war es dem Vormundschaftsgericht möglich, gemäß § 67 JWG vorläufige Fürsorgeerziehung anzuordnen. Sie war spätestens nach sechs Monaten zu beenden, wenn keine endgültige Fürsorgeerziehung erfolgt war. 

Die Aufsicht über Freiwillige Erziehungshilfe (FEH) und Fürsorgeerziehung (FE) oblag dem Landesjugendamt. 

Beide Hilfemaßnahmen endeten mit der Volljährigkeit. Die FEH verlor ihre Berechtigung, wenn ihr Zweck erfüllt war oder wenn ein Personensorgeberechtigter einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. 

Fürsorgeerziehung hingegen wurde von Amts wegen bzw. auf Antrag der in § 65 JWG genannten Personen aufgehoben. Vor einer Aufhebung der FE wurden das Jugendamt oder das Landesjugendamt gehört. 

5.2 Das KJHG 

1991 tritt das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft (s. VIII. Buch des Sozialgesetzbuches). Gleichzeitig endet der Wirkungskreis des Jugendwohlfahrtsgesetzes: Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung verlieren ihre Gültigkeit. 

Das Inkrafttreten des KJHG bedeutet eine Wendung von einem eingriffsorientierten (JWG) zu einem präventionsorientierten Gesetz. Das KJHG kann als ein Dienstleistungsgesetz verstanden werden (Trenczek 1994). Es legt Ansprüche auf Hilfen zur Erziehung (§ 27-35) für alle Jugendlichen fest, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Es handelt sich dabei um Unterstützungsformen unterschiedlicher Intensität. 

Heimerziehung ist nur eine Hilfeform, die gleichberechtigt neben vielen anderen Hilfeformen steht. 

Das KJHG eröffnet keine eigenständige Rechtsgrundlage für eine freiheitsentziehende Unterbringung auf Dauer im Rahmen der Jugendhilfe. Soll ein Minderjähriger geschlossen untergebracht werden, bedarf es stets einer richterlichen Genehmigung des entsprechenden Antrags der Personensorgeberechtigten gemäß §1631 b. 

5.3 § 1631 b BGB 

„Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur mit Genehmigung des Fam i liengerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Das Gericht hat die Genehmigung zurückzune h men, wenn das Kindeswohl die Unterbringung nicht mehr erfordert.“ 

Seit 1.7.1998 ist sowohl für die Genehmigung der geschlossenen Unterbringung (§ 1631 b BGB) als auch für Eingriffe in das elterliche Sorgerecht (§ 1666, 1666 a BGB) einheitlich das Familiengericht zuständig. Das bis zu diesem Zeitpunkt zuständige Vormundschaftsgericht ist nur noch bei geschlossenen Unterbringungen von Erwachsenen befasst (Greßmann 1998 ). 

Die Maßnahme der geschlossenen Unterbringung setzt dem Gesetzestext nach nicht die akute Gefährdungssituation voraus, sondern muss vorrangig dem Kindeswohl entsprechen (Schwab & Wagenitz 1998). 

Eine Grundvoraussetzung freiheitseinschränkender Maßnahmen ist die strikte Einhaltung aller dafür geltenden Rechtsvorschriften (Späth 2001). Dabei sind die Informationsrechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen (§ 8 SGB VIII) sowie die Verfahrensvorschriften (§§ 70ff. FGG) zu berücksichtigen. Im einzelnen handelt es sich dabei um: § 70 b: Bestellung einer Verfahrenspflegerin, § 70 c: Persönliche Anhörung des jungen Menschen durch das Gericht, § 70 d: Gelegenheit zur Äußerung für eine Vertrauensperson des jungen Menschen, § 70 e: Vorlage eines jugendpsychiatrischen Gutachtens, Entscheidung durch Familiengericht (§ 1631 b BGB, Artikel 104 GG), Beteiligung des Landesjugendamtes hinsichtlich Beratungs- und Aufsichtsaufgaben (§§ 45 und 46 SGB VIII) und Vorliegen einer Leistungsbeschreibung und Qualitätsentwicklungsvereinbarung (§§ 78 b ff. SGB VIII). 

Die familienrichterliche Entscheidung ist der Betroffenen mitzuteilen, die dagegen Beschwerde einlegen kann. Die Dauer der Unterbringungsmaßnahme muss in dem Beschluss enthalten sein. Wenn dieser Beschluss nicht vorher verlängert wird, darf er höchstens ein Jahr betragen. 

Im Vorfeld kann nach § 70 h FGG eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme angeordnet werden, die sich maximal über sechs Wochen, nach Anhörung eines Sachverständigen auch über drei Monate erstrecken kann. 

Die Unterbringungsmaßnahme ist dann beendet, wenn laut § 70 i ihre Voraussetzungen entfallen. 

Da die Eltern/Sorgeberechtigten und nicht das Gericht die Entscheidung für die Unterbringung getroffen haben, können sie diese jederzeit auch wieder beenden, es sei denn, sie würden damit die Gefährdungsgrenze des § 1666 überschreiten. In diesem Falle wäre die verantwortliche Leiterin der Einrichtung bzw. der Arzt berechtigt, die Herausgabe (§ 1632 Abs. 1) zu verweigern, um sofort eine vorläufige Anordnung des Familiengerichts zu erwirken. 

Zu einer Überprüfung von § 1631 b durch das Bundesverfassungsgericht kam es bislang nicht. Die Bedenken der zu dieser Entscheidung führenden – indes zu Recht verworfenen – Richtervorlage wegen Unbestimmtheit („die Unterbringung muss im wohlverstandenen Interesse des Kindes liegen“, was aber bedeutet: „Wohl des Kindes“?), dürften durch die strengen Anforderungen an das Unterbringungsverfahren gemäß §§ 70-70n FGG ausgeräumt sein, wenn auch das materielle Recht weiterhin darüber hinaus dem Familiengericht keine inhaltlichen Kriterien vorgibt (Salgo 1997; 338). Schlink und Schattenfroh sind der Ansicht, dass die zentrale Vorschrift der zivilrechtlichen Unterbringung, § 1631 b S.1 BGB verfassungswidrig und nichtig ist, wenn selbiger Paragraph nicht um präzise Eingriffsvoraussetzungen ergänzt wird (2001; 127,157). Allerdings liegen zu Fragen des „Kindeswohls“ inzwischen umfangreiche rechts- und humanwissenschaftliche Standardwerke vor (Salgo 1997; 338). Auch durch die Rechtsprechung besteht inzwischen mehr Sicherheit, wenn auch zu Fragen des „Kindeswohls“ niemals alle denkbaren Alternativen schon gerichtlich entschieden sein können. 

Der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der einzusetzenden Mittel führt automatisch zum Vorrang aller möglichen sozialpädagogischen Lösungen, die ohne Freiheitsentziehung auskommen. Der § 1631 b BGB ist insofern eine Ausnahmevorschrift (Salgo 1997; 325-348). 

Es ist insofern absolut angebracht, dass der Gesetzgeber diese relativ rechtlose Situation aufgreift und eine geschlossene Unterbringung im § 1631 b BGB von einer familiengerichtlichen Entscheidung abhängig macht. Doch wer vertritt die Position des Kindes ? Wer prüft, ob die Erwachsenen alles in ihrer Macht stehende getan haben, ob nicht andere Alternativen zur Verfügung stehen ? Wer kontrolliert die Effizienz der Maßnahmen, wer kontrolliert die Gutachter? Wer gleicht die ohnmächtige Position dieser Kinder und Jugendlichen aus? 

Für Kinder unter 14 Jahren ist die Bestellung eines Pflegers für das Verfahren im Sinne des § 70 b Abs. 1 FGG geboten, weil hier bei der zu entscheidenden Frage, ob das Gericht der Unterbringungsabsicht der Sorgeberechtigten folgt, eine Interessenskollision besteht (Salgo 1997; 344). 

Die Bestellung einer Verfahrenspflegerin wird in § 70 b Abs. 1 FGG gefordert, „soweit dies zur Wahrung der Interessen des Betroffenen erforderlich ist“. Hiervon ist regelmäßig auszugehen, weil ein Minderjähriger seine Interessen in einem so komplizierten Verfahren wie dem Unterbringungsverfahren nicht ausreichend vertreten kann. 

Spätestens nach der Kindschaftsrechtsreform könnte im Verfahrenspfleger, dem sog. Anwalt des Kindes nach § 50 FGG ein wichtiges Element eines Lösungsansatzes liegen. Aufgrund der z.T. massiven Interessenskonflikte der üblichen Garanten, insbesondere durch die oft geringe Beteiligung der Personensorgeberechtigten, kann grundsätzlich selbst aus einer erteilten Elternzustimmung zu einer Maßnahme keine Konfliktfreiheit geschlossen werden. Vielmehr muss in diesen Situationen generell von einem massiven Interessenskonflikt ausgegangen werden. In der Regel sind die zur Debatte stehenden Maßnahmen immer mit einer Trennung des Kindes aus seiner Familie verbunden. In einer Situation, in welcher über Eingriffe in Grundrechte entschieden wird und klassische Interessenskonflikte bestehen, sollte das Instrument eines kompetenten Kinderanwaltes (Fegert 1999) genutzt werden. Fegert vertritt die Ansicht, dass die Verfahrenspflegerin nach § 50 FGG nach der Kindschaftsrechtsreform durchaus nicht nur ein Jurist sein kann oder soll, sondern dass sozialpädagogische, psychologische Kompetenzen vielmehr im Vordergrund stehen müssen; für den spezifischen Fall der geschlossenen Unterbringung plädiert er jedoch für einen Anwalt, der den Jugendlichen auch im Strafprozess vertreten kann. Diese eigenständige Rechtsvertretung des betroffenen Kindes könnte aus ihrer fachlichen Kompetenz und mit juristischen Mitteln sicherstellen, dass wirklich und allein fundierte pädagogische und therapeutische Motive Anlass für die geplante Maßnahme (geschlossene Unterbringung oder eingreifende erlebnispädagogische Maßnahme) sind und nicht ein niederschwelliges Sanktionsrepertoire oder schnelle Notlösungen auf Kosten einzelner Jugendlichen durchgeführt werden. 

Eine solche kompetente Rechtsvertretung der betroffenen Jugendlichen könnte im familiengerichtlichen Verfahren überprüfen, ob tatsächlich von den Zuständigen alle möglichen, weniger einschneidenden Hilfeangebote ausgereizt wurden. Sie könnte die Überprüfung der Effizienz der Maßnahmen einfordern, ebenso wie sie endlich für diese Klienten fordern könnte, dass bei einschneidenden Hilfen wie geschlossene Unterbringung oder erlebnispädagogische Maßnahmen ethische Standards, wie sie in der Therapie gang und gäbe sind, eingehalten werden müssen, d.h., dass auf Risiken und Nebenwirkungen ebenso wie auf die intendierten Wirkungen mit einer gewissen Voraussagewahrscheinlichkeit hingewiesen werden muss. 

Nach Einschätzung des Verfassers dieser Studie ist die Forderung nach der Einführung eines unabhängigen Kinderanwalts, der primär die Interessen der Betroffenen vertritt - auch gegenüber den scheinbaren Garanten Elternhaus und Jugendamt - sowie die Konzepte der Fachleute auf die Probe stellt, vernünftig und sinnvoll. 

5.4 Der § 42 KJHG 

Geschlossene Unterbringung, so wie sie in Heimen der Jugendhilfe durchgeführt wird, wird nicht durch das KJHG geregelt. Einzig § 42 des KJHG regelt mit der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen den schwierigsten Fall der Unterbringung. 

Dieser Paragraf befindet sich im ersten Abschnitt des dritten Kapitels des KJHG, in dem die vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen beschrieben werden. 

Laut § 42 KJHG ist die Inobhutnahme die vorläufige Unterbringung junger Menschen 

  •    bei einer geeigneten Person oder

  •    in einer Einrichtung oder

  •    in einer sonstigen betreuten Wohnform.

Das Kind oder die Jugendliche darf eine Person seines/ihres Vertrauens benachrichtigen. Während der Inobhutnahme übt das Jugendamt das Recht der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus. Die Erziehungsberechtigten sind von der Inobhutnahme durch das Jugendamt zu benachrichtigen. 

Inobhutnahme erfolgt, „wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert“ (§ 42,3 KJHG): Somit handelt es sich bei diesem Paragrafen um eine Schutzregelung für die betreffende Klientel. 

Freiheitsentziehende Maßnahmen sind dabei ohne gerichtliche Entscheidung (gemäß § 1631 b BGB) nur bis zum Ablauf des Tages nach ihrem Beginn, also maximal 48 Stunden, zulässig. 

Liegt eine gerichtliche Entscheidung nicht vor, ist die Maßnahme zu beenden. 

Die Palette der geeigneten Angebote im Rahmen der Inobhutnahme durch Jugendschutzstellen ist weit, soweit es die Unterbringung betrifft, ist aber lediglich als eine kurzfristige, vorläufige (§ 42 Abs. 1 KJHG) Maßnahme zur Krisenintervention zulässig. Sie dient der Bewältigung einer aktuellen Krise oder Notlage und ist ausgerichtet auf die Bereitstellung und Ermöglichung weiterführender „offener“, „ambulanter“ Hilfen (Trenczek 1994). 

Freiheitsentziehende Maßnahmen sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib und Leben der Minderjährigen oder eines Dritten abzuwenden (§ 42,3 KJHG).Dies ist z.B. bei dem S-Bahn-Surfen (Selbstgefährdung) oder bei den sog. „Crash-Kids“ der Fall, die mit entwendeten Autos durch die Straßen jagen (Selbst- und Fremdgefährdung). Dabei ist die geschlossene Unterbringung als besondere Form der Inobhutnahme nur zulässig, soweit objektiv eine „dringende Gefahr“ besteht, d.h. es muss objektiv eine große Wahrscheinlichkeit bestehen, dass Leib und Leben des Minderjährigen (oder eines Dritten) gegenwärtig oder in allernächster Zeit nicht unerheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. 

§ 42 ist als Mittel der Krisenintervention konstruiert und bietet keine Rechtsgrundlage für die geschlossene Unterbringung über mehrere Wochen oder Monate. 

5.5 Die Paragrafen 71 und 72 JGG

5.5.1 Vorläufige Erziehungsanordnungen nach § 71 JGG 

Wird in Folge einer Straftat eine Haftstrafe erwartet, kann der Richter die vorläufige Erziehung des Jugendlichen bestimmen oder die Gewährung von Jugendhilfeleistungen anregen; d. h. der Richter ist imstande, bis zur Rechtskraft des Urteils vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen zu treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem achten Buch Sozialgesetzbuch anzuregen (Storr 1996). 

Um die Jugendliche vor einer Gefährdung ihrer Entwicklung und der Begehung neuer Straftaten zu schützen, kann der Jugendrichter die Einweisung in ein geeignetes Heim der Jugendhilfe bestimmen (§ 71 (2)). 

Die Richtlinien zum JGG zu § 71 besagen, dass der Richter regelmäßig die Jugendgerichtshilfe und – wenn notwendig - auch die Erziehungsberechtigte sowie die gesetzliche Vertreterin hören muss. Wenn die Anordnung keinen Aufschub duldet, kann hiervon abgesehen werden. In diesem Fall kann eine nachträgliche Anhörung angezeigt sein. Der Beschluss über die vorläufige Unterbringung ist zu begründen (§ 34 StPO.). Durch vorläufige Anordnung kann die Richterin den Jugendlichen in ein zur Aufnahme bereites Heim einweisen, in dem der Jugendliche zu geregelter Arbeit angehalten und seine Persönlichkeit erforscht wird. 

Den Unterbringungsbefehl nach § 71 Abs. 2 wird die Richterin durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich die Unterbringung des Beschuldigten im Erziehungsheim als ungenügend oder undurchführbar erweist. 

Der Richter hebt die vorläufige Anordnung auf, sobald sie entbehrlich wird oder das Verfahren rechtskräftig erledigt ist. 

Auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten kann eine vorläufige Anordnung über die Erziehung getroffen und die einstweilige Unterbringung in einem Erziehungsheim angeordnet werden (§ 104 Abs. 2).

Die Folgen des § 71 JGG können nur angeordnet werden, wenn es sich um einen jugendlichen Täter handelt, bei dem ein Verdacht auf eine Straftat besteht und damit ein Urteil zu erwarten ist und die Notwendigkeit besteht, die erzieherischen Ziele des Jugendstrafverfahrens in der Zeit bis zur Urteilsverkündung zu sichern (Diemer 1995; 627). 

Aufgabe der U-Haft ist die Sicherung des Strafverfahrens (Diemer 1995; 641) und die Wiederholungsverhinderung als letztes Mittel. Es dürfen mit ihr keine erzieherischen Zwecke verfolgt werden. Der Unterbringungsbefehl nach § 71 II JGG muss U-Haft ersetzen, wenn mit ihm die gleichen Ziele erreicht werden können (Subsidiaritäts-, Verhältnismäßigkeitsprinzip). 

Ziele der einstweiligen Unterbringung sind Abwendung von Entwicklungsgefährdung, Lösung aus schlechtem Gruppeneinfluss und in Verbindung mit den zwei Erstgenannten Abwendung der Wiederholungsgefahr und Erforschung der Persönlichkeit (Diemer 1995; 632). 

Brunner und Diemer sind sich einig, dass es sich bei der Unterbringung nach § 71 II JGG nicht um eine geschlossene Unterbringung handeln muss: „Grundsätzlich ist es nicht erforderlich, dass das Heim fluchtsicher ist...“ (Diemer 1995; 634). 

„Durch die neue Fassung des Abs. II stellt sich die Streitfrage nicht mehr, ob das Heim fluchtsicher sein muss“ (Brunner 1991; 553). 

Brunner lässt dem Heim jedoch die Möglichkeit offen, fluchtverhindernde Maßnahmen zu treffen: Eine intensive und pädagogische Betreuung in den Heimen der Jugendhilfe kann das Verfahren sichern helfen, zusätzliche bauliche Sicherungen das Risiko des Scheiterns mindern (Brunner 1991; 544).

Der Gesetzgeber hat die Auswahl nicht auf „Erziehungsheime“ im engeren Sinne beschränkt, sondern alle Heime der Jugendhilfe je nach den Besonderheiten des Einzelfalles als grundsätzlich geeignet angesehen: 

„Die Geeignetheit richtet sich nach dem Zweck des § 71, nämlich einer weiteren Gefährdung der Jugendlichen durch Begehung weiterer Straftaten entgegenzuwirken.“ (Diemer 1995; 633 ff.). 

Welches Heim im konkreten Fall geeignet ist, hat allein der Richter zu entscheiden. Das beauftragte Heim muss im Unterbringungsbeschluss genau bezeichnet sein.

5.5.2 Untersuchungshaft nach § 72 JGG 

§ 72 Abs. 4 JGG erklärt die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe unter den Voraussetzungen für zulässig, unter denen auch ein Haftbefehl erlassen werden könnte. Es handelt sich um ein Parlamentsgesetz, das die Entscheidung über die Freiheitsentziehung dem Richter überlässt, in seiner Rechtsfolge ausdrücklich eine Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe vorsieht und diese von einem geregelten Verfahren abhängig macht (Schlink/Schattenfroh 2001; 103). 

Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs.1 Satz 2 der Strafprozessordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges zu berücksichtigen. 

Solange der Jugendliche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er 

a) sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder 
b) im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz hat.

Über die Vollstreckung eines Haftbefehles und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen die zuständige Jugendrichterin. 

Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs.2) angeordnet werden (Storr 1996; 10). 

Wenn man bedenkt, dass durch U-Haft die Entwicklung des Jugendlichen nachhaltig negativ beeinträchtigt werden kann (Brunner 1991; 559), hat der Gesetzgeber zurecht neben der Einschränkung durch § 112 StPO die Alternative des § 72 IV JGG zur Verfügung gestellt. 

Der (Jugend-)Richter kann anstelle von U-Haft eine einstweilige Unterbringung anordnen. Während diese gem. § 71 II nur aus erzieherischen Gründen ergehen darf, kann sie gem. § 72 IV auch zur Sicherung des Strafverfahrens angeordnet werden. 

Dagegen muss die einstweilige Unterbringung angeordnet werden, wenn sie anstelle von U-Haft ausreichend ist. Ob in diesem Fall geschlossene Heimunterbringung angeordnet werden darf, scheint fraglich, da letztere in ihren Merkmalen als freiheitsentziehende Maßnahme der U-Haft eher ähnelt als einem offen geführtem Heim (Schade 1999; 23). 

Diese Ähnlichkeit wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass in der geschlossenen Heimunterbringung die erzieherischen Maßnahmen im Vordergrund stehen, U-Haft dagegen nur aus Gründen des Verfahrens angeordnet werden darf. Hier wird neben der erzieherischen Einflussnahme besonders auf die Sicherung des Jugendlichen abgezielt. 

Für Jugendliche, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird die Verhängung der U-Haft besonders geregelt. Sie darf bei ihnen nur dann verhängt werden, wenn sie fluchtgefährdet sind oder keinen festen Wohnsitz haben. Hier ist der vorsichtige Umgang des Gesetzgebers mit Verhängung von Untersuchungshaft zu erkennen, was als Hinweis auf den erwarteten schädlichen Einfluss gewertet werden kann.           

Ohne vorhandene geschlossene Unterbringungsmöglichkeit kann nur dem Erziehungsbedarf, nicht dem Sicherungsbedarf entsprochen werden. Entscheidet sich der Richter für die Sicherheit, kann er dem Erziehungsbedarf nicht gerecht werden. Es besteht dann immerhin die Möglichkeit, dass sich kriminelle Tendenzen des Jugendlichen in der Haftzeit verfestigen. 

Sollte sie jedoch auf Maßnahmen der Erziehung (offene Heimerziehung) zurückgreifen, kann sie die Verfahrenssicherheit nicht garantieren. Nebenbei wird bei einer Flucht des Jugendlichen natürlich auch die Erziehung in Frage gestellt. Wenn dieser Jugendliche jedoch einen besonderen Erziehungsbedarf aufweist, kann und darf diesem in der U-Haft nicht entsprochen werden. 

Fraglich bleibt nach Schade (1999; 23), wie die Sicherung eines fluchtwilligen Jugendlichen in einem offenen Heim der Jugendhilfe bewerkstelligt werden soll. In diesem Umstand sieht er eine zwingende Notwendigkeit, geschlossene Heimunterbringungsmöglichkeiten in erforderlichem Umfang bereitzustellen.           

Da jedoch geschlossene Heime nicht fluchtsicher sind und im Sinne der Jugendhilfe auch nicht sein wollen, muss das oben genannte Argument für eine gesicherte Heimunterbringung als fraglich gelten. 

Für die Vorschriften der §§ 71 und 72 muss das Heim der Jugendhilfe weder baulich gesichert noch fluchtsicher sein: Weder das JGG noch das KJHG fordern selbiges. 

Editorische Anmerkungen:

Wir spiegelten den Text auszugsweise von
http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/stadler-bernhard-2005-01-26/HTML/