Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Sarkozys Ardennenoffensive
Französische Regierungs-Rechte und Rechtsextreme streiten sich um (Arbeiter- und sonstige) Wähler. Soziale Ankündigungen, und - hauptsächlich - rassistische Aspekte...

05/11

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Und so etwas muss man sich als Nazi gefallen lassen. Ausgerechnet am Vorabend des 20. April aus der Partei zu fliegen! Während andere Anhänger nationalsozialistischen Gedankenguts in Europa – in diesem Jahr eher diskret – Adolf Hitlers Geburtstag vorbereiteten, wurde Alexandre Gabriac aus seiner bisherigen Partei geworfen. Trösten konnte er sich damit, dass Prominente dieser Partei bis hin zu ihrem früheren Vizepräsidenten, Bruno Gollnisch, gegen den Ausschluss des 20jährigen protestierten. Ihm wurde vorgeworfen, auf Facebooks Aufnahmen veröffentlicht zu haben, auf denen er den Hitlergrub zeigt. Erschwerend kam hinzu, dass diese diskreditierenden Bilder im März dieses Jahres bekannt wurden, als Gabriac als Kandidat zu den französischen Bezirksparlamentswahlen auf dem Wahlzettel stand. 

Eine Schiedskommission beim französischen Front National (FN) entschied am Dienstag, den 19. April 11, Gabriac einen „Tadel“ zu erteilen. Dessen Vorsitzende, Marine Le Pen, verkündete daraufhin von ihrem Urlaubsort aus seine „Streichung“ aus den Mitgliederlisten. Gollnisch - der im Januar dieses Jahres gegen Marine Le Pen für den Parteivorsitz kandidiert hatte - zeigte sich umgehend „extrem erstaunt“ darüber, dass die neue Chefin „von Thailand aus“ den Ausschluss beschlossen und verkündete habe. Gabriac sitzt in Lyon, wo Bruno Gollnisch seine Hochburg hat, als Abgeordneter im Regionalparlament. Er selbst bestreitet, der Mann auf den Photos zu sein, und behauptet, es liege ein Fall „widerrechtlicher Aneignung seiner Identität“ vor. Unter Berufung darauf kritisierten sowohl Bruno Gollnisch als auch der Alt- und jetzige Ehrenpräsident des FN, Jean-Marie Le Pen, die Entscheidung der neuen Vorsitzenden öffentlich. Ihr Vater sprach von einer „überstürzten Entscheidung“, welche sie „besser noch einmal überdenke“. Unterdessen hat Marine Le Pen ihre Ausschlussverfügung jedoch bekräftigt. 

Denn die neue Chefin erlaubt sich keine Scherze mit dem Image ihrer Partei. Und offene Nazinostalgie passt nicht in deren derzeitige Linie. Es steht auch Einiges auf dem Spiel: Umfragen, die am 21. Apr.il publik wurden, sagen Marine Le Pen erneut einen sicheren Einzug in die Stichwahl bei der Präsidentschaftswahl in genau einem Jahr voraus. Demnach werden ihr zwischen 21 und 23 Prozent der Stimmen und eine sichere Teilnahme an der zweiten Runde, an der ausschlieblich die beiden bestplatzierten Bewerber aus dem ersten Wahlgang teilnehmen können, prognostiziert. Dies bestätigt ähnliche Ergebnisse der Meinungsforscher von Anfang März.  

Unterdessen wurde am selben Donnerstag (21. April) bekannt, dass ein weiterer FN-Kandidat bei den Bezirksparlamentswahlen im März 11 – zu denen auch Gabriac antrat -, der 21 jährige Jean-Baptiste Cordier, im Internet mit Hitlergrub zu sehen sei. Und inzwischen kam noch ein Dritter im Bunde hinzu: Am 27. April wurde ein Foto publik, auf dem man den FN-Kandidaten (und nebenbei auch CFDT-Gewerkschaftsmitglied, den seine Gewerlschaft allerdings bald hinauswerfen wird) Daniel Durand-Decaudin mit erhobenem rechtem Arm am Eingangsschild der Stadt – Vichy bewundern kann. Durand-Decaudin wehrte sich gegen Vorwürfe, indem er sich darauf berief, es handele sich lediglich um „einen Scherz“. Er habe, behauptete er, lediglich „meine Ehefrau, eine Thailänderin“ amüsieren wollen. Humor nach Art des Hauses? 

Beträchtliche Sorgen darüber, in zwölf Monaten überhaupt noch am zweiten Wahlgang teilnehmen zu können, muss sich unterdessen die regierende konservativ-wirtschaftsliberale Rechte machen. Auch und vielleicht gerade dann, wenn ihr führender Protagonist erneut für das höchste Staatsamt kandidiert: der derzeitige Präsident Nicolas Sarkozy. 

Sarkozy weigert sich bislang, die Flinte ins Korn zu werfen, und liebäugelt offen mit einer neuen Kandidatur. Um eine solche überhaupt ins Auge fassen zu können, muss er sich anstrengen, besonders den sozial frustrierten Teilen der Wählerschaft irgend eine Botschaft bieten zu können. Und diese Teile sind gewaltig gewachsen: Neben einem Grobteil der Arbeiterschaft und der sozialen Unterklassen sehen auch die Mittelschichten ihre Kaufkraft rapide erodieren. In einem Kontext stagnierender Löhne und Gehälter und verbreiteter Furcht vor Arbeitslosigkeit explodieren gleichzeitig die Preise - auch für öffentliche Dienstleistungen wie medizinische Grundversorgung, Strom, Erdgas oder öffentliche Verkehrsmittel. Dramatisch gesteigert hat sich aber vor allem das Problem, auch nur halbwegs bezahlbaren Wohnraum zu finden: Immobilien in Paris beispielsweise sind zur Kapitalanlage für Reiche aus der ganzen Welt geworden. 

Kampf um den rechtsorientierten Teil der Arbeiterwählerschaft: Sarkozy versucht aufzuholen  

Durch einen dritten Auftritt innerhalb von vier Jahren in den Ardennen, einem früher industriell geprägten Krisenbezirk am Rande des französischen Staatsgebiets, versuchte Sarkozy sich vorletzte Woche an die Arbeiterwählerschaft zu richten. In der Bezirkshauptstadt Charlesville-Méziers hielt er am Dienstag, den 19. April eine Rede vor Bürgermeistern der Region. Unterdessen boykottierte nicht nur das Stadtoberhaupt von Charlesville-Méziers, die Sozialistin Claudine Ledoux, seinen diesjährigen Auftritt. Am Rande seines Aufenthalts hielt Sarkozy auch Fabrikbesuche ab.  

An diesem Ort hatte Sarkozy bei einer Wahlkampfrede im Dezember 2006 den rechtsgerichteten Teil der Arbeiterwählerschaft in, im Endeffekt, doch beträchtlichem Ausmab gewonnen. Damals hatte er ein positives Arbeitsethos – unter dem Motto La valeur travail (ungefähr: Arbeit als Werthaltung) eingefordert, dies aber mit dem Versprechen verknüpft, dass davon am Monatsende auch etwas im Geldbeutel hängen bleiben werde. Die Zauberformel dafür lautete: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“. Dies verquickte Sarkozy mit der Ankündigung, Frankreich werde „seine nationale Identität“ verteidigen und sich in den Stürmen der Globalisierung durch die internationale Konkurrenz, besonders China, nicht unterbuttern lassen. (Vgl. unseren damaligen Beitrag; Die wundersame Wandlung des Nicolas Sarkozy

Zwar versprach Sarkozy damals keine Lohnerhöhungen. Aber durch das Ableisten möglichst vieler Überstunden – so stellte er in Aussicht – werde am Monatsende auch für die Lohnabhängigen etwas abfallen, falls sie denn tüchtig die Ärmel hochkrempelten. Das Rezept ist grandios gescheitert: Selbst wenn die Lohnabhängigen gern wollten, so hat das Kapitel seit drei Jahren nur in geringem Ausmab Überstunden abgerufen. Seitdem die Wirtschafts- und Finanzkrise auch Frankreich erfasst hat, verzeichnete es weniger Aufträge. Bei seinem folgenden Auftritt in den Ardennen, Ende Oktober 2008, verkündete Sarkozy dann Krisenrezepte: Fortbildungsmabnahmen, Flexibilisierung durch Erleichterung der Sonntagsarbeit. (Vgl. unseren seinerzeitigen Bericht: Blut, Scheiß und Tränen ) Im Rückblick hat auch dies den Lohnabhängigen keine Verbesserungen gebracht. Aufgrund mangelnder Nachfrage etwa im Handel hat ferner auch die Sonntagsarbeit nicht die von manchen erhofften und von anderen befürchtete Verbreitung gefunden. Aber auch schon damals zeichnete sich ab, dass Sarkozys Ansprache vor drei Jahren nur noch wenig sehr Begeisterung bei ihnen schuf.

Am 19. April 11 nun hatte Sarkozy ein neues Versprechen ausgegraben. Um bei seinen Besuchen in Fabriken anlässlich seines Ardennen-Aufenthalts nicht mit leeren Händen dazustehen bzw., wie eine durch die Tageszeitung Libération zitierte Stimme vor Ort unkt, „um nicht gelyncht zu werden“, musste Sarkozy ja irgend etwas „anbieten“.  

Also schlug er vor: Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten, die ihren Aktionären höhere Dividenden als im Vorjahr auszahlen, müssten ihren Lohnabhängigen ihrerseits eine Prämie ausschütten. Was schon einmal voraussetzt, dass das betreffende Unternehmen die Rechtsform einer Aktiengesellschaft angenommen u. Aktien ausgegeben hat (denn nur in diesem Falle kann von Dividenden die Rede sein); sofern es eine andere Rechtsform wählte, ist das eben Pech für die Lohnabhängigen. 

Angekündigt worden war im Vorfeld eine obligatorische, einmalige Sonderzahlung in Höhe von 1.000 Euro. Genauer sollte es sich um eine jährliche Einmalzahlung in jedem Jahr, in welchem ein (als Aktiengesellschaft strukturiertes) Unternehmen seine Dividendenzahlungen an seine Aktionäre gegenüber dem Vorjahr erhöht hat, handeln. Von Regierungsseite ist inzwischen präzisiert worden, dass ein Unternehmen die genannte Voraussetzung dann erfülle, wenn es seine Dividendenzahlungen gegenüber dem Durchschnitt der beiden vorangegangenen Jahre erhöhe. Die ursprünglich durch Arbeitsminister und Ex-UMP-Generalsekretär Xavier Bertrand gehandelte Zahl von „8 Millionen betroffenen“ Lohnempfänger/inne/n erweist sich, vor dem Hintergrund dieser Bedingungen, als  fantasievolle Erfindung. - Vgl. dazu die Ausgabe der Tageszeitung ,Libération’ vom o2. Mai, welche diese Behauptung näher zerpflückt. Zwar beschäftigten die Unternehmen mit über 50 Mitarbeiter/inne/n demnach frankreichweit insgesamt zwischen 8 und 9 Millionen Lohnabhängige. Doch von ihnen zahlen nur 16,4 % bei einer Beschäftigtenzahl zwischen 50 und 250, und 30,6 % bei einer Mitarbeiterzahl zwischen 250 und 5.000 sowie 41 % der noch gröβeren Unternehmen (ab 5.000 Lohnabhängige) überhaupt Aktionärsdividenden. (Zahlen auf dem Stand von 2.007) Und nur in einem Teil von denen, die es tun, fallen die Dividenden dabei im laufenden Jahr höher aus als im Durchschnitt der beiden Vorjahre.  

Nur zum Vergleich; Allein die vierzig gröβten börsennotierten (und also als Aktiengesellschaften verfassten) Unternehmen Frankreichs, die dem Aktienindex CAC40 angehören, schütten im laufenden Jahr für die Gewinne im Vorjahr 2010 voraussichtlich lockere 41 Milliarden Euro an Dividenden an ihre Aktionäre aus. Milliarden, nicht Millionen… Doch in 16 von 40 dieser Unternehmen wird die Voraussetzung, dass die Dividenden gegenüber dem Durchschnitt der beiden Vorjahre im Anstieg befindlich sein müssen, nicht erfüllt. Durch die Anwendung dieses Kriteriums würden bereits die Hälfte der Lohnabhängigen, die durch die CAC40-Konzerne auf französischem Staatsgebiet beschäftigt werden (750.000 von frankreichweit 1,5 Millionen) von der „Prämie“ ausgeschlossen. Obwohl auch „ihre“ Unternehmen beträchtliche, satte Zahlungen an ihre jeweiligen Aktionäre vornehmen… Auch wies etwa die sozialdemokratische Parlamentsopposition darauf hin, dass allein die geplante „Reform“ der Groβvermögenssteuer ISF (die den Staat voraussichtlich drei Milliarden Euro kosten, und den betroffenen 1.900 superreichen Haushalten im Durchschnitt je 160.000 Euro an Steuerersparnissen eintragen wird) in ihrem Umfang schon die geplante „Lohnabhängigenprämie“ übersteigen wird. - Vgl. http://www.parti-socialiste.fr/

Dennoch zerstritt sich das Regierungslager schon in den Tagen v o r der Ansprache Sarkozys in den Ardennen heftig über diese Ankündigung: Seine Wirtschaftsministerin Christine Lagarde hielt nicht viel davon, und von einem „Zwang“ zur Auszahlung der Summe wollte sie schon gar nichts hören. In heldenhafter Postur posaunte Präsident Sarkozy seinerseits in den Ardennen hinaus, er werde dem Druck von verschiedener Seite „nicht nachgeben“ und den Arbeitern zu ihrer Prämie verhelfen. 

Heraus kam am Ende, dass die Einmalzahlung zwar – in Unternehmen mit über fünfzig Beschäftigten und mit Aktionären – im Falle einer Dividendenerhöhung verpflichtend sein soll, aber ihre Höhe in keiner Weise vorgeschrieben ist. Den Rest sollen Verhandlungen mit den Gewerkschaften klären. Und in dem Umfang, in welchem die Prämie dann ausfällt, soll das Unternehmen dafür dann „im Gegenzug“ von Steuern und (Sozial-)Abgaben freigestellt werden. Ausgenommen von dieser Befreiung soll lediglich der achtprozentige Sonder-Solizuschlag, der „Beitrag zur Rückzahlung der Schulden der Sozialkassen“ heiβt, werden. Sprich: Bezahlen wird die Prämie unter dem Stich gar nicht so sehr die Kapitalgesellschaft - sondern die Steuerzahlerin, oder die Sozialkassen, die durch schwindende Beitragsvolumen weiterhin finanziell ausgetrocknet werden… 

Nunmehr ist davon die Rede, dass die ursprünglich einmal anvisierte Prämienhöhe von 1.000 Euro jährlich nunmehr (pro Jahr) die Obergrenze für die Steuer- und Abgabenbefreiung des betreffenden Unternehmens bilden könnte. Dies verkündete Haushaltsminister François Baroin. In den letzten Tagen wurde inzwischen auch eine Obergrenze von 1.500 Euro jährlich dafür durch die Regierung ins Auge gefasst. Ein Minimum, eine an die Lohnabhängigen auszuzahlende Mindestsumme hingegen soll es jetzt ausdrücklich n i c h t geben. (Vgl. http://www.usinenouvelle.com

Über den Ausgang sind letztendlich sowohl die Gewerkschaften unglücklich, die von einer „Mogelpackung“ oder einem Paket heiber Luft sprechen, als auch der Arbeitgeberverband MEDEF. Dessen Vorsitzende Laurence Parisot ist der Auffassung, diese Vorgabe sei schon zu viel „Diktat der Politik“, die sich in die Angelegenheiten der Betriebe einmische. Uneingeschränkter Applaus für Sarkozys Ankündigung, deren genauere Auswirkungen bislang völlig unklar bleiben, kam von nirgendwo - sieht man einmal von der konservativen & ausgesprochen regierungsnahen Tageszeitung Le Figaro ab. 

Der rechtsorientierte Teil der Arbeiterwählerschaft hat sich unterdessen längst Marine Le Pen, die den FN vordergründig rundum erneuert hat, angeschlossen. Dazu wurde am 25. April (Ostermontag) eine Umfrage des IFOP-Instituts publiziert, die belegen soll, dass in diesem Teil der Bevölkerung Marine Le Pen angeblich massive Sympathien zufliegen: 36 % der Arbeiterwählerschaft (sofern sie französische Staatsbürgerschaft & Wahlrecht besitzt, und überhaupt eine Stimmentscheidung trifft) würden demnach für die rechtsextreme Politikerin als Präsidentschaftskandidatin stimmen. 17 Prozent gäben ihre Stimme dem sozialdemokratischen Politiker, wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten und derzeitigen IWF-Direktor, Dominique Strauss-Kahn. Nur 15 Prozent gäben ihre Stimme Nicolas Sarkozy. Allerdings beruht die Umfrage auf den Aussagen von nur 150 Teilnehmer/inne/n, ist dadurch also nur ausgesprochen wenig repräsentativ. In einer Reportage in ihrer Ausgabe vom 02. Mai berichtet die Pariser Zeitung ,Le Monde’ aus einer Automobilfabrik in Poissy (im weiteren Pariser Umland), dass dort nur wenig von einer realen Sympathie für Marine Le Pen und den FN zu spüren sei. Allerdings erklären mehrere Gewerkschafter, dass eine wachsende Zahl von Arbeitern das Votum für Marine Le Pen als eventuelle „Proteststimme“ werte. 

Rechts favorisiert Rechtsextreme 

Doch das Regierungslager tut seinerseits in den letzten Wochen alles, um dieser rechtsextremen „Alternative“ noch zusätzlich Auftrieb zu verschaffen. Jene Vorstöbe des Regierungslagers, die man als Signale an die rechtsextreme Wählerschaft oder als symbolische Aufwertung des FN und seiner Thesen verstehen kann, erfolgen seit anderthalb Monaten im Stakkatotempo.  

Einen der Vorwände dafür liefert der Streit mit Italien um die Neueinwanderer aus Tunesien, von denen manche über den Grenzübergang zwischen Vintimille/Ventimiglia und Nizza nach Frankreich einzureisen versuchten. Unterdessen erntete Italien viele böse Worte aus Politik und Presse für seinen „Egoismus“, weil es den Zuwanderern sechsmonatige Aufenthaltstitel gebe und sie dann nicht an der Weiterreise in Richtung Frankreich hindere. 

Konservative Medien und Politiker organisierten dazu eine Kampagne, in denen in melodramatischen Tönen eine massive Bedrohung beschworen wird. In der zweiten Aprilwoche sprach die konservative Tageszeitung Le Figaro von einem raz-de-marée, einer Sturmflut oder Springflut, welche  an der italienisch-französischen Grenze bevor stehe. Dort hat Frankreich die Reisefreiheit an den Binnengrenzen der Europäischen Union, die durch das Schengen-Abkommen gewährleistet wird, seit Wochen ausgesetzt. Am  vorletzten Wochenende des 16./17. April 11 stoppte Frankreich sogar einen Sonntag lang sämtliche Züge, die von Ventimiglia aus in Richtung Südostfrankreich fahren, um die befürchtete Einreise von Tunesiern zu verhindern. Antirassistische Aktivisten protestierten heftig und organisierten einen „Zug der Würde“, der ebenfalls an der Grenze aufgehalten wurde. Grünenpolitiker Noël Mamère sprach von einem „skandalösen Verhalten“ Frankreichs, das auch durch EU-Institutionen gerügt wurde. 

Kaum hatte Marine Le Pen Anfang März 11 ihr Rezept im Umgang mit den Nordafrikanern verkündet – die Marine solle ihre Schiffe „in internationale Gewässer zurückschicken“ -, antwortete die Abgeordnete der Regierungspartei UMP Chantal Brunel ihr wie im Chor. „Auf Boote setzen und zurücksenden“, schlug sie vor. Ihre brutale Offenheit sorgte allerdings dafür, dass Premierminister François Fillon sich im Parlament von ihr distanzierte.  

Regierungschef Fillon verkörperte in den letzten Wochen eher den moderaten Flügel des Regierungslagers, im Gegensatz zu Nicolas Sarkozy und seinem neuen Innenminister und Ex-Prâsidentenberater, Claude Guéant. Letzterer verkündete am 17. März, die Franzosen seien über eine angebliche „unkontrollierte Einwanderung“, zu Recht, „beunruhigt“. Vier Tage sprach er von einem excès d’immigration, einem „Zu viel an Zuwanderung“, aufgrund dessen viele Franzosen sich in ihrem Land „nicht mehr zu Hause“ fühlten. Vor laufenden Fernsehkameras kündigte Marine Le Pen an, ihm „den Ehren- Mitgliedsausweis des FN“ zu überreichen, und hielt einen bunten Plastikausweis dazu in die Kameras.  

Seit Anfang April 11  steigerten sich die Vorstöbe erneut. Claude Guéant kündigte zwischenzeitlich an, „nicht nur die illegale, sondern auch die legale Einwanderung“ zu reduzieren. Mitte des Monats präzisierte er, vorläufig wolle er „als erstes Ziel“ die Anzahl der jährlich erteilten Aufenthaltstitel „von 200.000 auf 180.000“ um ein Fünftel reduzieren. Diese globale Zahl umfasst sämtliche Kategorien: Ehepartner von französischen Staatsbürgern, Angehörige von Zuwanderern mit legalem Status und Recht auf Familienzusammenführung, neu angeworbene Arbeitskräfte in „Mangelberufen“ oder mit seltenen Qualifikationen sowie politische Flüchtlinge. (Ihm widersprach inzwischen sogar Ex-Innenminister Jean-Louis Debré, aktuell Verfassungsrichter und in seinen Amtsjahren 1995/97 selbst ein konservativer Hardliner. Er antwortete am Sonntag, den 1. Mai auf seinen jetzigen Amtsnachfolger Claude Guéant: „Wir benötigen legale Einwanderung.“) 

In Brüssel, so berichtet das dortige Büro von Le Monde bei den EU-Institutionen, spreche man bereits von einem „Marine Le Pen-Effekt“. Wenn das offizielle Frankreich sich nunmehr ebenso gegen die „europäische Solidarität“ bei der Verteilung von über Italien einreisenden Zuwanderern wie gegen neue Gelder für die Bewältigung der EU-Ost- und Südosterweiterung  wende, dann widerspiegele sich darin der wachsende Einfluss des FN. 

Dessen Chefin Marine Le Pen, die durch die Regierungskampagnen mit neuer „Glaubwürdigkeit“ ausgestattet wurde, schrieb in der vorletzten Aprilwoche einen offenen Brief an alle Präfekten Frankreichs. Diese hohen Beamten repräsentieren den Zentralstaaten in allen 101 Verwaltungsbezirken in Polizei- und Rechtsangelegenheiten. Le Pen versicherten ihnen, auch bei einer Machtübernahme oder –beteiligung ihrer Partei hätten diese nichts zu befürchten. Als „Garanten des öffentlichen Interesses“ bräuchten sie sich nicht im Gegensatz zu ihrem „Projekt der Wiederaufrichtung unserer Nation“ zu fühlen. Innenminister Claude Guéant empörte sich: In seiner langen Karriere als hoher Beamter habe er „noch nie eine politische Partei sich direkt an die Präfekten wenden sehen“. Diese unterlägen ohnehin „einer politischen Neutralitätspflicht“. Dies könnte der FN allerdings auch als Signal dahingehend verstanden wissen, dass der Staatsapparat auch mit seinen Vertretern gefälligst zusammenarbeiten müsse.  

FN am 1. Mai 2011: Verjüngt, und im Diskurs modernisiert 

Als Erfolg für ihre Partei kann die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, den diesjährigen 1. Mai werten. Rund 3.000 Teilnehmer/innen nahmen am Aufmarsch ihrer Partei in Paris zu Ehren der „Nationalheiligen“ Jeanne d’Arc (der „Jungfrau von Orléans“) teil. 

Dadurch hat die rechtsextreme Partei die Beteiligung daran gegenüber den Vorjahren 2009 und 2010 ungefähr verdoppelt, auch wenn sie noch erheblich hinter den Spitzenwerten während der 1990er Jahren zurückbleibt. Im Jahr 2009 hatten knapp 1.500 Anhänger der extremen Rechten an dem Ereignis teilgenommen, in 2010 waren es rund 2.000. (Vgl. Der 1. Mai in Paris

Dabei hatte sich die Teilnehmerschaft erheblich verjüngt. Zwar befanden sich auch in diesem Jahr junge Männer mit auffälligen Tätowierungen oder extrem kurzen Haaren in der Menge, doch prägten sie das Erscheinungsbild im Unterschied zu den beiden Vorjahren nicht: Sie gingen teilweise in der Menge aus Familien oder „anständiger“ aussehenden und gekleideten jüngeren Menschen unter. Dennoch wurden auch in diesem Jahr, neben den durch die Parteispitze vorgeschriebenen offiziellen Parolen - ,Liberté’ sowie „Europa, Verrat: Frankreich ist eine Nation“ – erheblich weniger „zitierbare“ Slogans skandiert. Im regionalen Block des FN Rhône-Alpes (Raum Lyon) riefen jüngere Teilnehmer, keine fünf Meter hinter dem regionalen Chef Bruno Gollnisch: „Nein zu den Allogenen“, das altgriechische Wort für „Fremdstämmige“ (Gegenbegriff zu „Autochtone“) bemühend. 

Marine Le Pen hielt eine knapp einstündige, inhaltlich bemerkenswerte Ansprache. Aus Platz- und Zeitgründen werden wir auf ihren Inhalt, in einem Aufwasch mit einer Analyse des – in ersten andeutungsweisen Auszügen bei einer Pressekonferenz am 08. April 11 vorgestellten – Wirtschaftsprogramms des FN, in acht Tagen an dieser Stelle näher eingehen.  

Verraten sei bereits so viel, dass Marine Le Pen erfolgreich Begriffe für ihre rechtsextreme Partei eingemeindet, die ihr Vater so nie benutzt hätte. Vom Slogan der Revolution von 1789 – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – über die verbale Ablehnung von „Sklaverei“ und „Knechtschaft“ (wo Jean-Marie Le Pen eher eine Kritik am historischen Sklavenhandel als „olle Kamellen aus der französischen Geschichte“ abgetan hätte) bis hin zum Auspfeifen-Lassen von „Kollaborateuren“. Das Ganze allerdings stets in eine nationalistische Stobrichtung gewendet: „Kollaborateure“ heute sind nicht jene mit Nazis, sondern die Unterstützer der Europäischen Union und anderer supranationaler Institutionen; die Sklaverei ist jene der Franzosen in einem seiner Souveränität beraubten Land; die zu erkämpfende „Freiheit“ wiederum ist jene von den etablierten Gewerkschaftsverbänden, dem „Einheitsdenken“ in der Medien sowie in der Form von Kontrollen des Internet. In ihrer Rede vom 1. Mai 2011 fiel insgesamt 77 mal (sic) der Begriff ,Liberté’, also das Wörtchen „Freiheit“. 

Stark präsent war auch die Kampagne gegen jene französischen Gewerkschaften, die keine Unterwanderungsversuche des FN in ihren Reihen zulassen möchten und sich mit Ausschlussverfahren oder Mandatsentzügen dagegen zur Wehr setzen. Vor allem in ihrer Rede ging Marine Le Pen näher darauf ein. Hingegen blieb der angekündigte Demoblock von „Gewerkschaftern des Front National“, der laut Ankündigung des diesjährigen Aufmarschs die vierte Reihe - hinter der Parteiprominenz - bilden sollte, faktisch aus. Lediglich zwei Personen wurden gesichtet, die ein Transparent mit der Aufschrift ,Action sociale’ hochhielten. Und eine Dame, die bis vor einigen Wochen Bezirksvertreterin des Gewerkschaftsverbands FO (Force Ouvrière) in Nordostfrankreich für die zivilen Angestellten der französischen Armee war, lief in dem Aufmarsch mit einem Schild mit. Es trug die Aufschrift „Durch meine Gewerkschaft ausgeschlossen“. Ansonsten fiel die angekündigte „Gewerkschaftermobilisierung“ für die extreme Rechte offenkundig ins Wasser. 

Am Nachmittag nahmen rund 12.000 bis 15.000 Menschen an der diesjährigen 1. Mai-Demonstrationen von Linken & Gewerkschaften in Paris teil. Aufgrund des nicht tollen Wetters, vor allem aber aufgrund der Tatsache, dass der diesjährige 1. Mai auf einen Sonntag fiel, blieb die Mobilisierung dieses Jahr vergleichsweise schwach. Doch nach wie vor fällt sie deutlich stärker aus als beim vormittäglichen Aufmarsch des FN; zumal dieser seine Teilnehmer frankreichweit nach Paris mobilisiert, während die Gewerkschaften in 173 Städten und Orten demonstrierten.   

Ausführliches dazu folgt in der kommenden Woche.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.