Idealismus statt Materialismus
Der Gedankreis der "fortschrittlichen Reaktion"

Leseauzug aus "Stilkunst um 1900 von Richard Hamann und Jost Hermand" (Teil I)

07/2020

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Eine weitere Unterstützung erfuhren diese nationalen und rassischen Über­legenheitsgefühle durch die ständige Berufung auf den philosophischen „Ide­alismus", den man als ein geistiges Monopol des deutschen Volkes empfand. Während man in den achtziger und neunziger Jahren auf wissenschaftlichem Gebiet weitgehend einem materialistischen Positivismus gehuldigt hatte, be­rief man sich jetzt wieder auf die idealistisch klingende Phrase vom „Land der Dichter und Denker", um so an die Stelle des stoffgebundenen Spezialisten­tums eine intuitiv-erfühlte „Wesensschau" zu setzen. Auf diese Weise kam auch hier jener romantisch-utopische Antiliberalismus zum Durchbruch, der in den mechanisierenden Tendenzen der modernen Industriegesellschaft einen Sieg des materialistischen Zeitgeistes erblickt, dessen „entmenschende" Tendenz sich nur durch eine Regression in vorkapitalistische Phasen der Menschheitsgeschichte rückgängig machen läßt. Anstatt sich zu bemühen, die gegebene Situation von innen her zu überwinden, das heißt, die „mecha­nistischen Umklammerungen" des scheinbar allgewaltigen Industrialismus auseinanderzusprengen und der Technik einen rein instrumentalen Charakter zu geben, schwangen sich fast alle Kulturpolitiker und Philosophen dieser Ära mit überlegener Pose ins „Hochland der Gedankenwelt" auf, wie der Titel eines 1903 erschienenen Buches von Ludwig Kuhlenbeck heißt. Das Ergebnis dieser Schwenkung war meist ein geistiger Aristokratismus, der sich im Sinne Nietzsches zu einer idealistischen „Umwertung aller Werte" bekennt und dabei das Bild der „neuen Tafeln" verwendet, das bereits im „Zarathustra" eine entscheidende Rolle spielt. So verurteilte man in aller Schärfe sowohl das naturalistische als auch das impressionistische Weltbild, deren Skeptizismus und Relativismus man völkerpsychologisch aus dem französischen Esprit­begriff abzuleiten versuchte, und forderte statt dessen eine deutsche Geist­auffassung, die auf einer adligen Gesinnungstreue und unumstößlichen Wert­vorstellungen beruht. Um dieser These die nötige Durchschlagskraft zu geben, stellte man in besonders „deutschbewußten" Kreisen gern den Zirkel auf: germanisch gleich idealistisch, idealistisch gleich deutsch, deutsch gleich ger­manisch, wobei man den rassenbewußt-konservativen Menschen zu einem „Geistkämpfer" erhob, dessen Idealismus allen anderen Weltanschauungen überlegen sei. Die besten Beispiele dafür finden sich bei Chamberlain, Lanz oder List, bei denen diese Idealismusthese, wonach gerade der nordische Mensch über eine intuitive Wesensschau verfügt, während alle anderen Rassen nur mit einem mechanischen „Wissen" ausgestattet sind, einen unverhüllt ideologischen Charakter annimmt.

Etwas anders liegt der Fall bei den sogenannten „Geistaristokraten" wie Blüher, Horneffer oder den Anhängern des George-Kreises, wo das Bekennt­nis zum Idealismus, das heißt zu einer Dualität von empirischer und trans­zendenter Welt, meist zu einem „Tatmenschentum" gesteigert wird, das auf dem Prinzip der veredelnden Selbstbestimmung beruht und daher ins rein Spirituelle zu zielen scheint. Man ging dabei häufig von einer polemisch überspitzten Gegenüberstellung von Philosophie und Naturwissenschaft aus. So zog Berthold Vallentin im „Jahrbuch für die geistige Bewegung" (1910) in aller Schärfe gegen das „zersplitterte Weltbild" der strengen Objektivisten zu Felde und verlangte statt dessen eine von Leib und Seele inspirierte „über­schau", um wieder zu einem organischen Lebensempfinden zurückzukehren (I, 49). Mit ähnlichen Worten behauptete Ernst Horneffer 1909 in der „Tat": „Das Wissen als solches zerstückelt den Menschen, führt ihn aber nicht wieder zur Einheit" (I, 32). Leider blieb jedoch auch diese Perspektive oft im Ras­sischen oder Irrationalen befangen, anstatt zu einer echten Überwindung der allgemeinen Orientierungslosigkeit beizutragen. Man denke an Blüher, der den intuitiven „Einblick in die platonische Idee der Dinge" wiederholt als ein Merkmal der „primären Rasse" bezeichnete, während er der „sekundären Rasse" lediglich eine nichtssagende Verstandeserkenntnis zubilligte, wodurch der gerechtfertigte Protest gegen den positivistischen Vulgärmaterialismus sogar auf der Ebene des „philosophischen" Denkens eine Tendenz ins schick­salhaft Existentielle oder Blutsmäßige erhielt.

Solche Äußerungen haben wesentlich dazu beigetragen, in den realen Natur­gegebenheiten, die auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung beruhen, etwas geistig Minderwertiges zu erblicken, und damit zum Triumph der „Geistes­wissenschaften" über jede Form des historisch-soziologischen Denkens geführt. Anstatt von vorgegebenen Fakten auszugehen, wollte man wieder „synthe­tisch" denken, um so die rationale Bewältigung einer bestimmten Materie in einen schöpferischen Vorgang zu verwandeln, der sich über die engen Gren­zen der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit erhebt. An die Stelle des materialistischen Monismus der Haeckel-Schule trat daher ein geistiger Dua­lismus, der zu dramatischen Konfrontationen drängt, obwohl er meist auf geheimen Identitäten beruht. So setzte sich Karl Hoffmann in seinem „Tat"-Aufsatz „Die Wiederauferstehung des Geistes" (1909) für einen Idealismus ein, der sich als aktive „Lebensmacht" bewährt, um aus der bisherigen Kathe­derphilosophie wieder ein Organon aller Wissenschaften zu machen, das mit dem Anspruch des Gesetzgeberischen ausgestattet ist. Das gleiche gilt für das Buch „Philosophie" (1911) von Paul Natorp. Auch er versuchte, dem positivistischen Additionsprinzip, das sich mit der „Außenseite der Dinge, dem, was sich zählen, messen, wägen läßt", begnügt, ein konsequentes Ein-heitsstreben aller Wissenschaften entgegenzusetzen, für das es nur noch das „Absolute" oder das „All-Eine" gibt (S. 2).  Auf diese Weise entstand ein Kult des „Wesensmäßigen" und „Philosophischen", den Ernst Horneffer 1919 in folgenden Worten zusammenfaßte: „Philosophie" ist die „Bekrönung alles Geistigen", ist die „Einheit alles inneren Lebens, gleichsam das verkörperte Selbstbewußtsein des Menschen. Deshalb ist sie zur Führerin der gesamten Kultur berufen" (Tat I, 47).

Dieser Zug zur Vereinheitlichung der menschlichen Erkenntnis hatte not­wendigerweise eine ganz neue Einstellung zur „Wahrheit" im Gefolge. Wahr ist plötzlich nicht mehr das, was mit der Natur übereinstimmt, also empirisch nachzuprüfen ist, sondern was einem idealistischen Sollen entspringt und damit einen normativen und gesetzgebenden Charakter hat, wodurch selbst die reine Erkenntnis eine merkliche Wendung ins Ethische erfährt. Ebenso verwerflich empfand man die impressionistische Maxime: „Wahr ist, was ge­fällt", der lediglich das psychologische Prinzip von Lust oder Unlust zugrunde liegt. Anstatt weiterhin mit dem farbigen Abglanz, mit der „Lüge", zu koket­tieren, wie es in den neunziger Jahren Mode war, stellte man jetzt nur noch das als verpflichtend oder anerkennenswert hin, was im Moment der Erkenntnis zugleich eine ethische Wertung enthält. Mit fast mathematischer Klarheit läßt sich diese Verdrängung des einzelmenschlichen „Wollens" durch ein überindividuelles „Sollen" bei Heinrich Rickert verfolgen, der in den ersten Auflagen seines Buches „Der Gegenstand der Erkenntnis" (1892) noch dem impressionistischen Psychologismus verpflichtet ist, während er sich später zu einer erkenntnistheoretischen Ethisierung bekennt, die immer stärker in den Bereich der „absoluten" Werte vorzudringen versucht. Und doch stellt dieser Vorgang trotz aller scheinbaren Einschnitte nur eine Weiterbildung des impressionistischen Standpunktes „Wahr ist, was gefällt" dar, da selbst in dieser anspruchsvoll auftretenden „Wertphilosophie" nicht die Einzeldinge oder die Erfahrung das Entscheidende sind, sondern wiederum das Subjekt, wenn auch ein idealistisch-gesetztes Subjekt, nämlich das „Sollen". Damit tritt zwar an die Stelle der höchst persönlichen Lustempfindung ein allgemein­gültiger Wert, der die Wahrheit dem Zugriff der momentanen Laune entzieht und sie statt dessen einer gesetzmäßig regulierten Beurteilung, Bewertung oder Verwerfung gesetzter Werte unterwirft, jedoch das Prinzip der persönlichen Willkür nicht völlig auszuschalten versteht. Richtig ist, daß hinter allen Ur­teilen wieder ein allgemeines Sollen stehen soll, das sich auf ein bestimmtes Telos bezieht und damit für alle gilt, also jedem Urteilenden pragmatische oder sozial-verpflichtende Momente auferlegt. Verkehrt ist dagegen, daß man diese Wertbegriffe ins Idealistische verabsolutiert, sie aus einer transempirischen Wertskala abzuleiten versucht, anstatt die als „Wahrheit" proklamierten Urteile durch Vergleichen und Beziehen auf frühere Erkenntnisse zu realen Er­fahrungssymbolen zu machen, zumal die unumgängliche Kategorie der Gegebenheit, die den wirklichkeitsbezogenen Sektor aller Erkenntnisse um­schließt, dadurch allzu stark in den Hintergrund tritt. Von den meisten Wert­philosophen dieser Jahre wurde daher nur das hervorgehoben, was für das Erkennen vom theoretischen Standpunkt der Zwecksetzung notwendig ist und in diesem das Überindividuelle und Allgemeingültige enthält. Auf diese Weise landeten sie entweder bei einem sinnentleerten Formalismus, der die Frage „Was zu tun?" völlig übergeht, oder gerieten in den Sog einer „ide­alistischen" Ethisierung, die sie zu immer kühneren, immer gefährlicheren Wertsetzungen verführte.

Die spezifisch „formalistischen" Bestrebungen zeigen sich am deutlichsten im Marburger Neukantianismus, wo man den an sich inhaltslosen Begriff der „Reinheit" zum obersten philosophischen Prinzip erhob. Während der Impres­sionismus bewußt unsystematisch, das heißt im logischen Sinne „unrein" zu philosophieren versuchte, was sowohl in Ernst Machs „Analyse der Emp­findungen" (1886) als auch in der „Philosophie des Geldes" (1900) von Georg Simmel zum Ausdruck kommt, bemüht man sich jetzt um eine philosophische Beweisführung, die fast den Charakter einer durchgehenden Mathematisie-rung erweckt. Überall tritt mit einem Male wieder die Deduktion in ihre Rechte ein, verfährt man mit der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar, das heißt als kategorielle Gegebenheit, wie es Heinrich Rickert formulierte, sondern lei­tet sie aus Begriffen ab, die etwas Supraempirisches haben, da man sich von vornherein auf den platonisch-systematischen Zusammenhang aller Dinge beschränkte. Die Grundlage dieser deduktiven Beweisführung war eine Vor­liebe für das Konstruktive, die zu einer auffälligen Bevorzugung des Zeich­nerischen und Linearen führte, während man die farbigen Schattierungen des Denkens, in denen sich das Individuelle zu erkennen gibt, weitgehend übersah. Eine solche Gesinnung, die keinen Blick für das empirisch Besondere hat, mußte notwendig ins Formalistische entarten. Immer wieder bewegte man sich lediglich im Rahmen bereits anerkannter Begriffe, die man im Sinne einet ungegenständlichen Mathematisierung in dekorative Denkfiguren um­wandelte. Wohl am schärfsten zeigt sich dieser Vorgang in der Logik, die einen rein „instrumentalen" Charakter erhielt. So wurden alle psychologischen, empirischen oder relativistischen Elemente, mit denen Theodor Ziehen und Theodor Lipps die ältere Logik „modernisiert" hatten, durch einen Phäno-menologen wie Ernst Husserl wieder aus dem philosophischen Denken aus­geschieden. Gerade bei ihm zeigt sich besonders deutlich, wie sehr man sich bemühte, den gesamten Komplex der philosophischen Begrifflichkeit auf eine abstrakt-logische Ebene zu transponieren, um sich nicht der Gefahr „sub­jektiver" Fehlerquellen auszusetzen. Das denkerische Motto dieser Richtung war daher „Logik statt Psychologie", da man im Gegensatz zum impres­sionistischen Relativismus nur solche „Erkenntnisse" heranzog, denen ein genau zu definierender Ewigkeitswert zugrunde liegt. Aus dem Phänomen des Logischen wurde so ein Formprinzip, das über das Philosophisch-Ab­strakte hinaus etwas „Wesenhaftes" enthält, da es wie die „Wahrheit" auf einem gesetzten Sollen beruht und deshalb jenseits aller spezifisch subjektiven Erkenntnismöglichkeiten steht. Während sich Lipps noch darauf beschränkt hatte, die jeweils auftauchenden Begriffe aus rein psychischen Prozessen zu erklären, die sich nicht aus einem normativen Sollen, sondern nur aus einem einzelpersönlichen Wollen ableiten lassen, geht man jetzt rein apriorisch vor, das heißt bemüht sich stets um das Grundsätzliche, Allgemeine, von der Psy­chologie Unabhängige, was groß in den Absichten, aber leer im Endeffekt wirkt, da sich durch diese abstrakte Methodik das Logische allmählich ver­absolutiert und in einen Panmethodismus entartet, der in seiner verknüpfen­den Motivation fast etwas Kunstgewerbliches hat.

Doch neben diesem abstrakten Logismus, der in seiner Definierlust das philo­sophisch Durchdachte oft zu inhaltslosen Denkornamenten verwandelt, drängte nach 1900 auch die „aktivistische" Richtung dieses wertesetzenden Neu­idealismus in den Vordergrund, die in ihrer ethischen Grundhaltung deutlich zum Pädagogischen tendierte. Das entscheidende Element dieser Richtung be­stand darin, daß die Ideen nicht als wirklich existent vorgestellt werden, son­dern als eine überindividuelle Verpflichtung erscheinen. Wie so oft in diesen Jahren verfiel man dabei aus einem Extrem ins andere, indem man die Enge der Empirie mit der dünnen Luft der Spekulation vertauschte. So schrieb Paul Natorp in seinem Buch „Piatos Ideenlehre" (1903): „Es ist das Ver­ständnis des Idealismus, welches unserem Zeitalter, man muß es sagen, so gut wie abhanden gekommen ist, und welches ihm wiederzuerringen, wie ich mit wenigen glaube, eine absolute Notwendigkeit ist" (S. IV). Wie alle diese Idealisten betonte er dabei ausdrücklich, daß schon bei Plato ihm die Ideen nicht als Dinge, sondern als Gesetze erscheinen, also einem bestimmten Sollen entsprechen. Fast noch wichtiger als dieser Plato-Kult, obwohl indirekt mit ihm verbunden, war der Neukantianismus dieser Jahre, dessen innere Aus­richtung bereits in der gründerzeitlichen Kant-Renaissance zum Ausdruck kommt. Man denke an die Schriften von Hermann Cohen, der 1871 mit dem Buch „Kants Theorie der Erfahrung" begann und 1904 eine „Ethik des reinen Willens" veröffentlichte. Was sich bei ihm noch auf rein abstrakter Ebene bewegte, erfuhr bei Paul Natorp, dem Jüngeren und Aktiveren, bereits eine deutliche Wendung ins Erzieherische und Nationalpädagogische. Hier ertönte zum ersten Mal jenes „Empor zu Kant", das schnell zu einem Schlagwort des vulgären Antimaterialismus wurde. So stellte Karl Vorländer in seinem Buch „Kant als Deutscher" (1919) den Königsberger Philosophen als den großen Erzieher zum Deutschtum hin, betonte sein „blondes Haar" und seine „ger­manische Schädelbildung" (S. 5) und rühmte als Haupteigenschaften seines Wesens „Wahrhaftigkeit", „Sittlichkeit" und „Männlichkeit", um ein mög­lichst „ehernes" Standbild eines deutschen Idealisten aufzurichten. Andere versuchten, Kant mit dem „glutvollen Atem" Nietzsches zu durchglühen, um selbst seinen abstrakten Spekulationen eine Wendung ins Aggressive und raub­tierhaft Imperialistische zu geben. Als einer der streitbarsten Kantianer erwies sich dabei Friedrich Paulsen, der in seiner „Philosophia militans" (1900) den Kantschen Idealismus sowohl gegen klerikale als auch gegen monistisch­materialistische Angriffe verteidigte. Konsequenterweise entwickelte sich aus diesem Neukantianismus auch ein Neuhegelianismus, was Bücher wie „Die Erneuerung des Hegelianismus" (1910) von Wilhelm Windelband, „Die Jugendgeschichte Hegels" (1905) von Wilhelm Dilthey oder „Relativer und absoluter Idealismus" (1910) von Julius Ebbinghaus beweisen, in denen Hegel entweder rein „lebensphilosophisch" oder in einem abstrakten Sinne als Voll­ender Kants gedeutet wird. In dieselbe Richtung weisen die Studien „Hinauf zum Idealismus" (1908) von Otto Braun, der sich für eine Schelling-Renais-sance einzusetzen versuchte, um auch dem „romantischen" Aspekt des deut­schen Idealismus einen neuen Kurswert zu geben.

Noch erfolgreicher als diese Erneuerungsbestrebungen war jedoch der Neufichteanismus, da sich hier das Nationalpädagogische in einem ganz an­deren Sinne „aktivieren" ließ als bei Kant oder Hegel. Vor allem seine „Reden an die deutsche Nation" traten in diesen Jahren einen Siegeszug an, der sich nur mit den Triumphen von Lagarde, Langbehn und ähnlichen „völkischen" Autoren vergleichen läßt. In ihm hatte man endlich einen „Mann der Tat" gefunden, der als streitbarer Idealist in das nationale Schicksal eingegriffen hatte, anstatt sich mit einer gelehrten Kathederphilosophie zu begnügen. Seine Biographie verwandelte sich daher bald in eine nationale Heldenlegende, durch die Fichte zum idealen Vertreter deutscher Männlichkeit und geistigen Wider­part der „westlichen" Krämergesinnung erhoben wurde. So kam es bei Aus­bruch des Krieges bezeichnenderweise zur Gründung einer „Fichte-Gesell­schaft von 1914", die ihn als den entscheidenden Vorkämpfer gegen den inter­nationalen Liberalismus, als Streiter für eine weltweite Kulturmission des deutschen Volkes zu popularisieren versuchte. Am fanatischsten gebärdete sich dabei die Gruppe um die Zeitschrift „Die Tat", die Eugen Diederichs 1912 von den Gebrüdern Horneffer übernommen hatte, in der Fichte allen welt­bürgerlich-pazifistischen „Schwärmern" als der heroische Tatmensch entgegen­gehalten wurde, der siegt oder untergeht, wobei man den Geist der Befrei­ungskriege ohne weiteres mit dem Kriegsidealismus von 1914 identifizierte, um den imperialistischen Streit um wirtschaftliche Interessengebiete in einen Aufstand des deutschen Volksgeistes gegen den „westlich-demokratischen Materialismus" umzuinterpretieren. Kein Wunder, daß man gerade Jena, die Stadt Schillers und Fichtes, der deutschen Romantik, der Burschenschafts­bewegung, der neuidealistischen Wertphilosophie eines Eucken und des Eugen Diederichs Verlages, zur Hochburg des völkischen Gedankens erhob. So pries Eugen Diederichs in seinen Aufsätzen, Briefen und Verlagsprospekten Fichte als den „Deutschesten aller Deutschen", der es verstanden habe, sich von den Wirkungsfaktoren des sinnlichen Lebens in eine Welt der Ideen empor­zuschwingen, um dem empirischen Leben mit einem geistig-reformierenden Anspruch entgegenzutreten. Wie er müsse man die Welt nicht in der Perspek­tive eines „ästhetisierenden Besserwissens", sondern von der Idee aus be­trachten, wie er in einem seiner „Tat"-Aufsätze schreibt (1914 V, 987).

Einer der wichtigsten Philosophen im Gefolge dieses Neufichteanismus war Hugo Münsterberg, der sich im Vorwort seiner „Philosophie der Werte" (1908) ausdrücklich auf den Fichteschen Idealismus als die alleinige Basis einer neuen Gesinnungsethik berief. Dem Siegeszug der Naturwissenschaften, das heißt dem Triumph der mechanischen Kausalität, wird hier eine „Weltanschau­ung" entgegengesetzt, die weniger in den empirischen Gegebenheiten als in Begriffen wie „Einheit", „Sinn" und „Bedeutung" die entscheidenden Fak­toren des menschlichen Daseins erblickt (S. V). Er schrieb daher apodiktisch: „Das, was unserem Philosophieren heute fehlt, ist ein in sich geschlossenes System der reinen Werte; erst dann kann die Philosophie auch wieder aufs neue zur wirklichen Lebensmacht werden, wie es zu lange ausschließlich die Naturwissenschaft gewesen ist" (S. V). Unter einem solchen „System" stellte er sich eine Durchdringung des gesamten menschlichen Denkens mit ethischen Postulaten vor, um so die Natur, das heißt den Bereich der „grundsätzlich wertfreien Dinge", aus der Philosophie zu verbannen (S. 9). Dafür sprechen folgende Sätze: „Zweifache Einsicht haben wir gewonnen: erstens, das Kau­salsystem der Natur kennt keine absoluten Werte ... zweitens, das Zweck­system der Individuen kennt keine absoluten Werte, weil die Beziehung auf individuelle Persönlichkeiten stets nur zu bedingten Werten führen kann. Die unbedingten allgemeingültigen Werte der Welt sind somit weder physi­kalisch-psychologische Inhalte noch historisch entstandene Satzungen; sie müssen zum überkausalen und zum überindividuellen tiefsten Wesen der Welt gehören" (S. 39). Münsterberg huldigte daher wie alle Wertphilosophen der Überzeugung, daß der Begriff des Seins stets auf den Begriff des Sollens zu­rückgeführt werden müsse, um im philosophischen Sinne „rein" zu bleiben: „Der Wille, der das Wirklichkeitsurteil bejaht, ist nicht durch ein Seiendes bestimmt, sondern durch ein Sollen, das über Wert und Unwert entscheidet. Das gesollte Urteil ist das wertvolle, und das bedeutet: das wahre Urteil. Solch Sollen haftet nicht an einem seienden Subjekt, sondern gehört als tiefste, die Erfahrung erst ermöglichende Wesenheit zum wollenden Subjekt. Wer seinen Eigenwillen dem absoluten Sollen unterordnet, indem er bejaht, was sich mit dem Gefühl der Urteilsnotwendigkeit darbietet, nur der nimmt an der Er­kenntnis der Wirklichkeit teil" (S. 48). Aus diesem Grunde faßte er ein umfas­sendes System aller „reinen", das heißt „absoluten" Werte ins Auge, um so „Leistungswerte" zu schaffen, an denen sich jeder sittlich-ringende Mensch in seinen ethischen Entscheidungen orientieren kann. Das „aufblitzende Einzelerlebnis, das als solches nicht überindividuellen, nicht einmal übermomen­tanen Erkenntniswert" besitzt (S. 32), wird deshalb durch Wertvorstellungen verdrängt, die sich weder psychologisch noch solipsistisch relativieren lassen. Denn auf diese Weise tritt an die Stelle der amorphen Beeindruckbarkeit, wie sie für den Impressionismus maßgeblich war, eine Willensethik, deren Satzun­gen und Gebote in ihrer absoluten Verbindlichkeit fast einen religiösen Charak­ter haben. Nicht Wissenschaftlichkeit ist hier das Entscheidende, sondern Weis­heit, Offenbarung und Intuition, das heißt „Wertprinzipien", in denen jeder Gleichgesinnte einen geistigen Halt finden kann. Eine ähnliche Einstellung herrscht in den Schriften des späten Heinrich Rickert, vor allem in seiner „Philosophie des Lebens" (1920), in der er die impressionistische Empfindungs­philosophie der absoluten Prinzipienlosigkeit bezichtigt, da sie keinerlei „sy­stematische" Züge enthalte. Um nicht bei einem relativistischen Psychologis­mus zu landen, der alles auf das momentan-empfindende Subjekt bezieht, for­derte auch er eine konsequente „Weiterbildung des in der Philosophie des deutschen Idealismus Begonnenen" (S. 34). Die gleiche Wendung ins Idea­listische zeigt sich in den letzten Auflagen seines Buches „Der Gegenstand der Erkenntnis", wo er das psychologische Prinzip von Lust und Unlust, dem er anfänglich selbst gehuldigt hatte, durch eine Transzendenz des Wollens ersetzt, um so wie Münsterberg zu einer „Philosophie der Werte" vorzu­dringen, der ein entschlußfreudiger Tatidealismus zugrunde liegt. Eng ver­wandt damit sind die „Grundlinien einer neuen Weltanschauung" (1907) des Jenenser Philosophen Rudolf Eucken, deren Gesinnungsethik auf einer Wert­skala beruht, die sich ganz deutlich an den Fichteschen Idealismus anzuschlie­ßen versucht.

Richard Hamann / Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 4, München 1973, S. 77-84

Zum Teil 2 und Teil 3 (Schluss)