Wo ist das Proletariat bloß abgeblieben!
Aspekte einer marxistischen Klassentheorie

Vortragsmanuskript von Karl-Heinz Schubert

04/11

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Vorbemerkungen 

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden in der BRD viele der so genannten Normalarbeitsverhältnisse rasiert, sondern auch die damit zusammenhängenden sozialstaatlichen Regulierungen ausgedünnt. An deren Stelle traten prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ‘zweite‘ und ‘dritte‘ Arbeitsmärkte. Hinzu gesellte sich eine seit Jahren gleich bleibende durchschnittliche Armutsquote von knapp 15 %. Schlussendlich entstand für die linke Bewegung bei der Organisierung ihrer Gegenwehr gegen diese sozialen Angriffe - insbesondere durch die Hartz IV-Reformen  - die Notwendigkeit, diese gravierenden sozialen Veränderungen zu untersuchen. Losungen und Begriffe wie „Wiederkehr der Proletarität“, „Umbau der Klassengesellschaft“, „Zweidrittelgesellschaft“, „Prekariat“ oder „Entstehen eines neuen Proletariats“ bestimmten seitdem den Diskurs. Eine Beschäftigung mit den heutigen Klassenstrukturen im Sinne der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie blieb dagegen eine Aufgabe am Rande.

Der heutige Abend soll dieser Tendenz ein wenig entgegen wirken. Ich werde versuchen, das  Proletariat  und seine Fraktionen aus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit abzuleiten. Die folgenden Thesen zur marxistischen Klassentheorie verstehen sich daher als ein Beitrag, der auf Methode und erkenntnistheoretische Zusammenhänge abstellt und sich weniger im Bereich von Empirie und Statistik aufhalten wird.
 

  • Kein Erschlagen mit Zitaten aus den blauen Bänden, stattdessen Darstellung der Sachverhalte in meiner Lesart des Marxschen Kapitals
  • Was ich nicht leisten werde bzw. leisten kann, werde ich versuchen, an den entsprechenden Stellen deutlich hervorzuheben.
  • Übrigens - beim Vortrag benutze ich - anders als im Schriftlichen - der sprachlichen Einfachheit halber die männliche Form (Lohnarbeiter)
  • Lohn  = Sammelbegriff für Arbeitsentgelte wie z.B. Gehalt/Lohn, Familienzuschläge, Gewinnanteile, Überstundenvergütungen, Wert der Sachbezüge, Provisionen, Mehrarbeitsvergütungen, Gefahrenzuschläge, Schmutzzulagen sowie Urlaubs- und Weihnachtsgelder, zusätzliche Monatsentgelte, Tantiemen, Gratifikationen.

1) Methodische Anmerkungen zur Klassenanalyse

Die Beschäftigtenstruktur der BRD (aktueller Stand, Zahlen gerundet)

Einwohner:                   80 Mio
Erwerbstätige:              40 Mio

weniger als 50.000        34 Mio                        17 Mio. Krankenvers. pflichtige Rentner (von ca. 20 Mio)
Euro brutto pro Jahr

Sozialversicherungspflichtig:                  28 Mio
            Leih- und Kurzarbeiter                            1 Mio

                        Prod. Gewerbe    8,50 Mio
                                    Dienstleistung   18,50 Mio
                                    Landwirtschaft     0,18 Mio

Mini-Jobber:                                                    5 Mio
           ALG 1                                                              2 Mio
           ALG 2 /Leistungsempfänger                               1 Mio / 5 Mio

                        Beamte                                                             2 Mio

Statistische Zahlen und damit zusammenhängende empirische Untersuchungen z.B.  über Einkommenshöhe, Bildungsgrad, Familienstand, Freizeitinteressen usw.  ergeben zwar ein plausibel erscheinendes Bild gesellschaftlicher Verhältnisse, doch die strukturierenden Zusammenhänge dieser Verhältnisse bleiben im Dunkeln. 

Will man dieses Dunkel lichten und geht man davon aus,  dass die untersuchten gesellschaftlichen Erscheinungen durch die kapitalistische Produktionsweise strukturiert sind,  so ist die Kenntnis der Entwicklungsgesetze dieser ökonomischen Basis eine unverzichtbare Voraussetzung. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie analysiert diese grundlegenden ökonomischen Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise und damit die Fundamente ihrer Klassenstruktur.

Allerdings ist die Tatsache zu bedenken,  dass die Ebenen und Bereiche des Politischen und Ideologischen gegenüber der ökonomischen Basis eine relative Eigenständigkeit entfalten und auf diese zurückwirken. Eine adäquate Untersuchung von ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau muss also reale Machtpositionen und die sozialen Auseinandersetzungen auf allen gesellschaftlichen  Ebenen sowie das Bewusstsein der Akteure mit einbeziehen. Folglich benötigt solch eine umfassende Untersuchung mehr als den  begrifflichen Werkzeugkasten der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Eine solche Basis/Überbau-Untersuchung nenne ich Klassenanalyse.

Trotz unterschiedlicher Konzepte bedeutet für Marxisten die Klassenanalyse

1)      niemals eine reine Strukturtheorie, sondern vor allem ein Instrument für ihre politische Praxis. Eine Praxis, die auf Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise zielt.

2)      Als Produkt für diese politische Praxis ist sie immer ein kollektives und diskursives Produkt (Kritik & Selbstkritik)

3)      Da Marxisten von der Bewegung in den sozialen Verhältnissen ausgehen, wird die Klassenanalyse immer auch entwicklungsgeschichtlich und prognostisch verstanden: Wie Entstehen soziale Widersprüche, wohin entwickeln sie sich? Wie können wir an welchen Stellen erfolgreich im Sinne von Beschleunigen oder Aufhalten eingreifen? Mit welchen Reaktionen ist zu rechnen?

4)      Und weil es in der kapitalistisch bestimmten Gesellschaft nicht nur zwei Hauptklassen gibt, nämlich die Eigentümer von Produktionsmitteln auf der einen Seite und die Verkäufer der Ware Arbeitskraft auf der anderen, verfolgt die Klassenanalyse immer auch den Zweck herauszuarbeiten, welche Nebenklassen und Schichten noch existieren, um auf der Grundlage solcher konkreten Erkenntnisse eine entsprechende Bündnispolitik zu entfalten.

Mein Referat bewegt sich bildlich gesprochen im theoretischen Vorhof solch einer Klassenanalyse.

1)  weil es nicht mit einer politisch-praktischen Intervention verknüpft ist;
2)
   weil meine Untersuchung kein kollektiv-diskursives Produkt ist.
3)
  weil ich nur eine ökonomische Bestimmung der Klassen vornehmen werde, wie sie sich aus der kapitalistischen Produktionsweise begrifflich ergibt;
4)
   weil ich mich dabei auf die Zusammensetzung der hiesigen Lohnarbeiterklasse beschränke. (weitere Anmerkungen dazu an der entsprechenden Stelle)
5)
  weil die Klasse der Kapitalisten, die Nebenklassen und Zwischenschichten nicht behandelt werden.

Zur politischen und gewerkschaftlichen Organisierung – zum so genannten subjektiven Faktor – werde ich mich auch nicht äußern. Daher auch nicht zu den Mystifikationen, wie sie von der kapitalistischen Produktionsweise erzeugt werden (Lohnfetisch, Geldfetisch) und zu dem Problem der Entfremdung. 

2) Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie ist keine sondern auch eine Klassentheorie 

In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft scheint es so zu sein, als wären Kapital, Boden und Arbeit die Quellen des Einkommens bzw. des gesellschaftlichen Reichtums. Damit wird der Eindruck vermittelt als bestimmten diese drei Revenues die Sozialstruktur der kapitalistischen Gesellschaft.

Tatsächlich wird aber der materielle Reichtum in jeder Gesellschaft allein durch menschliche Arbeit erzeugt und entsteht nicht durch eine formelle Eigentümerschaft an einer Einkommensquelle.  

Im Kapitalismus sind es die Lohnarbeiter, die dem Kapitalisten ihre Arbeitskraft verkaufen, der im Gegenzug den von Lohnarbeitern geschaffenen Wert und Mehrwert erhält. Der realisierte Wert in Gestalt der Produkte und Dienstleistungen ersetzt das investierte Kapital – also auch die vorgeschossenen Löhne. Der realisierte Mehrwert steht allein dem Kapitalisten zu, der ihn bei Strafe des Untergangs verzehren kann, oder teilen und wieder investieren muss.  

Die historische Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise bestand zum einen in der ökonomischen Trennung der Arbeiter von ihren sachlichen Produktionsbedingungen und zum andern durch ihre politische Befreiung von diesen Produktionsbedingungen. Ihre Freisetzung erfolgte im Zusammenhang mit der zunehmenden Verallgemeinerung der Warenform, sowohl  für die Arbeitsprodukte als auch für die Arbeitskraft selbst. 

Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie zielte nun darauf ab, zunächst die ökonomische Kernstruktur – nämlich die Wert- und Mehrwertproduktion - zu analysieren, um dann zu untersuchen, in welchen verschiedenen Formen und Stadien die Verwertung des Werts erfolgt und sich dieser Prozess in der Oberfläche der Gesellschaft abbildet und abläuft.  

Doch so wie in der Oberfläche der Mehrwert ausgelöscht ist und uns nun als Profit, Zins oder Rente entgegentritt, so scheint das ursprünglich ökonomisch eindeutig bestimmbare Klassenverhältnis der ökonomischen Kernstruktur  – hier produktive Lohnarbeiter und dort Kapitalisten - in einer unüberschaubaren Sozialstruktur verschwunden.  

1847 – 20 Jahre vor dem Erscheinen des Marxschen Kapitals - antwortete Friedrich Engels auf die Frage „Was ist das Proletariat“:

„Das Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht.“ ( MEW 4, S.363)

Diese Definition hat Marx durch seine ökonomischen Studien vertieft und präzisiert, indem er über Engels Bestimmung der sozialen Lage Arbeiters durch sein Verhältnis zum Produktionsprozess hinausging und seine Stellung  im Produktionsprozess untersuchte. Als Marx in der Lage war, die ökonomischen Prozesse und Formen an der Oberfläche auf ihre die Kernstruktur zurückzuführen, musste er sich logischerweise der Stellung der Klassen in der gesellschaftlichen Totalität zuwenden.

Bekanntlich bricht genau an dieser Stelle im 3. Band des Kapitals die Behandlung der Klassenfrage ab. Insofern hat uns Marx keine Klassentheorie hinterlassen. Jedoch sind in seiner Kritik der Politischen Ökonomie meiner Meinung nach alle wesentlichen Instrumente für eine Analyse einer Klassenstruktur enthalten.

Fassen wir zusammen:

Obwohl es plausibel erscheint, lässt sich nicht aus formellen Eigenschaften (z.B. Besitz einer Eigentumswohnung oder jemand erhält Hartz VI) ableiten, wer zu welcher Klasse gehört.

Gesellschaftliche Klassen werden durch ihre Stellung in und zum Produktionsprozess bestimmt. Mit dem Produktionsprozess ist nicht nur der einzelne Betrieb gemeint, sondern immer die kapitalistische Produktionsweise als sich bewegendes Ganzes.

 Im Hinblick auf ihre Stellung im Produktionsprozess handelt es sich um eine ökonomische Bestimmung (schafft Wert und Mehrwert, verfügt über den Wert, hat das Kommando über die Arbeit usw.)

Im Hinblick auf ihre Stellung zum Produktionsprozess handelt es sich um eine soziologische Bestimmung (Aktienbesitzer und damit Eigentümer von Kapital, Lohnarbeiter in der Zirkulation, Einkommen aus Bodenrente, Lebensperspektive Lohnarbeit), die ökonomisch abgeleitet ist. Sie werden von Marx als „Charaktermasken“ der ökonomischen Verhältnisse bezeichnet.  

Durch diese doppelte Bestimmung (ökonomisch & soziologisch-ökonomisch) werden sie in den gesellschaftlichen  Klassenzusammenhang, in die gesellschaftliche Totalität, eingeordnet. 

Eine „polit-ökonomische“ Behandlung der Klassenfrage, die eindimensional nur die Stellung im Produktionsprozess als einziges Merkmal  verwendet, produziert nur  Missverständnisse und Diskussionen,  die in der Behauptung gipfeln könnte, nur wer in der Fabrik für Lohn überwiegend Handarbeit verrichtet, gehört zur proletarischen Klasse. 

3) Die Stellung im und zum Produktionsprozess  - eine Skizze 

Grundsätzlich ist jede menschliche Arbeit produktiv, die nützliche Dinge produziert. Unter kapitalistischen Bedingungen erscheint nun nur noch die Arbeit produktiv, die in der Form der Lohnarbeit Mehrwert für das Kapital produziert.  Dagegen gilt Arbeit,  die von Arbeitern mit eigenen Produktionsmitteln geleistet wird,  also z.B.  bäuerliche oder handwerkliche Warenproduktion, für das Kapital als nicht produktiv. 

Das Kapital ist daher bestrebt, möglichst viele Produktionszweige zu erobern und die Arbeit,  die dort geleistet wird,  in produktive Lohnarbeit für das Kapital umzuwandeln. 

Die historische Entwicklung des Kapitalverhältnisses zeigt, dass sich nahezu alle Arbeitsverhältnisse der Form nach zu Lohnarbeitsverhältnissen entwickelt haben. Nicht nur in den Metropolen sondern auch weltweit. Hinter dieser formalen Gleichheit verschwinden die unterschiedlichen Beziehungen der Lohnarbeit zum Kapital. Ob der Lohn für Tätigkeiten in der Zirkulation, beim Staat oder in der unmittelbaren Mehrwertproduktion erfolgt, lässt die Klasse scheinbar zu einer empirisch nicht mehr bestimmbaren Größe werden. 

Für eine Herangehensweise im Marxschen Sinne der Kritik der politischen Ökonomie ist es daher unabdingbar zu versuchen, diese unterschiedlichen Beziehungen der Lohnarbeiter zum Kapital wieder aufzudröseln. 

Die folgende Aufzählung der Fraktionen der Lohnarbeiterklasse ist kein wertendes Ranking im Sinne von oben und unten, von im Zentrum oder am Rande, sondern der Versuch den Gegenstand vorläufig zu gliedern.  

a) Produktive Lohnarbeiter 

Zur proletarischen Klasse gehören als allererstes die Lohnarbeiter, die Wert und Mehrwert produzieren, womit sie permanent als produktive Rekonstrukteure der Kapitalakkumulation fungieren. Und  sie unterscheiden sich zu allen anderen Lohnarbeitern vor allem dadurch, dass sie unmittelbar den Fonds erzeugen, der zu ihrer eigenen Reproduktion und der aller anderen dient. 

Auf die innere Gliederung der Klassenfraktion der "für das Kapital produktiven" Lohnarbeiter wird hier verzichtet, weil diese Frage erst im Kontext politischer und betrieblicher Interventionen bedeutsam wird. 

b) Notwendige aber unproduktive Lohnarbeiter bzw. indirekt Produktive 

Zur Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation auf der Ebene der Wert/Mehrwert-Produktion gehören aber auch die Lohnarbeiter, die durch ihre Tätigkeit ermöglichen, dass die produktive Konsumtion – die kapitalistische Verwertung von Wert/Mehrwert funktioniert (Lagerhaltung, Werbung). Vom Kapitalstandpunkt aus sind sie unproduktiv aber notwendig. Ihre Entlohnung ist  aus der Sicht des Kapitals ein Teil des Produktionspreises bei der Formverwandlung von vorgeschossenem Kapital in Waren. Diese Art der Lohnarbeit schafft keinen Wert und  Mehrwert, sondern verbraucht ihn beim nächsten Kapitalumschlag.  

c) Zirkulationsarbeiter und Transport- und Kommunikationsarbeiter 

Für die Realisierung von Wert und Mehrwert ist die Zirkulationssphäre integraler Bestandteil. Ohne die dort tätigen Lohnarbeiter, wäre der Kreislauf des Kapitals unmöglich. 

In der Zirkulationssphäre fungieren häufig selbständige Kapitale. Es handelt sich hier a)  um rein kommerzielles Kapital (Lagerhaltung, Bevorratung) oder b) um kommerzielles Kapital mit Transportfunktionen und damit zusammenhängenden Kommunikationsaufgaben. Während im ersten Fall den Waren kein Wert zugesetzt wird, erfolgt im Fall b) eine Wertschöpfung durch Transport- und Kommunikationsarbeit. Die Lohnarbeiter im Fall a) sind notwendige aber nicht produktive, im Fall b) produktive Lohnarbeiter. 

d) Lohnarbeiter beim Finanzkapital (Banken und Versicherungen), sowie bei Grundeigentümern

Banken, Versicherungen und Grundbesitzer verbindet ökonomisch, dass ihr Gewinn davon abhängt, in wieweit es ihnen gelingt, einen möglichst großen Anteil vom Profit bzw. vom Lohn in Gestalt von Zins, Prämie und Miete zu bekommen. Folglich sind alle dort direkt Beschäftigten unproduktive Handlungsgehilfen.  

Dies gilt für das Grundeigentum nicht, wenn der Boden landwirtschaftlich-kapitalistisch genutzt wird (6,5 % der Agrar-Betriebe mit 186 800 ständig Beschäftigten und 335 500 Saisonarbeitern) 

e) Staatliche Lohnarbeiter 

Aufgrund der konkreten historischen Entwicklung hat sich der Staat in der BRD - und nicht nur dort – sowohl mit Gewalt-, Unterdrückungs- und Zurichtungsfunktionen ausgestattet als auch darüber hinaus ganze Branchen dem unmittelbaren Kapitalverhältnis entzogen.

Das heißt wir haben
 

  • auf der einen Seite  die Beschäftigten in den Bereichen Polizei/Militär, Justiz, Finanzen  und Schule/Hochschule. Sodann das politische Personal in Parlament und Regierung. Die dort Beschäftigten sind in aller Regel Beamte, die dem ideellen Gesamtkapitalisten (dem Staat) als Aufseher, Zurichter und Befehlsvollstrecker dienen.
  • Auf der anderen Seite gibt es die produktiven Arbeiter in den Bereichen Transport, Kommunikation, Energieversorgung usw. Sie sind der Form nach manchmal auch Beamte. In ihrer ökonomischen Funktion sind sie jedoch produktive Arbeiter für das Staatskapital.
  • Zwischen diesen Polen gibt es ein Heer von Beschäftigten, das unter dem Schlagwort "Sozialstaatsfunktionen" (Erziehung, Fürsorge, Beratung, Betreuung und Versorgung) gefasst ist. Die klassenmäßige Zuordnung ihrer Tätigkeiten ist  eigentlich nur konkret zu bestimmen.

Durch die seit gut 20 Jahren laufenden Privatisierungen im Bereich der „Sozialstaatsfunktionen“, d.h. durch Rückführung ins direkte Kapitalverhältnis,  werden in all diesen Bereichen zwar keine Arbeitsplätze wohl aber Lohnarbeitsverhältnisse neu geschaffen. 

Erst eine genauere Untersuchung würde klären, ob die Lohnarbeiter in diesen Bereichen den Fonds ihrer eigenen Reproduktion – also Wert und Mehrwert - erarbeiten, also produktiv im Sinne des Kapitals arbeiten oder ob sie ein abgeleitetes (Lohn-)Einkommen aus den drei Grundfonds (Profit, (Grund)-Rente, Lohn) erhalten. 

Umgangssprachlich wird dieser Beschäftigungssektor als Dienstleistungssektor oder Teil davon  bezeichnet. Wenden wir uns also den dortigen Lohnarbeitern zu. 

f) „Dienstleistende“ Lohnarbeiter 

Zunächst erstmal: Dienstleistung ist ein beschreibender Begriff und kein analytischer. Er hilft uns daher klassentheoretisch nicht weiter. Deshalb schauen wir uns die ökonomisch bedingten Veränderungen in diesem Bereich der gesellschaftlichen Arbeit an.  

f1) Aus- und Neugründungen im produktiven Bereich


Stark vereinfacht passiert dort folgendes:  Die organische Zusammensetzung des Kapitals  (Verhältnis von variablen Kapital und konstantem Kapital) erscheint ungünstig - durch den Kapitalisten als zu hoher Produktionspreis erkannt. Die üblichen Antworten lauten z.B.:    

a) Verlängerung des Arbeitstages bei gleichem Lohn

b) Leistungsverdichtung bei gleichem Lohn

c) Verkürzung der Kapitalumschlagszeit (Just in time Produktion).

 Unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit und einem kampfschwachen Proletariat gibt es noch andere Möglichkeiten, die Kostenstruktur dadurch zu verändern, indem eine billigere Belegschaft installiert wird, d.h. bestimmte Segmente des Arbeits- und Verwertungsprozesses werden durch Leiharbeiter verrichtet.

 Oder die Neuzusammensetzung des organischen Kapitals wird außerhalb des Rahmens der bestehenden Eigentumsverhältnisse vollzogen, nämlich mithilfe von "Fremdfirmen", an deren Kapitalstruktur man beteiligt ist.  Auf diesem Wege entstehen neue Firmen mit geringerer Kapitalausstattung und damit günstigerer Profitrate.  Die dort verrichtete Lohnarbeit entstammt häufig aus Fertigungsnahen Bereichen der Stammfirma oder es handelt sich sogar um die Fertigung selber, jedoch mit neuer Belegschaft und anderen Lohnstrukturen.

Als Varianten davon gibt es aber auch Firmen, gebildet von ehemaligen Lohnarbeitern, die nun "Eigentümer" sind. Diese wären formell dem Kleinbürgertum zuzurechnen. Tatsächlich beuten sie sich aber selber aus, indem sie das geborgte Kapital (meistens Bankkredite) tilgen und so den Geldkapitalisten eine Akkumulation in der Nähe der Durchschnittsprofitrate ermöglichen.

Dieser Sachverhalt wird noch durch die Interventionen des Staates in diesem Bereich verdunkelt; sei es durch direkte Beteiligung an den Löhnen und Gehältern, sei es durch finanzielle Beteiligung auf Seiten der Kapitalausstattung.

 Nachtrag:  Kapitalstrukturen durch Kapitalexport verwertungsgünstiger zu organisieren, ist im Prinzip eine Erscheinung des Imperialismus und wird durch Konzerne, Monopole und Banken seit über 100 Jahren praktiziert. Dabei ging es ebenso wie heute im nationalen Rahmen um billige Belegschaften und hohe Profite. Im Übrigen ist spätestens dies die Stelle, wo eine Klassenanalyse auf die internationalen Zusammenhänge einzugehen hätte. (Aber schon vorher bei den anderen Klassenfraktionen, nur hier wird der Zusammenhang deutlicher) 

f2)  Aus- und Neugründungen in anderen Bereichen 

In Bereichen, wo es um die Produktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft geht, verstärkt sich die Tendenz, zunehmend Lohnarbeitsverhältnisse zu installieren, weil nun dort auch die geleistete Lohnarbeit produktiv verwerten werden kann.  Allerdings sind  sowohl durch staatliche Beihilfen wie auch durch vorgegebene Kostenrahmen die Verwertungs- und Gewinnstrukturen  im Bereich Gesundheit, Sozial- und Altenwesen sowie Bildung recht undurchsichtig.  

Bisher dominierten in diesem Segment die klassischen Selbsthilfeorganisationen, wie sie von der Arbeiterbewegung oder von den Religionsgemeinschaften hervorgebracht wurden. Sie nahmen begünstigt durch einen "gemeinnützigen" Firmenmantel und entsprechende Seilschaften am Marktgeschehen teil. 

Seit der Agenda 2010 sind angeschoben von Arbeitsagentur und Jobcenter zahllose kapitalistische Minifirmen bei hoher Fluktuation entstanden, in denen Selbstausbeutung oder Lohnarbeit verrichtet wird. (Existenzgründungen für 2009 auf 410.000, Marktaustritte: 397.000 davon Insolvenzen: 34.000, Quelle: ifm-bonn.org)  

4)  Klassenfraktionsübergreifende Aspekte 

a)  Aus dem Arbeits- und Verwertungsprozess ausgeschlossene Arbeiter 

Vom Standpunkt des Arbeits- und Wertschöpfungsprozesses handelt es sich bei diesen Kollegen nicht um Teile der proletarischen Klasse, weil sie dem Kapitalverhältnis weder real noch formell unterworfen sind. Vom Standpunkt der gesamtgesellschaftlichen Organisation der Arbeit, sind sie selbstverständlich Teil der Klasse, denn ihre objektive Lage wird durch die lebensgeschichtliche Perspektive des Arbeitskraftverkaufs gegen Lohn konstituiert.  

Durch die Agenda 2010 wurde das Heer vom der Arbeits- und Verwertungsprozess ausgeschlossenen Arbeiter formal neu zerlegt in Bezieher von ALG 1 und ALG 2. 

Das Arbeitslosengeld 1 ist eine Zahlung aus der Arbeitslosenversicherung, also dem Teil des Lohnes, der dem Lohnarbeiter zwangsweise zur Verwaltung durch den Staat vorenthalten wurde.  

Scheinbar im Gegensatz steht dazu das Arbeitslosengeld 2 (Hartz 4, Basisgeld), welches aus dem Steueraufkommen bestritten wird.  Tatsache ist aber, dass es sich hier nur um eine Umverteilung im Lohnfonds der proletarischen Klasse mithilfe der Steuerpolitik handelt. Zum einen, weil das meiste Steueraufkommen ohnehin von Lohnarbeitern kommt, zum andern, weil ALG2 aus den Steuermitteln der Kommunalhaushalte bestritten zu infrastrukturellen Einsparungen führt, die die proletarische Klasse am härtesten treffen. 

1. Sonderfall ÖBS bzw. der so genannte 2. Arbeitsmarkt 

Finanziert aus so genannten öffentlichen Fördertöpfen (Mittel für die Arbeitsmarktförderung) haben sich Firmen etabliert, die den kommunalen Einrichtungen langzeitarbeitslose Arbeitskräfte zuführen, die dort Aufgaben zu Niedriglöhnen (7,50 Euro in Berlin, 8000 Arbeitsplätze) übernehmen, die zuvor von wegrationalisierten Kollegen, die wesentlich höher bezahlt werden mussten, verrichtet werden. 

Die Rechtsform dieser Maßnahmeträger sind entweder gemeinnützige GmbH oder gemeinnütziger Verein. Die darin fest beschäftigten Lohnarbeiter sichern sich ihren Arbeitsplatz, indem sie permanent Arbeitslose auf Zeit in ÖBS-Projekten unterbringen. Diese werden ihnen von den Jobcentern zu geführt. 

Die bereitgestellten Fördermittel werden wie Kapital verwendet. D.h. die ÖBS-Kollegen auf Zeit fungieren für den Maßnahmeträger wie Wert/Mehrwert schaffende produktive Lohnarbeiter – ganz gleich welche Arbeiten sie konkret vor Ort verrichten. Die beim Maßnahmeträger fest Beschäftigten erfüllen ihrerseits die charakteristischen Überwachungs- und Kontrollfunktionen von Kapitalisten. 

2. Sonderfall „Bürgerarbeit“  

Es handelt sich hier ökonomisch / strukturell um ein ähnliches  Modell wie beim ÖBS. Nur dass die Bürgerarbeit verrichtenden Kollegen noch geringer bezahlt werden und dass sie zwar sozialversichert nicht  aber arbeitslosenversichert sind.  Kurz: 30-Stunden-Woche zum Preis von Hartz IV und das als Zwangsarbeit. Bürgerarbeit ist ein am 1.1.2011 begonnenes Beschäftigungsmodell.  

3. Sonderfall „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ (MAE) bzw. der so genannte Ein-Euro-Jobber 

Die MAElerInnen bilden mit ca. 10 Prozent einen relevanten Teil der Reservearmee für die Kommunen und Verbände. Die Vermittlung erfolgt über das Jobcenter und  entsprechende Maßnahmeträger.   

MAE ist eine Maßnahme aus dem Spektrum der früheren Sozialhilfe, d.h. eine Zwangsmaßnahme, die schon immer dazu diente, die Arbeitsdisziplin und sonstige Sekundärtugenden bei so genannten Langzeitarbeitslosen zu erhalten oder herzustellen. Historisch hat der Arbeitszwang seine Quelle in der Phase der ursprünglichen Akkumulation am Ausgang des  Mittelalters, als es darum ging, Lohnarbeiter für einen noch nicht vorhandenen  bzw. im Entstehen befindlichen Arbeitsmarkt zu formen.  Die damals üblichen Nutznießer sind es heute noch: Staat und Kirche, wo die Mehrheit der heutigen Zwangsarbeiter Dienste verrichtet. Neben dem praktischen Nutzen besteht der ökonomischer Nutzen darin besteht, die Unterhaltungskosten kommunaler oder kirchlicher Einrichtungen zu senken.  

Für Recherchen in Berlin empfehle ich ausdrücklich: Akteure des Sozialmarkts in Berlin 

4. Sonderfall „Aufstocker“ 

Im Juni 2009 bekamen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 425.000  Vollzeitbeschäftigte ergänzende Hartz-IV-Leistungen, d.h. diese Kollegen wären vom  Arbeits- und Verwertungsprozess ausgeschlossen, wenn sie ihre Ware Arbeitskraft nach den dafür notwendigen Reproduktionskosten verkaufen wollten. Der ideelle Gesamtkapitalist „Staat“ sichert somit den Einzelkapitalisten eine maximale Ausbeutungsrate. 

b)  Zur Klassenlage „hausarbeitender“ Frauen 

Der Kapitalismus hat die patriarchalischen Strukturen bereits vorgefunden und wie alle sozialen Verhältnisse seinen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen.  66 % aller Frauen unter 65 sind erwerbstätig. Davon arbeiten 46 %  Teilzeit.  2/3 aller Minijobs werden von Frauen verrichtet,  1,1 Millionen befinden sich in Scheinselbständigkeit. 

Bezogen auf die Struktur der proletarischen Klasse bilden die Frauen, deren Biografie nicht durch den Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft bestimmt war bzw. ist, eine soziale Gruppierung, deren Klassenzugehörigkeit scheinbar indifferent erscheint. Tatsächlich werden aber ihre „häuslichen Leistungen“ (Leistungen zur Reproduktion  Ware Arbeitskraft der anderen Familienangehörigen) aus dem Lohn des lohnarbeitenden Ehegatten bestritten. Erkennbar daran, dass die Lohnhöhe des Mannes größer ist, wenn formal eine Eheschließung vorliegt. 

Schließlich zeigt sich, wenn die Eheleute getrennt leben und der Ehegattenunterhalt mit 3/7 am männlichen (Netto-)Lohn festlegt wird, dass in der "Hausfrauentätigkeit" ein informelles Lohnarbeitsverhältnis enthalten war, was die Rechtsprechung nun sichtbar macht. Wird die Ehe geschieden, wird das informelle Lohnarbeitsverhältnis in ein formelles überführt. Das zeigt sich daran, dass die Frau unausweichlich ihre Arbeitskraft als Ware am Arbeitsmarkt anzubieten und zu verkaufen hat. 

c) Zur Klassenlage von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden


Die Klassenlage von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden ist grundsätzlich bestimmt durch die Reproduktionsbedingungen der Lebensgemeinschaft zu der sie durch Abstammung und/oder sozial gehören. Mit der Loslösung aus dieser verändert sich nur in Ausnahmefällen die Zugehörigkeit zur (proletarischen) Klasse. In der Regel bleibt für Kinder aus proletarischen Verhältnissen nur die Perspektive Lohnarbeit. Zunächst als AzuBi und später in einen der oben beschriebenen Lohnarbeitsverhältnisse. Oder als Student, welcher sich mittels prekärer Lohnarbeitsverhältnisse reproduzieren muss.  

d) Zur Klassenlage von „Alten“

Das altersbedingte Ausscheiden aus der Arbeit oder die Zerstörung des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft durch und im kapitalistischen Arbeitsprozess – die so genannte Erwerbsunfähigkeit - verändern in keiner Weise die Zugehörigkeit zur Klasse. Was sich dagegen gravierend verändert, ist die Höhe der für die Reproduktion der Lebensverhältnisse zur Verfügung stehenden Geldsumme. Gemeinhin bildet sich für Proletarier diese Geldsumme aus den in die Sozialversicherung eingezahlten Beiträgen, die zwangsweise dem ausgezahlten Lohn vorenthalten wurden. Da der Preis der Ware Arbeitskraft bestimmt wird durch die zur ihrer Reproduktion notwendigen Kosten, heißt das nun, dass durch die Regulation des ideellen Gesamtkapitalisten (Staat) der Preis erheblich unter ihren ursprünglichen Preises gedrückt wird.

In anderen kapitalistischen Staaten gibt es diese „Sozialversicherung“ nicht. Das Prinzip ist jedoch das gleiche. Um sich für „später“ abzusichern, sind die Proletarier grundsätzlich gezwungen von ihrem Lohn „Geld für später“ beiseite zu legen. 

e) Zum Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit


Eines der zentralen Probleme im Rahmen klassentheroretischer Überlegungen habe ich mir extra für den Schluss aufgehoben.

Bis zur Einführung der EDV und numerischer Rechenmaschinen als neue Produktivkräfte  im kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess war die strikte Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit das herausragende Merkmal in der Organisation eines kapitalistischen Betriebes.

Formal zeigte sie sich diese Trennung im Arbeitsvertrag: hier Arbeiterlohn, dort Angestelltengehalt. Die Klassengrenze verlief aber nicht entlang dieser Formalie, sondern entlang der Funktionen.

Im Sinne des „Kommandos über die Arbeit“ wurden nämlich von Angestellten Funktionen des Kapitalisten übernommen, die durch dessen Rückzug aus dem produktiven Sektor unabdingbar blieben.

Funktionen, die z.B. darauf abzielten,

·        Einstellungen und Entlassungen vorzunehmen (Personalabteilung);

·        Ordnung und Disziplin zur gewährleisten (Werkschutz);

·        Arbeitstakt, Pausen und Ruhezeiten sowie die Lohnhöhe zu bestimmen (Refa- und Lohnabteilung).

Ein anderer Teil der Angestellten gehörte zur so genannten technischen Intelligenz, d.h. zu dem Teil der Belegschaft, der unmittelbar mit der Wert- und Mehrwertproduktion verbunden ist.

Spätestens mit der Einführung der EDV als Steuerungs- und Arbeitsmittel in den Produktionsprozess von Waren und Dienstleistungen erodierte die bisher übliche Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Nur zwei Beispiele:

1996 wurde die strikte Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten in der gesetzlichen Krankenversicherung aufgehoben.

2003 wurde die Trennung zwischen  Arbeitern und Angestellten in der Metallindustrie durch Einführung des Tarifvertrags über das Entgelt-Rahmenabkommen (ERA-TV) auf der Ebene der Entlohnung aufgehoben. Die Höhe der Bezahlung richtet sich nun nach der materiellen Ausstattung des Arbeitsplatzes. 

5)  Ausblick: Warum sich überhaupt mit Klassentheorie beschäftigen?

       1. These: Nur eine kämpfende Klasse ist eine Klasse

„Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine  gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ (MEW 4, S. 180f , Das Elend der Philosophie, 1847) 

Nach dem 2. Weltkrieg verbreitete sich die Ansicht im politischen Westen, dass die proletarische Klasse als politisches Subjekt nicht mehr existent sei. Der theoretische Ausgangspunkt dafür lag bei der kritischen Theorie, die den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital in einen Gegensatz zwischen Individuum und Staat umgedeutet hatte. Plausibilität erhielt diese Vorstellung durch die 68er Bewegung und ihre Kämpfe um individuelle Emanzipation gerichtet gegen staatliche Institutionen und ideologische Apparate. Zum einen, weil sich durch die Revolte tatsächlich sichtbare Veränderungen im politischen und kulturellen Raum vollzogen, ohne jedoch die kapitalistische Produktionsweise aufzuheben. Zum andern weil in diesen Kämpfen die Lohnarbeiter nicht selbständig in Erscheinung traten.  

Während die 68er Bewegung an ihrem Zenit war, brachen 1969 in norditalienischen Fabriken wilde Streiks aus, die anders als die zeitgleichen Septemberstreiks in der BRD sich durch Militanz, Besetzungen und Bildung revolutionärer Kerne auszeichneten. In den 70er Jahren folgte dann eine Welle von Fabrikkämpfen in den meisten westlichen Metropolen – auch in der BRD. Obwohl diese Kämpfe über den Rahmen von reinen Wirtschaftskämpfen hinausgingen und das kapitalistische Kommando über die Lohnarbeit angriffen,  transformierten sich diese Kämpfe nicht in eine selbständige politische Bewegung zur Aufhebung des Kapitalismus.  

In den 80er Jahren begann in den kapitalistischen Großbetrieben ein kontinuierlicher Umbau der Fertigungs- und Marketingprozesse  - Stichwort EDV / neue Technologien, der bis heute mittlerweile alle Branchen und Betriebsgrößen erfasste und die Klassenstrukturen durchmischte und neu zusammensetzte. Dieser Prozess verlief  natürlich nicht ohne soziale Kämpfe, die ihrer Qualität nach aber reine Abwehrkämpfe blieben – dezentral und betriebsborniert. Als kämpfende Klasse - als Klasse für sich - trat das Proletariat in der BRD  dabei nicht in Erscheinung.  

Nachtrag: Ab 1989 implodierten die so genannten sozialistischen Staaten, ohne dass ihre proletarischen Insassen daran einen maßgeblichen Anteil hatten.  Der dann einsetzende Prozess der Transformation des Staatskapitalismus in einen Marktkapitalismus führte nicht zu einer politischen Klassenkonstituierung. 

2. These: Klassentheorie für Bündnisfragen im „Hier und Jetzt“ unverzichtbar 

Fehlinterpretationen der Marxsche Kritik der politischen Ökonomie basieren oft darauf, dass seine Werke als konkrete Sozialstrukturanalyse und nicht als systematische Untersuchung der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem „idealen Durchschnitt“ – also unter Absehung variabler konkreter Umstände - gelesen werden. Dadurch sind zwar alle Klassen, -fraktionen, Zwischenschichten und damit auch das Proletariat durch die ökonomischen Verhältnisse grundsätzlich zu definieren, aber diese Definitionen bleiben ohne Folgen, wenn sich die Menschen kein Bewusstsein über ihre Klassenlage und Klassenstellung durch eine kollektive politische Praxis selber verschaffen. 

In ihren sozialen und politischen Kämpfen sind kämpfende Lohnarbeiter immer gezwungen, mit anderen Fraktionen ihrer Klasse Bündnisse einzugehen, Kompromisse zu schließen, Niederlagen und Erfolge auszuwerten. Dabei ist es wichtig, den Gegenstand bzw. das Problem der Auseinandersetzung in seiner Bewegung zu begreifen. Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie ist dafür ein geeignetes Analyseinstrument, nicht nur 

a) weil die gegnerische Position, sondern

b) die eigenen Interessen auf ihre materiellen Wurzeln zurückzuführen sind  und

c) weil dadurch das Bewusstsein von der Existenz der eigenen Klasse nicht nur sinnlich sondern auch theoretisch erfahrbar wird.

 Doch die Klassenkämpfe finden nicht im Betrieb oder im Stadtteil als nur  rein ökonomische statt, sondern auch als  politische und ideologische. Am Beispiel der Millionenmassen überflüssig gemachter Lohnarbeiter zeigt sich mit aller Deutlichkeit, dass es für die Chance eines Erfolgs unabdingbar ist, dass die noch in gesicherten Lohnarbeitsverhältnissen Tätigen die „Prekären“ als Teil ihrer Klasse ansehen – und umgekehrt. 

3. These: Durch Klassenanalyse zu den Prinzipien einer nichtkapitalistischen Produktionsweise

Die klassenanalytische Einschätzung der politischen Praxis hat nicht nur eine Bedeutung im „Hier und Jetzt“, sie hat auch einen  strategischen Wert. Wenn wir eine Gesellschaft wollen, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung mehr gibt, dann müssen wir zumindest in Umrissen wissen, wie mit dem gesellschaftlichen Mehrprodukt zukünftig umgegangen werden soll. Wir müssen wissen, wer es erzeugt, was erzeugt werden soll und nach welchen Prinzipien verteilt wird.

Die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise ist kein einmaliger Akt ist, sondern ein Prozess. Um diesen Prozess zu steuern, muss die proletarische Klasse wissen, nach welchen Grundsätzen und mit welchen Zielen in welchen Zeiträumen alte Strukturen zerschlagen, oder modifiziert oder in neuer Qualität bewahrt werden müssen.

Wenn in den heutigen Klassenkämpfen Untersuchungen geführt werden, welche Fraktionen der Klasse sich entlang welcher Konflikte organisieren und kämpfen, dann sind diese Analysen, die mithilfe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie erarbeitet werden, gleichsam die inhaltliche Vorbereitung – das Programm - für die nichtkapitalistische Gesellschaft.

Verwendete Literatur und Quellen

Bischoff, Joachim, Die Klassenstruktur der BRD, Hamburg 1980
Bundesministerium des Innern, Der öffentliche Dienst 2006
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gendereport, 2005
Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2011
Gatermann, Harald, Vorsicht, Bürgerarbeit!
Heinrich, Michael, Klassen, Klassenkampf und Geschichtsdeterminismus, zusätzliches Unterkapitel, in: Kritik der politischen Ökonomie“ Stuttgart 2004
Horvath, Stefan, Klasse und Kapital bei Marx und Bourdieu
Kassenärztliche Bundesvereinigung, Mitgliederentwicklung 2009
Lieberam, Ekkehard, Arbeiterklasse/arbeitende Klasse in Deutschland
Marx-Engels Werke Band 4,  und vor allem Bd. 23, Bd. 24, Bd. 25, sowie Theorien über den Mehrwert (Bd. 26)
Mueller, Karl, Thesen zu Klasse und Klassenstruktur
Neumann, Michael, Methoden der Klassenanalyse, Ffm, 1976
Statistisches Bundesamt, Stat. Jahrbuch 2010, http://www.destatis.de
Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr.029 vom 22.01.2008, Trend zu größeren Betrieben in der Landwirtschaft setzt sich fort
Vonderach, Gerd, Kapital und Klasse, Gießen 1974

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor. Das Referat wurde gehalten am 25.3.2011 im Rahmen einer
Veranstaltungsreihe von Teilhabe e.V. Berlin.