Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Im „sanitären Ausnahmezustand“

Bericht
vom 09. Mai 2020
 

05/2020

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Amazon legt Revision gegen die Urteile (durch zwei Instanzen) zur Risikovermeidung für Beschäftigte ein – Renault wurde frisch gerichtlich zur vorläufigen Schließung eines Standorts verurteilt – Arbeitsministerin lehnt Anerkennung einer Covid-19-Infektion als Berufskrankheit (seit längerem u.a. durch die CFDT und FO gefordert) ab – Justiz lehnt einen Antrag auf Verbot von Drohnenüberwachung zur Ausgangsbeschränkung ab – Streit um Mehrwertsteuersatz auf Gesichtsmasken zum Schutz vor einem Kontaminationsrisiko

Das Vertrauen in die französische Regierung, im Zuge der aktuell beschlossenen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen und der neuen Phase des „sanitären Notstands“, schreitet nicht eben auf galoppierende Weise voran. Kaum dreht man sich um, hat es schon wieder abgebaut.

Am Mittwoch Nachmittag (06. Mai 20) hielten wir in unserem damaligen Manuskript – vgl. nebenstehenden Artikel – fest, dass nur noch 39 % der befragten Französinnen und Franzosen der Staatsspitze unter Emmanuel Macron in diesem Kontext „vertrauten“. Kaum war der Artikel on-line erschienen, hatte Emmanuel Macron jedoch in einer neuerlichen Umfrage des Instituts Elabe neuerlich fünf Prozentpunkt an „Vertrauen“ eingebüßt, und landete statt bei 39 % nunmehr nur noch bei 34 %. Vgl. https://www.lesechos.fr/

Arbeitsministerin an der Front

Was die Problematik rund um die Wiederaufnahme (oder Fortsetzung) der Arbeit während der Corona-Krise und des in Frankreich voraussichtlich – ab kommender Woche in modifizierter Form – bis zum 24. Juli 20 geltenden „sanitären Notstands“ betrifft, wird Arbeits- & Sozialministerin Muriel Pénicaud an die Front geschickt. Und besucht derzeit Unternehmen (vgl. dazu am 06.05.20: https://actu.fr/l und https://94.citoyens.com), um landesweit Lohnabhängige zur Wiederaufnahme der Arbeit & Produktion zu motivieren.

Vorläufig haben diese allerdings – jedenfalls sofern sie Kinder oder Jugendliche zu Hause haben – noch die Wahl, selbige zum Kindergarten oder zur Schule zu schicken oder nicht, da der Neubeginn des Unterrichts auf Elternseite vorläufig auf Freiwilligkeit aufbaut. Besteht ein Arbeitshindernis aufgrund der Präsenz jüngerer Kinder oder Heranwachsender im Haus, dann können Lohnabhängige vorläufig noch Kurzarbeitergeld (seit dem 01.05.20, zuvor waren es seit Beginn der Corona-Krise noch Krankenbezüge gewesen) kassieren.

Ab Anfang Juni d.J. allerdings sollen die Eltern dann nachweisen müssen, dass die für ihren schulpflichtigen Nachwuchs zuständigen Schulen nicht funktionieren (etwa, weil die Lehrkräfte streiken oder aufgrund sanitärer Risiken von ihrem Recht auf Arbeitsverweigerung bzw. „Rückbehaltungsrecht“ Gebrauch machen) oder aufgrund verkleinerter Schüler/inne/zahlen – durch die Abstandsregelungen bedingt – ihre Kinder derzeit nicht aufnehmen können. Jedenfalls verbal bleibt Arbeitsministerin Pénicaud dabei allerdings vage, was die konkreten Folgen betrifft, falls Eltern den Nachweis der Unmöglichkeit einer Wiedereinschulung ihres Nachwuchses dann nicht erbringen können. Bei Staatsbediensteten jedoch stehen die Auswirkungen unverrückbar fest: Ab dem 01./02. Juni d.J. gibt es dann schlicht keinen Lohnersatz (bei Beschäftigten der Privatwirtschaft wäre es Kurzarbeitergeld) mehr. Sprich, die materiellen Lebensgrundlagen werden vorläufig entzogen.

Am Abend des Montag, den 04.05.20 war Muriel Pénicaud überdies beim Privatfernsehsender BFM TV zu Gast. Dort wurde ihr um 20.49 Uhr folgende Zuschauerfrage gestellt: „Falls ein Arbeiter die Krankheit Covid-19 am Arbeitsplatz aufschnappt, wird er dann nach den Regeln für Berufskrankheiten versorgt?“ (Bei Berufskrankheiten – maladies professionnelles – gilt in Frankreich die Regel einer hundertprozentigen Lohnfortzahlung. Hingegen rutscht bei anderen Krankschreibungen das Niveau des Lohnersatzes nach einer ersten sechswöchigen Frist auf rund die Hälfte des Bruttolohns ab.) Und hier die ministerielle Antwort, die ees zumindest nicht an Klarheit mangeln lässt: „Nein, das ist nicht vorgesehen.“ Wohlgemerkt, die Frage zielte explizit auf Fälle ab, in denen sich Lohnabhängige am Arbeitsplatz kontaminierten, nicht etwa in ihrer Privatsphäre.

Eine solche Anerkennung als Berufskrankheit schlugen die CFDT und Force Ouvrière (FO) – zwei, anders als die CGT nicht mehrheitlich durch ein marxistisches Erbe geprägte, der drei größten Gewerkschaftsdachverbände in Frankreich – bereits vor mehreren Wochen vor. Vgl. dazu eine AFP-Meldung vom 23. April d.J.: https://www.lefigaro.fr/3 Auch die CGT vertritt inhaltlich dieselbe Position.

Bis dahin wurden (und werden) Covid-19-Kontaminationsfälle im Arbeitsleben nur bei Gesundheitsberufen und Pflegekräften als Berufskrankheit anerkannt; vgl.: https://www.lefigaro.fr/ - Vgl. zur Thematik auch: https://www.cfdt.fr/ und https://www.lesechos.fr/

Um eine Kontamination mit dem „neuartigen Coronavirus“ (SARS Cov-2) an den Arbeitsplätzen zu verhindern, hat das französische Arbeits- & Sozialministerium eine Art Leitfaden vorgelegt, das „nationale Lockerungsprotokoll“ – ungefähre Übersetzung von protocole national de déconfinement -; vgl. den Text im Original:

Ihm wird jedoch von Gewerkschafter/inne/n vorgeworfen, dass das Ganze auf einer Top-Down-Methode beruht, bei welcher sich Bürokraten in ministeriellen Abteilungen - eventuell in Verbindung mit Arbeitgeberverbänden - Gedanken etwa über Abstandsregeln in Büro und deren Ausdruck in mathematischen Formeln (vgl. bspw. St. 6) machten. Die Arbeitenden selbst, die ihre Tätigkeit am besten „von innen her“ kennen, wurden dabei jedoch in völlig unzureichender Weise einbezogen.

Unterdessen versucht die CFDT sich an einer neuen Baustelle für „sozialpartnerschaftliche“ Verhandlungen und strebt ein Abkommen zur Regulierung von Telearbeit (o. Arbeit im Home Office) an; vgl. https://www.lefigaro.fr

Urteile zu Renault ; und zu Amazon (Fortsetzung)

Durch die Justiz verurteilt wurde (in erster Instanz) unterdessen der Renault-Konzern. Letzterer hatte in der dritten Aprilwoche 2020 die Produktion an mehreren französischen Standorten wieder aufgenommen ; vgl. Dazu https://www.usinenouvelle.com/article/renault-reprend-la-production-sur-trois-sites-francais.N956291

Nun verurteilte ein Gericht in Le Havre (Normanie) auf Antrag der CGT hin jedoch den Automobilkonzern dazu, seinen Produktionsstandort in Sandouville (ebenfalls in Normandie, im Verwaltungsbezirk von Rouen, also im Département Seine-Maritime) für’s Erste wieder dicht zu machen. Aufgrund unbeherrschter sanitärer Risiken sei die Weiterarbeit den Lohnabhängigen dort vorerst nicht zuzumuten. Im Vorfeld hatte eine Arbeitsinspektorin (inspectrice du travail) – die Angehörigen dieser Gruppe von Staatsbediensteten, der dem Arbeits- & Sozialministerium unterstellten „Arbeitsinspektion“, haben über die Einhaltung von geltenden Arbeitsschutzvorschriften zu wachen – ihren Auftrag auf vernünftige Weise wahrgenommen… und dies schlug sich in einem alarmierenden Bericht nieder. Auch wenn dies durchaus nicht im Sinne ihrer obersten Vorgesetzten, also der amtierenden Arbeitsministerin Pénicaud (frühere Personalchefin bei Danone), ausfallen dürfte - vgl. dazu unseren früheren Artikel: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/gewerkschaften-frankreich/frankreich-in-der-corona-krise-ministerieller-druck-auf-die-arbeitsinspektion-eskaliert/ .

Vgl. zum Urteil gegen Renault (gegen das der Konzern in Berufung gehen dürfte):

Unterdessen hat der, am 14. und 24. April d.J. in zwei französischen Gerichtsinstanzen wegen sanitärer Risiken für seine abhängig Beschäftigte verurteilte Amazon-Konzern (wir berichteten mehrfach ausführlich) angekündigt, gegen dieses Urteil in das Kassationsverfahren zu gehen. Diese Kassationsinstanz – die Prozedurbezeichnung lautet se pourvoir en cassation – beinhaltet eine Art Revisionsverfahren in einer dritten Instanz, das nur eine juristische Überprüfung von eventuellen Rechtsfehlern der untergeordneten (erstinstanzlichen sowie Berufungs-)Gerichte beinhaltet, jedoch keine erneute Aufrollung der Tatsachen- und Beweiswürdigung. Bis zum Abschluss dieses dritten Verfahrens vor der Cour de cassation, also dem obersten französischen Gericht in Zivil-, Straf- und Arbeitsrechts-Sachen, bleibt Renault also „nicht definitiv verurteilt“. Einstweilen will der Konzern seine Standorte in Frankreich nun bis mindestens 13. Mai 20 geschlossen halten, und beliefert seine Kundinnen und Kunden auf französischem Staatsgebiet vom nahen europäischen Ausland aus.

Vgl. dazu:

Verwaltungsklage gegen Drohnenüberwachung der Ausgangsbeschränkungen

Abgelehnt hat die französische Justiz in erster Instanz (Verwaltungsgericht Paris, Tribunal administratif de Paris) unterdessen eine Verwaltungsklage zweier Nichtregierungsorganisationen – einerseits der sehr entfernt mit dem deutschen Chaos Computer Club vergleichbaren, zu netzpolitischen Themen arbeitenden NGO La Quadrature du Net, andererseits der traditionsreichen, 1898 während der Dreyfus-Affäre gegründeten Liga für Menschenrechte (LDH) – gegen die polizeiliche Überwachung der Ausgangsbeschränkungen mittels Drohnen. Es dürfte zu einem Berufungsverfahren kommen.

Vgl.:

Neben polizeilichen Drohnen scheinen die Behörden derzeit auch Polizeihelikopter zur Überwachung der Ausgangsbeschränkungen (allerdings eher auf statistischer, nicht auf individueller Ebene) einzusetzen; jedenfalls kreiste am gestrigen Freitag, den 08.05.20 zum dritten Mal innerhalb von gut zwei Wochen ein Hubschrauber über den Köpfen im Wohnviertel des Verf. dieser Zeilen, jeweils gegen 18 Uhr und für circa eine Stunde. Das Hauptproblem dabei ist natürlich, dass das gesamte Instrumentarium, das nun Einsatz findet und über die sanitäre Krise legitimiert wird, auch „danach“ im Polizeiapparat mehr oder minder ungebrochen Verwendung finden dürfte. (Polizeidrohnen wurden allerdings in jüngerer Vergangenheit bereits bei Demonstrationen gesichtet, etwa am 09. April 2016 in Paris – Thema Arbeitsrechts„reform“ – oder im Juli 2017 in der Pariser Vorstadt Persan-Beaumont zum Jahrestag des Todes eines im Juli 2016 im Gewahrsam der Gendarmerie verstorbenen jungen Mannes: Amada Traoré. Im darauffolgenden Jahr setzte dann allerdings die Demonstrationsleitung, rund um die Traoré-Familie, ihrerseits eine Drohne zum Filmen von Aufnahmen ein..)

Auseinandersetzung um Mehrwertsteuer auf Gesichtsmasken

Böses Blut hat es in den letzten Tagen auch rund um die Frage der Mehrwertsteuererhebung auf Gesichtsmasken – zum Schutz gegen eine Kontamination mit SARC Cov-2 – gegeben.

Seit dem Montag, den 04. Mai 20 befinden diese sich nun in den Supermarktregalen, nachdem wochenlang eine extreme Mangelwirtschaft in diesem Bereich herrschte. Zunächst verlautbarte von offizieller Seite dazu (im März d.J.), Gesichtsmasken seien für Menschen, die nicht in Gesundheitsberufen arbeiten, zu „überhaupt nichts“ zugute und jedenfalls mitnichten nötig – und selbst für Menschen in Gesundheits- & Pflegeberufen waren sie in weit unzureichender Anzahl vorhanden. Dies verbarg jedoch nur notdürftig, dass es schlicht keine ausreichenden respektive gar keine strategischen Vorräte in diesem Bereich gab. 2009/2010 waren unter der damaligen Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot zwar über eine Milliarde Gesichtsmasken angeschafft worden, damals in Erwartung einer Epidemie der neuartigen Grippe H1N1; im Laufe des Jahrzehnts hatten diese jedoch ihr Haltbarkeitsdatum (ursprünglich gab es keines, inzwischen wurde es bei fünf Jahren angesetzt) überschritten und entsprachen zudem nicht mehr neuen EU-Normen. Die Vorräte, für die ja auch Lagerkosten anfielen, wurden sukzessive vernichtet. 2019 appellierten medizinische Expert/inn/en jedoch explizit an die französische Regierung, neue anzulegen. Nichts passierte: Konnte man ja im Bedarfsfall in China kaufen…

Nach wochenlangem schreiendem Mangel, über den Menschen in Gesundheitsberufen ebenso schreiende Beschwere einlegten, hieß es im Laufe des April d.J., eine Bestellung über „eine Milliarde Masken“ sei aufgegeben worden (…in China), und diese träfen nun „Ende Juni“ ein. Kurioserweise verfügen nun jedoch die Supermärkte ihrerseits über beträchtliche (neue) Vorräte, und dürfen diese seit dem 04.05.20 nun auch verkaufen. Offenkundig läuft die Planung – wenn man es als eine solche bezeichnen will - bei Wirtschaftsunternehmen besser als bei der öffentlichen Hand. Das schlimmste Armutszeugnis für den französischen Staat, in dieser Situation…

Bereits Mitte April d.J. hatten die Abgeordneten entschieden, auf den Verkauf von Gesichtsmasken – sofern endlich einmal welche vorhanden sein würden – solle ein Mehrwertsteuersatz von 5,5 % (wie auf Grundbedarfsgüter) erhoben werden. Ihr Preis wurde durch die Regierung einem Oberpreis von 0,95 Euro pro Einwegmaske unterstellt.

Nun erlebten jedoch zahlreiche Konsumentinnen und Konsumenten in dieser Woche eine kleine Überraschung, nämlich die, dass sie an den Supermarktkassen ihre Gesichtsmasken mit einem Mehrwertsteuersatz von 20 % (dem höchsten von drei Sätzen, dem, der überwiegend für Luxusgüter gilt) bezahlt hatten. Upps, Überraschung…: Die Regierung hatte es glatt unterlassen, nötige Ausführungsbestimmungen zu dem Beschluss zu erlassen! Am Freitag, den 08. Mai 20 (in Frankreich nach wie vor ein gesetzlicher Feiertag wg. 08.05.1945) wurde nun ein ministerieller Erlass dazu im Journal Officiel (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) veröffentlicht. Mittlerweile hatten allerdings zahlreiche Haushalte ihre Gesichtsmasken bereits erworben, jene bei LIDL waren frankreichweit innerhalb von zwei Stunden ausverkauft…

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

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