Lenins Theorie und Praxis

von W. Adoratsky

06/2020

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W. I. Lenin war konsequenter Marxist, und er verstand es, Theorie und Praxis dialektisch zu verbinden. Seine theoretischen Ideen grün* deten sich auf ein aufmerksames Studium der Tatsachen der Wirklich* keit. Da sie diese Wirklichkeit widerspiegelten, waren diese Ideen für die praktische Arbeit unentbehrlich. Den ganzen vorangegangenen Materialismus, den Feuerbach'schen mitinbegriffen, einer Kritik unter* ziehend, wies Marx als einen seiner Mängel nach, daß die alten Mate* rialisten dfe Welt lediglich passiv betrachteten. Sie unterschätzten die große Bedeutung der revolutionären, praktisch kritischen Wirksamkeit. „Die Philosophen haben die Welt bisher nur interpretiert, es gilt aber, sie zu verändern", so formulierte Marx den Gesichtspunkt des dialektischen Materialismus.

Gleich bei Beginn seiner politischen Tätigkeit betonte Lenin die revolutionäre praktische Rolle der Theorie. Seine materialistische Stellung setzte er dem Objektivismus der bürgerlichen Gelehrten ent* gegen, indem er das Moment der Aktivität und der revolutionären Praxis, die ein untrennbarer Bestandteil des modernen Materialismus ist, unterstrich. Die bürgerlichen Gelehrten stellen die Sache in einer Weise dar, als wenn der Forscher angeblich von außen her die histo* rischen Prozesse zu betrachten habe, als wenn er über ihnen stehen müsse, daß er nur dann den unvermeidlichen Gang der Entwicklung durchaus objektiv und unvoreingenommen zu schildern imstande sei. Die Wissenschaft müsse parteilos und durchaus unbefangen sein. Aber ein Theoretiker, der diesen Standpunkt vertritt, wird unweigerlich zu einem Verteidiger der bestehenden Wirklichkeit. Dieser Auffassung setzte Lenin die der Materialisten entgegen, die „die Klassengegensätze aufdecken und eben dadurch ihren Gesichtspunkt bestimmen... Der Materialismus schließt gewissermaßen den Parteistandpunkt immanent ein und verpflichtet, bei jeder Beurteilung eines Ereignisses sich offen und unzweideutig auf den Standpunkt einer bestimmten sozialen Gruppe zu stellen." (Lenin, Oekonomischc Begründung des Narodnitschestwo und seine Kritik im Buche von Struve, „Zwölf Jahre" S. 49, russisch).

Auf Grund der wissenschaftlichen Analyse der gegenwärtigen Ge*sj Seilschaft eignete sich Lenin unter Zuhilfenahme der marxistischen Methode die feste Ueberzeugung an, daß „die Lage des industriellen Arbeiters im allgemeinen System der kapitalistischen Verhältnisse ihn zum einzigen Kämpfer um die Befreiung der Arbeiferklasse macht, denn nur das höchste Stadium der kapitalistischen Entwicklung, nur die Großindustrie, schafft die für diesen Kampf erforderlichen materiellen Bedingungen und sozialen Kräfte." („Wer sind die Feinde des Volkes?" S. 171, russisch.)

Als praktischer Politiker erblickte Lenin die Aufgabe des Theoretikers nicht in der Ausarbeitung eines Plans zu einem System der' sozialen Ordnung und dessen Verwirklichung, sondern „in der bewußten Teilnahme am historischen Prozeß der vor unsern Augen sich vollziehenden Umgestaltung der Gesellschaft." (Marx.) Und hierbei muß die Theorie eine ungeheure Rolle spielen. Die Theoretiker „müssen" — nach Lenin — „eine detaillierte marxistische Auffassung der russischen Geschichte und Wirklichkeit ausarbeiten, indem sie die in Rußland besonders verwickelten und verhüllten Formen des Klassen*; kampfes und der Ausbeutung konkret verfolgen. Sie müssen ferner diese Theorie popularisieren, sie zu dem Arbeiter tragen, diesem das Verständnis erleichtern und eine Form der Organisation schaffen für die Verbreitung des Sozialdemokratismus (lies: des Kommunismus, denn das wurde im Jahre 1893 geschrieben, als das Wort Sozialdemokrat durch Leute wie Scheidemann noch nicht diskreditiert war) und für den Zusamenschluß der Arbeiterschaft zu einem politischen Machtfaktor." („Wer sind die Feinde des Volkes?", S. 180, russisch.) Wir sehen hier, wie die praktische Seite des Problems betont wird. „Die marxistische Theorie stellt sich die direkte Aufgabe, alle Formen des Antagonismus und der Ausbeutung in der gegenwärtigen Gesellschaft aufzudecken, ihre Evolution zu verfolgen, die Unvermeidlichkeit ihrer Verwandlung in andere Formen aufzuzeigen, und auf diese Weise dem Proletariat die Aufgabe zu erleichtern, jede Form der Ausbeutung so schnell und so leicht wie möglich zu beseitigen... Zur Aufgabe der Theorie und zum Ziel der Wissenschaft wird unumwunden die Unterstützung der unter? drückten Klasse in ihrem tatsächlich sich abspielenden ökonomischen Kampfe gemacht." („Wer sind die Feinde des Volkes?", S. 197, russisch.) Die Arbeiterklasse in ihrem ökonomischen und politischen Kampfe unterstützend, muß die marxistische Theorie das Klassenbewußtsein der Arbeitermassen weitestgehend entfalten; auf diesem Gebiete hob Lenin folgende Aufgaben hervor:

Das Bewußtsein der Arbeitermassen" schrieb er in seiner Broschüre „Was tun?" (1902), „kann kein echtes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiterschaft es nicht lernt, an konkreten und dabei unbedingt: aktuellen politischen Tatsachen und Ereignissen das Verhalten einer jeden der andern sozialen Klassen auf allen Gebieten des geistigen, sittlichen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie nicht lernt, materialistische Analyse und materialistische Einschätzung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens sämtlicher Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtung und das Bewußtsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selbst lenkt, — der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verknüpft mit dem restlosen, klaren Erfassen nicht nur der theoretischen oder richtiger gesagt, nicht sowohl der theoretischen als der durch die Erfahrung des politischen Lebens gewonnenen Vorstellungen über die Wechselbeziehungen aller Klassen der gegenwärtigen Gesellschaft." Die Theorie muß mit dem Leben verbunden sein, sie muß aus dem Lebensmaterial schöpfen.

Die größte Befreiungsbewegung der unterdrückten Klasse, die Bewegung der revolutionärsten Klasse ist unmöglich ohne eine revolutionäre Theorie. Man kann sie nicht ausdenken, sie wächst aus der Gesamtheit der revolutionären Erfahrung und des revolutionären Gedankens aller Länder der Welt. Und eine solche Theorie ist in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts tatsächlich gewachsen. Sie nennt sich Marxismus. Man kann kein Sozialist sein, man kann kein revo* lutionärer Sozialdemokrat sein, ohne die Ausarbeitung und die Am wendung dieser Theorie nach Kräften zu fördern." (Ehrliche Stimme eines französischen Sozialisten im Jahre 1915 — „Gegen den Strom", S. 274.)

Lenins ganze Tätigkeit als Theoretiker und Führer bestand darin, daß er praktisch arbeitend die Wirklichkeit erforschte, die Theorie des revolutionären Marxismus auf die Praxis anwandte.

Dank dem Umstände, daß Lenin die Aufgaben der Partei auf Grund eines präzisen wissenschaftlichen Studiums der Wirklichkeit festsetzte, daß diese Aufgaben dieser objektiven Wirklichkeit vollkommen entsprechen, konnten sie so glänzend verwirklicht werden, so z. B. die Aufgabe der Schaffung einer illegalen Organisation der Berufsrevolutionäre Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Zuweilen wurde die Durchführung dieser praktischen Aufgaben eine Zeitlang hinausgeschoben. Aber ihre geschickte und zeitgemäße Formulierung hatte zur Folge, daß das Bewußtsein und die Sympathien der breitesten Massen geweckt wurden und dadurch eine um so gründlichere Verwirklichung der gestellten Aufgaben gewährleistet war. So z. B. die Aufgabe der Verwirklichung der revolutionären Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, die Lenin im Jahre 1905 aufgestellt hatte. Die Broschüre „Zwei Taktiken" ist eine glänzende Erklärung und Verteidigung dieser These.

Die veränderte Lage — in der Epoche des Niedergangs der revolutionären Bewegung (Periode 1908 und die folgenden Jahre) — in Rechnung ziehend, stellte Lenin der Partei die Aufgabe, die legalen Möglichkeiten geschickt zu verwerten, die illegale Arbeit dabei fortzusetzen und die illegale Organisation um jeden Preis zu erhalten. Nach Beginn des imperialistischen Krieges wies Lenin auf die praktische Aufgabe der Verwandlung der imperialistischen Kriege in einen Bürgerkrieg hin. Und diese Aufgabe kam eben deshalb, weil sie dem objektiven Entwickelungsverlauf streng angepaßt war, in Rußland im Jahre 1917 zur Durchführung.

Beim Studium der Geschichte der KPR. und der Arbeit Lenins als Führer kann man an tausenden von Beispielen lernen, was die marxistische Theorie ist und in welchem Zusammenhang sie zu der revolutionären Praxis steht.

Besonders deutlich zeigte sich die ganze Bedeutung der revolutionären Theorie im Verlaufe der zweiten russischen Revolution — im Jahre 1917 und in der darauffolgenden Zeit.

Lenin stellte gleich Anfangs die Aufgabe der Eroberung der gesamten politischen Macht durch die Sowjets. Die Parole „Die ganze Macht den Sowjets", solange die Gegenrevolution noch keine bewaffneten Aktionen organisieren konnte, auf friedliche Weise verbreitend, — begann Lenin Juli 1917, als die Macht faktisch in die Hände von erzreaktionären Banditen geriet, auf die Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstandes zum Zweck der Erorberung der Macht hinzuweisen. Aber gleichzeitig betonte er die Gefahr einer verfrühten sofortigen Aktion, denn die Truppen an der Front und in der Provinz waren damals noch ungenügend vorbereitet. Als aber die Meuterei Kornilows den breitesten Massen begreiflich machte, was eintreten würde, wenn die Revolution nicht bis zum endgültigen Siege gelange, als in den Massen Wut und Verzweiflung sich zu verbreiten begannen, — da fing Lenin an, die Vorbereitung des Aufstandes energisch vorzubereiten, und darauf hinzuweisen, daß der günstige Augenblick eingetreten sei. Schon im Jahre 1893 konnte Lenin dank der marxistischen Theorie vorhersehen, wie sich der Verlauf der sozialen Entwicklung in allgemeinen Zügen abrollen würde. Im Jahre 1902 schrieb er, daß die Organisation von Berufsrevolutionären „zu allem bereit sein wird, von der Ehrenrettung, der Aufrechterhaltung des Prestiges und der Parteitradition im Augenblick der größten Unterdrückung an bis zur Vorbereitung und der Durchführung eines bewaffneten, das ganze Volk umfassenden Aufstandes." („Was tun??"). Im Oktober 1917 war dieser Augenblick eingetreten.

Die Regierung des Proletariats unternahm wirksame Schritte, um die Fragen des Friedens und die Agrarfrage zu lösen. Im Sommer 1918 konnte Lenin dank seiner revolutionären Theorie die Brotfrage lösen und im Herbst 1918 und im darauffolgenden Winter die Frage der Organisation einer drei Millionen starken Roten Armee aufwerten und praktisch durchführen. Für die Kampfführung des internationalen Prole* tariats wurde die III. Kommunistische Internationale geschaffen — eine Organisation, die die revolutionäre Theorie von Marx in die Praxis umsetzte.

Dieselbe revolutionäre Theorie wies auf die große Bedeutung des Kampfes der östlichen Völker gegen den Weltimperialismus hin. Lenin stellte jetzt im internationalen Maßstabe die praktische Frage von dem Bunde des Proletariats mit den unterjochten kolonialen Völkern für die Organisierung des Kampfes gegen die Imperialisten.

Nachdem die Periode des heißen militärischen Kampfes des russischen Proletariats und der Bauernschaft gegen die angreifenden internationalen Imperialisten mit einem Siege der Sowjetmacht geendet hatte, half dieselbe Theorie Lenin, die Richtung der neuen ökonomischen Politik zu bestimmen und die Wege vorzumerken, die das Proletariat zum endgültigen Siege führen werden.

Das Geheimnis von Lenins theoretischen und politischen Siegen bestand in der meisterhaften Beherrschung der marxistischen Methode,, in der Fähigkeit, die revolutionäre Bewegung der Massen zu organisieren, zu leiten und ihr bester Wortführer zu sein. In Lenins literarischen Werken und in seinen Reden ist ein unendlich reiches theoretisches Erbe enthalten, das alle Parteimitglieder auf das Sorgfältigste kennen lernen müssen. Die Art und Weise, wie Lenin seine Theorien in die Praxis umsetzte, muß aufmerksam studiert werden, um aus deren konkreter Analyse unschätzbare Lehren für die Zukunft zu gewinnen. Man darf sich indeß nicht auf diese theoretische Arbeit beschränken, man muß tiefer zu den untersten Schichten, zu den breitesten Massen vordringen und ihren sich entfaltenden Kampf für den Kommunismus organisieren. Das war Lenins Theorie und Praxis.

Editorische Hinweise

Der Artikel erschien in der ersten Ausgabe der "Arbeiterliteratur"  1924 im Verlag für Literatur und Politik in Wien kurz nach dem Tode von Lenin am 21. Januar 1924. W. Adoratsky (Vladimir Viktorovich Adoratsky)  gab in den 1920er Jahren philosophische Schriften von Marx und Engels sowie Lenin heraus und verfasste eine Reihe von Werken zur marxistischen Theorie von Staat und Recht sowie zur Philosophie und Geschichte des Marxismus. Ab Anfang 1931 wurde er Leiter des Marx-Engels-Lenin-Instituts. Von 1936 bis 1939 leitete er auch das Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.

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