Editorial
Rebellion ist gerechtfertigt
Über
Respekt und Herrschaft

von Karl Mueller

06/2016

trend
onlinezeitung

Nach dem Beginn der Kulturrevolution im Mai 1966 überschüttete die bürgerliche Presse die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit Horrormeldungen aus der Volksrepublik China. Diese Berichte fanden alsbald ihren Resonanzboden bei der durch Rock'n'Roll und Beatmusik in Bewegung geratenen Jugend. Mao und seine "Bibel" wurden Kult. Chefs, Lehrer und Beamte, also Autoritäten staatlicher und ökonomischer Herrschaft, wurden nun Objekte jugendlicher Provokation. Die bisher bieder daherkommende Politik des SDS und seines Umfeldes (z.B. Falken) veränderte sich. Der überwiegende Teil dieses Spektrums praktizierte jetzt "100 Blumen" antiautoritärer Vermittlung und ergänzte damit das vermeindlich seriöse Politikverständnis mit schriller Despektierlichkeit und gezielter Regelverletzung.

Puddingbomben, Eier und Tomaten, Besetzungen und Graffiti wurden in kurzer Zeit zentrale Vermittlungsformen zur Herabwürdigung und Destabilisierung von Herrschaft und schufen eine unerwartet breite Medienöffentlichkeit für linke und fortschrittliche Inhalte. Die chinesische Kulturrevolution war sozusagen Geburtshelfer bei der Schleifung autoritärer Verkrustungen, die einer spätbürgerlichen Gesellschaft mit entwickelten postfordistischen Kapitalverwertungsstrukturen entgegen standen.

Dass  die Demontage von Herrschaft durch respektloses, d.h. antiautoritäres Handeln als linkes politisches Programm in einer sozialistischen Gesellschaft den Vertreter*innen eines autoritären Sozialismus Moskauer Prägung nicht gefiel, lag auf der Hand. Ihre bändefüllenden Polemiken der 1960er und 70er Jahre wirken noch bis heute nach. So wenn die Junge Welt anläßlich des 50. Jahrestages der Kulturrevolution schreibt:

"Die Kulturrevolution war der Versuch der durch Mao repräsentierten Linie der revolutionären Ungeduld, die Politik der »drei Roten Banner«  fortzuführen ... Dies führte zu Ausnahmezustand, Chaos, Not und Leid sowie zur Beseitigung von Partei und Staat als vermittelnden Instanzen, was auf einen durch Mao verkörperten Bonapartismus hinauslief."



Fritz Teufel im Prozess nach der Verhaftung
auf der Anti-Schah-Demo am 2.6.1967


aus der Zeitung der Roten Garde Westberlin 2/1969

Oder wenn Dietmar Bartsch, Ex-SED-Mitglied und zeitweilig nach 1989 Geschäftsführer des Verlages Junge Welt den Tortenwurf ins Gesicht seiner Fraktionsvorstandskollegin Sahra Wagenknecht mit "menschenverachtend und asozial" etikettiert und dieses blöde Argument schließlich durch den LINKEN-Parteivorsitzenden Riexinger absurd aufgebläht wird, der die Respektlosigkeit des Tortenwurfs als "Gewalt" bezeichnete.

Ihre Argumente gründen nicht in einer Partei-Vassallentreue, sondern in der Übernahme zeitgenössischer bürgerlicher Denke, die bereits Schulkindern verabreicht wird und wo Respekt als "ein menschliches Grundbedürfnis" gilt. Und dies, ohne dabei der Frage nachzugehen, wie es konkret um die Erfüllung jenes Grundbedürfnisses in unserer Gesellschaft bestellt ist, die die Ungleichheit mit dem Firniss des Gleichheitsversprechens überzieht und damit der Sicherung von Herrschaft und Kapitalverwertung dient, obwohl dieses Grundbedürfnis gerade die Abwesenheit von Herrschaft voraussetzt.

Wenn  Schokocreme und Sahne nun Anlass geben, unter Linken (siehe z.B. Linksunten.Indymedia) festzustellen, dass geworfene Torten keine Argumente sind und nur dazu dienen, jemanden öffentlich an den "Pranger" zu stellen, dann spiegelt sich darin leider wieder, was sukzessive in der BRD-Geschichte nach 1989 an Ideen und Konzepten bezüglich Politik und Vermittlung unter Linken den Bach runtergegangen ist. Die Torte war das Argument! Genossin Wagenknecht sollte lächerlich gemacht werden. Denn jemand, der respektlos mit dem Schicksal von Flüchtlingen umgeht, indem deren Beweggründe und Verhalten unter das Gastrecht subsumiert werden, verdient es Respektlosigkeit sinnlich zu erfahren. Und nicht nur das. Die Person Sahra Wagenknecht wird dank der Torte - ganz "asozial" - für einen Augenblick benutzt und auf ein Medium für eine Botschaft reduziert, ganz so wie sie Flüchtlinge medial für ihre Zwecke nutzt.

Wie dagegen ein linke Behandlung der Flüchtlingsfrage heute aussehen könnte, anstatt sich den Kopf des herrschenden politischen Personals zu machen, dazu kann Geschichte dienen. Wir verweisen ausdrücklich auf den Teil 8 unserer "Wartesaal-Serie": Die Solidarität der tschechischen Bevölkerung mit den deutschen Emigrant*innen nach Hitlers Machtergreifung.

Überhaupt sollte in der Linken damit gebrochen werden, mit Geschichte angeblich zweckfrei und nur aus dem Blickwinkel der persönlichen Betroffenheit umzugehen, um damit quasi durch die narrative Hintertür dieser Argumentationsarchitektur die Kämpfe der Klasse und die Aufhebung des Kapitalismus als politisches Ziel zu delegitimieren.

In unserer Februarausgabe berichteten wir von einem möglichen Mao-Revival in der BRD und in den diesjährigen 1.-Mai-Berichten lässt sich diese Tendenz auch ablesen. Deswegen haben wir uns entschieden, an den 50. Jahrestag der Großen proletarischen Kulturrevolution nicht nur durch Dokumente zu erinnern, sondern auch der Frage nachzugehen, wie die Mao Tse-tung-Ideen in der BRD und vor allem in Westberlin aufgenommen wurden. Dieser Prozess - anknüpfend an eine sich entfaltende Student*innen- und Schüler*innenbewegung - war kein linearer, sondern ein heterogener, geprägt von Bruch und Kontinuität. Dies "Rüberzubringen" wollen wir mit der vorliegenden Ausgabe beginnen und in einer entsprechenden Veranstaltung zur Diskussion stellen. Denn wer die Pandorabüchse Kapitalismus schließen will, der wird ganz im Sinne von Maos "Rebellion ist gerechtfertigt" wohl wieder zur Respektlosigkeit - nicht nur als  Vermittlungsform sondern auch als Inhalt - greifen müssen.