Idealismus statt Materialismus
Der Gedankreis der "fortschrittlichen Reaktion"

Leseauszug aus "Stilkunst um 1900 von Richard Hamann und Jost Hermand" (Teil 2)

08/2020

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Zu den wichtigsten Veränderungen, die mit dieser Wendung zu einem „Ak­tivismus der Werte" verbunden sind, gehört die völlig neue Einstellung dem Philosophen gegenüber. Hatte man bisher den entsagungsbereiten Positivisten als vorbildlich empfunden, so begeistert man sich jetzt für den anspruchs­vollen Erzieher oder nationalen Streiter, den herrscherlichen, ja königlichen Philosophen, der sich Gestalten wie Fichte oder Nietzsche zum Vorbild nimmt. Das geistige Leitbild dieser Generation war daher nicht der Lehrer, sondern der Führer, der Meister oder Selbstdenker, der im Sinne der indischen Guru außerhalb der staatlichen oder kirchlichen Beamtung steht und rein durch das Faszinans seiner Persönlichkeit zu wirken versucht. Auf Grund dieser Vor­stellung bildete sich das Motto vom „Adel des Geistes", bei der das Wort „geistig" weniger den Charakter des Intellektuellen als des „charismatisch Begnadeten" hat. Den feudalistischen Junkerkreisen und der Hochfinanz wurde deshalb ständig der vom Logos spermatikos besessene „geistige Adelsmensch' entgegengestellt, der sich von den wilhelminischen Führungsschichten schärf-stens distanziert und lediglich in zarathustrischen Höhenregionen zu schweben scheint. Auch hier finden sich die besten Beispiele bei den „Tat"-Autoren. So schrieb Ernst HornefTer in seinem Aufsatz „Der Kaiser und die Nation" (1909): „Es geht ein lebensdurstiger Zug durch die heutige Philosophie. Sie ist des trockenen Tones satt. ,Wenn nicht die Philosophen Könige werden, oder die Könige sich aufrichtig der Philosophie ergeben, dann wird des Elendes im menschlichen Geschlecht kein Ende sein — dies Wort Piatons liegt ihren anspruchsvolleren Jüngern wieder in den Ohren" (I, 48). An an­derer Stelle behauptete er mit einem Hinweis auf Nietzsche: „,Werte schaffen!' gab er als Losung und Aufgabe der künftigen Philosophie aus. Für uns Nach­fahren versteht sich diese Auffassung der Philosophie von selbst. Wir können sie uns gar nicht mehr anders denken als wirksam, als richtunggebend, als erziehend" (S. 48). Ähnliche Worte fallen in dem Aufsatz „Das alte König­tum und der neue Adel" (1909) von Paul Schulze-Berghof, in dem die „bür­gerliche Intelligenz Jung-Deutschlands", die „neuzeitlichen Edelmenschen", weit höher eingestuft werden als die Vertreter der aristokratischen Tradition (I, 121). Nicht der feudale „Schwertadel", sondern die „Hüter und Pfleger des Weistums" müßten nach seiner Meinung die tonangebenden Schichten im Staate sein (S. 121). Dieselbe Zielsetzung findet sich in dem Aufsatz „Sozial­aristokratie" (1912) von Friedrich Alafberg, der zu einer „Organisation der Intelligenz" gegen die „organisierten Massen und die kapitalistischen Trusts" aufruft (IV, 174). Es heißt dort: „Nicht die Reichen und nicht die Vielen sollten das Wohl der Gesamtheit in den Händen haben, sondern die sich aus eigener Kraft zu den Ersten im Reiche des Geistes gemacht" (S. 173). Man liest daher überall von Vorschlägen, ein erlesenes Philosophengremium mit der Füh­rung des Staates zu beauftragen, eine philosophische Akademie oder einen „Rat der Dreißig" zu gründen, um Deutschland aus den Klauen des „liberalen" Parlamentarismus zu reißen. So veröffentlichte Hans Blüher eine Schrift über die „Wiedergeburt der platonischen Akademie" (1920), um allen wahrhaft „Geistigen", die auf den bürgerlich-philisterhaften Universitäten notwendig verkümmerten, einen neuen Wirkungsraum zu schaffen. Was er verlangte, waren keine „geistigen Warenhäuser, in denen man für gutes Geld eine ent­sprechend gute Ware" kaufen könne (S. 22), sondern Zuchtstätten des Geistes, beherrscht von Philosophen mit angeborener Überlegenheit und aristokra­tischem Führungsanspruch. Aus diesem Grunde lobte er Erziehergestalten wie Gustav Wyneken, die sich in allen geistigen Dingen um „Entscheidungen von möglichster Härte" bemühten, wie es in seinen „Gesammelten Aufsätzen" (1919) heißt (S. 30). Noch deutlicher kommt dieser Gedanke in Blühers Schrift „Die Intellektuellen und die Geistigen" (1916) zum Ausdruck, wo er den herr­schenden Kathederphilosophen, die „die aufregendsten Fragen des Menschen­tums kühl und regungslos, ohne Berufsstörung und ohne schädliche Neben­wirkungen" behandelten (S. 12), das Bild des „Geistigen" entgegenstellte, der sich aus dem „Schutt der Zivilisation" zu den Höhen der Ideenwelt er­hebt und dort einer visionären „Bilderschau" huldigt. Ähnlich lapidar äußerte sich Hermann Burte in seinem „Wiltfeber" (1912) zu diesem Problem: „Die Geistigen müssen herrschen und das Volk muß gehorchen" (S. 181), wobei ihm als Endziel eine „Partei des deutschen Geistes" vorschwebte, die auf einer idealistisch-gesetzten Mittelstandsbasis beruht. Auf Grund dieser Thesen kämpften alle diese „Geistaristokraten" für Gemeinschaftsideale, die von Anfang an einem diktatorischen Subjektivismus unterworfen sind. Georges Zeilen „Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und kröne!" (VIII, 85) wurden daher von diesen Schichten rein führerhaft oder herrscherlich ver­standen. Das gleiche gilt für die berühmte Maxime im „Teppich des Lebens" (1900): „Ich will! ihr sollt!" (V, 22), worin dieser cäsarische Führungsanspruch, der sich am Leitbild des zur Herrschaft berufenen „Geistesmenschen" orien­tiert, in die knappste Formel zusammengefaßt wird.

Wohl die unmittelbarste Auswirkung dieser „Sollensethik" ist das steigende Interesse an pädagogischen Fragen, das um die Jahrhundertwende zu einer Sturmflut von annähernd 400 pädagogischen Zeitschriften und Zeitungen führte. Der entscheidende Impuls ging auch hier von der Frontstellung gegen einen vulgär aufgefaßten „Materialismus" aus. Anstatt weiterhin an der Deter-miniertheit des Menschen durch Masse und Milieu festzuhalten oder die Ver­schiedenartigkeit der menschlichen Verhaltensweisen psychologisch zu relati­vieren, wie es im positivistisch-machistischen Denken der achtziger Jahre üblich war, glaubte man wieder an die sittliche Entscheidungsfreiheit und damit Erziehbarkeit des Einzelmenschen. An die Stelle der bloßen Belehrung oder Wissensvermittlung trat daher auch auf pädagogischem Gebiet ein Idealismus des Sollens, der unter Erziehung lediglich die Bindung an eine leitende Idee versteht. Wie in allen Richtungen dieser idealistischen Wert­bewegung versuchte man sich selbst in diesem Punkt über die gegebene Situ­ation einfach hinwegzusetzen und die auftretenden Mißstände durch einen Appell an den „guten Willen" zu überwinden. Die meisten gingen dabei von dem verlockenden Zugeständnis aus, den Vorzug der Bildung nicht mehr als bürgerliches Klassenprivileg zu betrachten, das bloß der persönlichen Ver­vollkommnung der wohlhabenden Schichten dient, sondern bemühten sich, auch die ungebildeten Schichten wieder in den Rahmen eines idealistisch­postulierten „Wertgefüges" zu stellen. Auf diese Weise entwickelte sich eine „Sozialpädagogik", die gerade in ihren Bemühungen um eine Vertiefung des nationalen Empfindens zu einer weitgehenden Verschleierung der gesell­schaftlichen Gegensätze führte. So gab es viele „Volkserzieher", die sich mit bürgerlichem Geltungsdrang gegen die Sonderstellung der aristokratischen und großindustriellen Kreise wandten und statt dessen eine Nationalerziehung forderten, die das ganze Volk als eine untrennbare Einheit umgreift und so zu einer geistigen Gleichberechtigung beiträgt. Doch in Wirklichkeit hat auch diese Richtung trotz mancher noblen Absichten einen leicht präfaschistischen Akzent, da sie die Aufhebung der Klassengegensätze meist in einem „völ­kischen" und nicht in einem freiheitlich-demokratischen Sinne versteht. Das zeigt sich besonders in der Haltung den Arbeitern gegenüber, wo man immer wieder der demagogischen Phrase begegnet, daß sich auch die „Werktätigen" in das Volksganze einzuordnen hätten, was an die gleisnerischen Worte Wil­helms II. erinnert: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deut­sche!" Neben die sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereine, in denen eine wichtige Aufklärungsarbeit geleistet wurde, trat daher in verstärktem Maße eine Volksbildung mit staatsbürgerlich-völkischer Tendenz, die der innenpolitischen Gespaltenheit durch die Erweckung eines nationalen Zu­sammengehörigkeitsgefühls entgegenzuarbeiten versuchte. Besonders aktiv in dieser Hinsicht war der Kreis um die „Tat", der sich mit allen Mitteln dafür einsetzte, dem Arbeiter völkische Ideale einzuimpfen, um ihn aus dem poli­tischen Tageskampf zu ziehen. So schrieb Else Hildebrandt in ihrem Aufsatz „Arbeiterbildungsfragen im zukünftigen Deutschland" (1916): „Wahre Bil­dung, die wir vermitteln wollen, muß über der Politik stehen. Besonders die Arbeiterbevölkerung muß dies begreifen lernen. Sie ist es gewöhnt, vom poli­tischen Gesichtspunkt alle Dinge zu betrachten, und muß lernen, den Menschen über den Parteipolitiker zu stellen" (S. 5). Das gleiche gilt für Aufsätze wie „Der Arbeiter und die Antike" (1914) von August Marx und „Nationale staatsbürgerliche Erziehung" (1910) von Karl Hesse oder Bücher wie „Die neue Erziehung" (1902) von Heinrich Pudor und „Schule und soziale Er­ziehung" (1912) von Karl Muthesius, in denen unter Erziehung lediglich eine Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins mit leicht „alldeutscher" Akzent­setzung verstanden wird.

Neben dieser sozialpädagogischen Bewegung entwickelte sich in denselben Jahren eine „humanistische" Richtung, die zwar auch zum Volkhaft-Irrationalen tendiert, sich jedoch in ihrem Wortschatz mehr im Rahmen des „Allgemein-Menschlichen" bewegt. Man denke an Pädagogen wie Paul Natorp, Herman Nohl oder Eduard Spranger, die sich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zu einer „neudeutschen" Weiterentwicklung des goethezeitlichen Idealismus bekannten. So stellte Natorp bereits 1899 in seiner „Sozialpädagogik" eine „Theorie der Willenserziehung auf gemeinschaftlicher Grundlage" auf, bei der die Bildung rein als überpersönliches Sollen aufgefaßt wird. Er berief sich dabei auf die sozialphilosophische Grundlage der Pestalozzischen Er­ziehungslehren, wonach die Entfremdung der Menschen untereinander nur in einem „Reich verwirklichter Ideen" aufgehoben werden könne. Aus der Fülle seiner Schriften seien hier lediglich „Volkskultur und Persönlichkeits­kultur" (1911), „Philosophie und Pädagogik" (1909), „Der Idealismus Pesta­lozzis" (1919) und „Sozialidealismus" (1920) erwähnt, in denen ein lebens­starker Idealismus gepredigt wird, der die nationalen Erziehungsprobleme im Sinne Fichtes „sozialidealistisch" zu lösen versucht. Auch die „Pädagogi­schen und politischen Aufsätze" (1919) von Herman Nohl stehen ganz im Zeichen Fichtes und Pestalozzis. Immer wieder betonte er die Absicht, den zu erziehenden Menschen zu einer geistigen Autonomie anzuregen und ihn zugleich mit einer überindividuellen Sollensethik vertraut zu machen. Eduard Spranger orientierte sich dagegen mehr an Wilhelm von Humboldt. Doch auch bei ihm läßt sich mit den Jahren eine Verschiebung ins Nationalpädagogische beobachten. Während er in seinem „Humboldt" (1909) noch für eine ästhetische Vollendung im Sinne Schillers und des hellenischen Ideals der Kalokagathie eintrat, die er mit einem aristokratisch gefärbten Persönlichkeitsgefühl ver­band, zeigt sich in seinem Buch „Das humanistische und politische Bildungs­ideal im heutigen Deutschland" (1916) eine deutliche Wendung ins Vater­ländische. Hier wird nicht mehr das „Ethos der Freiheit", sondern das „Ethos der Kollektivverantwortlichkeit" als höchster Wert proklamiert (S. 19), da sich der „hellenische" Geist auch unter Waffen bewähren müsse, was an die „weltmissionarischen" Tendenzen in Büchern wie „Deutschland als Welter­zieher" (1915) von Joseph August Lux gemahnt.

Zu den wichtigsten Konsequenzen dieser pädagogischen Neubesinnung gehört der Gedanke einer allgemeinen Schul- und Universitätsreform, die sich den „stolzen" Geist der Griechen zum Vorbild nimmt, wie es in dem Buch „Das klassische Ideal" (1906) von Ernst und August HornefTer heißt (S. 238). Überall sehnt man sich nach „Geisteshelden", denen es mehr um das Erziehen als um das Forschen geht. So schrieb Eduard Wechßler in seinem Buch „Esprit und Geist" (1927): „Der Professor sollte wieder ein Bekenner werden", in dessen Worten ein furor paedagogicus glüht (S. IX). Ähnliche Äußerungen finden sich in den „Tat"-Aufsätzen „Aufgaben der Universitätsphilosophie" (1909) von Johannes Maria Verweyen und „Universitätsreform" (1914) von Ludwig Curtius, die dem „individualistischen Eudämonismus" der neunziger Jahre eine neue Gesinnungsethik entgegenstellten (VI, 126). Um endlich den Theoretiker durch den Praktiker, den Kleinlichkeitskrämer durch den Er­zieher zu ersetzen, forderte man in diesen Kreisen eine konsequente Abwen­dung vom historischen Ballast der Vergangenheit. Hatte bisher das Inter­pretieren als das Höchste gegolten, so ist jetzt viel vom „Verändern" oder „Umgestalten" die Rede. Doch auch dieses Programm führte bloß zu einem theoretischen Appell, der nicht nur an der massiven Einheitsfront der Tra­dition, sondern auch an der mangelnden Ausreifung und Unklarheit dieses Idealismus scheiterte.

Fast noch wichtiger als der Gedanke der Universitätsreform war die Idee einer allgemeinen deutschen Einheitsschule. Dafür sprechen der „Tat"-Aufsatz „Die Einheitsschule" (1914) von Aloys Fischer oder Bücher wie „Die natio­nale Einheitsschule" (1913) von Wilhelm Rein und „Ein Volk, eine Schule" (1919) von Johannes Tews, die sich scharf gegen die bisherigen Bildungs­privilegien richten und sich von der gemeinsamen Erziehung aller Kinder eine wesentliche Vertiefung des nationalen Kulturbewußtseins erhoffen. Bereits ins Völkische tendiert das Buch „Die deutsche Schule der Zukunft" (1917) von Artur Buchenau, wo unter Berufung auf Fichte und Humboldt eine „National­humanität" beschworen wird, die auf einer planmäßigen Durchorganisierung des gesamten Volkskörpers beruht (S. 8). Wohl der bekannteste Theoretiker dieser pädagogischen Reformbewegung war Georg Kerschensteiner, der in seinem Buch „Das einheitliche deutsche Schulsystem" (1916) eine völlige Um­gestaltung des bestehenden Schulwesens forderte. Auch er trat für den Fort­fall aller bisherigen Bildungsprivilegien in Form von Sonderschulen oder Mädchenpensionaten ein und propagierte eine nationale Gemeinschafts­erziehung, deren Ziel nicht das bürgerliche Individuum, sondern der verant­wortungsbewußte „Staatsbürger" ist. Er schlug daher vor, alle Volks- und Oberschulen aus „Stätten individuellen Ehrgeizes" in „Stätten sozialer Hin­gabe" zu verwandeln (2. Aufl., S. VIII), da sich ein „nationaler Gemeingeist" bloß auf der Basis der absoluten Gleichberechtigung erreichen lasse (S. 123). Eine solche Umerziehung des gesamten Volkes sei nur dann möglich, wenn man die bisherige Buch- und Lernschule durch eine Arbeitsschule ersetze, in der die zukünftigen „Volksgenossen" auf dem Weg über die „gemeinsame praktische Arbeit" zu einer „ethisch-sozialen Gesinnung" erzogen werden (S. 214). Wie alle Vertreter dieser neuidealistischen Wertbewegung legte er deshalb den Hauptnachdruck nicht auf das bloße Sachwissen, die sogenannten Realien, sondern auf bestimmte Wertvorstellungen, die im sittlich Absoluten verankert sind. Pädagogik war für ihn ein „Weckruf des Sollens" (S. 193), dessen oberstes Ziel eine fortschreitende Ethisierung der gesamten Staats­gemeinschaft ist. Die ersten Hinweise zu diesem Programm finden sich in seinem Buch „Der Begriff der Arbeitsschule" (1912), in dem er für eine „Selbst­tätigkeitsschule" eintritt, bei der weniger die Schulung des Intellekts als das produktive „Nutzbarmachen" im Vordergrund steht. Sein pädagogisches Ideal waren daher „Arbeitsgemeinschaften", bei denen sich jeder einem „allge­mein anerkannten Zweck" unterordnen muß (4. Aufl., S. 9), um bereits auf der Schule die sittliche Verpflichtung seiner späteren Berufsarbeit zu erkennen. Aus diesem Grunde setzte er sich wiederholt für die Errichtung von Werk­stätten, Gärten, Schulküchen, Nähstuben und Laboratorien ein, wo man mit einem „Minimum von Wissenschaft ein Maximum von Fertigkeiten" im „Dienste staatsbürgerlicher Gesinnung" erlernt (S. 94). Was man bisher unter Schule verstand, wird so zu einer staatlich reglementierten Erziehungsanstalt, bei der das Schlagwort „Humanismus" nur noch eine ideologische Verbrä­mung ist. Man findet daher in seinen Schriften neben dem aktivistischen Elan, für eine „Idee" zu arbeiten (S. 51), auch ein „Einheitsstreben", das mehr an die faschistische Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" erinnert und später von den Nationalsozialisten in diesem Sinne ausgenutzt wurde. Während Kerschensteiner weitgehend Theoretiker blieb, versuchte Hermann Lietz, ein Sohn niedersächsischer Bauern und zugleich begeisterter Fichte-Schwärmer, wenigstens einen Teil dieser Ideen in die Praxis zu übertragen. Nachdem er in Jena bei Eucken promoviert hatte, gründete er 1898 mit idealistischem Enthusiasmus, aber kärglichen Mitteln auf dem Gutshof Ilsenburg im Harz das erste deutsche „Landerziehungsheim", dem 1901 der Gutshof Haubinda im Thüringer Wald für die Mittelstufe und 1904 als Krönung des Ganzen die Burg Bieberstein in der Rhön für die Oberstufe folg­ten. Wie bei Natorp und Kerschensteiner stand auch bei ihm der Gedanke der „Nationalpädagogik" im Vordergrund. Statt Kenntnisse zu vermitteln, wollte er seine Schüler zu einem sozial-ethischen Verhalten anleiten, dem eine ver­antwortungsbewußte „staatsbürgerliche" Gesinnung zugrunde liegt. Er schrieb daher in seinem Buch „Die deutsche Nationalschule" (1911): „Der Hauptzweck der Schule ist Charakterbildung, Erziehung und Entwicklung der religiös­sittlichen Anlagen, der körperlichen und geistigen Kräfte, Vorbereitung auf den Beruf eines deutschen Staatsbürgers, Arbeit an der Weiterentwicklung wertvoller nationaler Kultur, nicht aber Einprägung von Kenntnissen und Beibringung von Fertigkeiten" (2. Aufl., S. 88). Aus diesem Grunde versuchte er, das „erschlaffende" Buchwissen der städtischen Gymriasien durch eine leib­seelische „Ertüchtigung" zu ersetzen, die auch das Sportliche und Bäuerliche nicht verschmäht. Als pädagogisches Fernziel schwebte ihm dabei eine Ver­bindung von Goethes „pädagogischer Provinz" und Fichtes „geschlossenem Handelsstaat" vor, wie er in seiner Schrift „Deutsche Landerziehungsheime" (1910) behauptet. Doch wie viele dieser „Geistidealisten" geriet auch Lietz im Laufe der Jahre immer stärker ins Fahrwasser der „Völkischen", wodurch sein pädagogisches Einheitsstreben in steigendem Maße präfaschistische Züge bekam. So heißt es in seinen „Lebenserinnerungen" (1920), daß er wie sein Vorbild Lagarde stets danach gestrebt habe, „die Arbeitermassen im Sinn des freien Christentums, im Geist des ethischen Idealismus eines Fichte zu beeinflussen, sie aus der atheistisch-materialistischen sowie antinationalen Richtung herauszureißen" (S. 85), um sie als sinnvollen, aber dienenden Be­standteil in die „völkische" Pyramide einzugliedern.

Fast noch wichtiger für den pädagogischen „Idealismus" dieser Jahre war die „Freie Schulgemeinde" in Wickersdorf unter Gustav Wyneken. Was man hier im Auge hatte, war die Herausbildung einer neuen Elite geistiger Adels­menschen, um dem menschlichen Dasein wieder einen Zug ins Große, einen echten „Stil" zu geben, wie Wyneken 1914 in der „Tat" behauptete (V, 1233). Wickersdorf sollte kein kräftesteigerndes Landschulheim, keine bäuerlich­nationale Erziehungsanstalt, sondern eine „Stätte der Menschheitsverjüngung" sein, wo die Führer und Heroen der Zukunft ihre ersten Weihen empfangen (S. 1233). Im Mittelpunkt stand daher das Philosophieren, und zwar im Sinne einer forciert aktivistischen Durchdringung der Welt mit einem Wert. Der empirisch-gegebenen Welt wurde hier ganz entschieden das Seinsollende ent­gegengestellt, um so den relativistischen Individualismus der spätbürgerlich­liberalen Ära durch einen Dienst am „objektiven Geist" zu überwinden. Alles hatte nur einen Aspekt: Weltanschauung zu erzeugen, das heißt, das gesamte Dasein überindividuellen Werten unterzuordnen und damit dem subjektiven Wollen eine ethische Ausrichtung zu geben. Wohl ihre klarste Ausprägung erfuhren diese Gedanken in seinem Buch „Schule und Jugendkultur" (1913), in dem sich Wyneken zu einem „Kulturstaat" bekennt, der eine rein „geistige" Ausprägung hat (2. Aufl., S. 12). Um dieses Ziel zu erreichen, forderte er eine Aufhebung der bisherigen Familienerziehung, die ihm viel zu gemüthaft-privat erschien, und trat energisch für eine Verstärkung objektiver Normen ein, was sich nur in „herber Frische", in ländlich-karger Umgebung und unter Leitung charaktervoller Pädagogen verwirklichen lasse (S. 15). Diese „Ver­geistigung" der Erziehung ist selbstverständlich rein aristokratisch gemeint, und zwar im Sinne von „Herrschaft und Dienst", wobei der Akt der Unter­werfung wie bei Blüher und George als „freie Hingabe an selbstgewählte Führer" verschleiert wird (S. 27), um auch dem „Gehorchen und Zuhören" einen „edlen" Zug zu geben. Selbst Wyneken verfiel darum im Laufe der Jahre einem idealistisch gemeinten, aber völkisch mißzuverstehenden Führerkult, der die unbarmherzige Mechanisierung, wie sie sich im Zeitalter des industriel­len Liberalismus entwickelt hatte, durch einen Appell an das ethische Gemein­schaftsbewußtsein zu überwinden hofft. Wohl kaum ein Pädagoge hat dabei so enthusiastisch auf den „Idealismus" der heranwachsenden Generation ver­traut wie er, der sich zeitweilig zum Sprecher der gesamten deutschen Jugend berufen fühlte. Immer wieder träumte er von einer „Jugendkultur", deren Ziel weniger ein glückliches als ein erhabenes Dasein sei, das sich an Werten wie Volk, Heldentum und Menschheit orientiere, anstatt Luxus und Dividenden nachzujagen und dabei in den Brackwässern des modernen Materialismus zu versinken. Aus diesem Grunde sah er wie Kerschensteiner die einzige rich­tige Erziehung in der „sinnvollen Eingliederung des Einzelwillens in den Sozialwillen" (S. 57). Da diese Formel sowohl progressive als auch reaktionäre Züge enthält, sprach er einmal von geistigen „Arbeitern" (S. 127), die sich dem Fortschritt der gesamten Menschheit widmen, ein anderes Mal von einem „adligen Geschlecht von Rittern des Geistes" (S. 64), das mehr an einen religiösen Orden erinnert, wodurch die „wertesetzende" Komponente dieses „pädagogischen furor teutonicus" einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterläßt.

Derselbe „idealistische" Impuls äußerte sich im Bereich des wissenschaftlichen Denkens. Auch hier spürt man seit der Jahrhundertwende einen zunehmenden Affekt gegen die positivistische Verengung und Systematisierung des geistes­wissenschaftlichen Denkens, das heißt gegen alle soziologischen, milieu­bedingten oder statistischen Verfahrensweisen, die auf Grund ihrer „materia­listischen" Grundstruktur als etwas Inferiores abgetan werden. Anstatt sich weiterhin mit einer mühseligen „Kleinforschung" abzuplagen, die in ihrer lexigraphischen Detailliertheit ins Uferlose zu verschwimmen droht, bemühte man sich jetzt, zum „Wesenhaften" der jeweiligen Phänomene vorzudringen. Nicht „Vollständigkeit des Stoffs", sondern „Vollständigkeit der Ideen" ist es, was wir erstreben, schrieb Eduard Wechßler in seinem Buch „Esprit und Geist" (1927), das trotz seines späten Erscheinungsdatums noch ganz in den Geist dieser Jahre gehört (S. VI). Mit derselben Verachtung blickte man auf die impressionistische „Kategorie der Gegebenheit" herab, die man für den allgemeinen Relativismus verantwortlich machte. Man liest daher immer wieder energische Angriffe gegen das bloße „Verlebendigen", das Raffinierte, Ge­nießerische und Farbige im Stil der impressionistischen Causeure wie Bie, Muther, Joel oder Simmel, deren wissenschaftliche Methodik sich weitgehend auf geistreiche Paradoxien oder feuilletonistische Extravaganzen stützt. So schrieb Richard Hamann in seinem Buch „Impressionismus in Leben und Kunst" (1907), das sich gegen das lebensphilosophische Allesverstehen und laxe Sichhineinversetzen wendet: „Heute, wo man überall spürt, daß wir einer neuen philosophischen Epoche entgegengehen, atmet man auf in dem Gefühl, eine gänzlich unphilosophische Zeit hinter sich zu haben, eine Zeit des Stoff­sammelns und der Einzel Wissenschaft, der überlegenen Skepsis und der my­stischen Schwärmerei, nur nicht des Denkens" (S. 111).

Die interessanten Feuilletons und unterhaltsamen Abhandlungen der neunziger Jahre wurden daher durch philosophisch formulierte Bekenntnisse verdrängt, die sich mit idealtypischen Lebensformen, stilistischen Gemeinsamkeiten oder gesetzmäßig wiederkehrenden Kulturstadien befassen. Auf diese Weise entstand eine wissenschaftliche Gesinnung, die mehr und mehr ins „geistig Produktive" tendiert, sich jedoch in ihrer idealistischen Abstraktheit meist ins phänomenologisch Wesenlose überschlägt. Wie sehr man diese Wendung ins Aktivistische begrüßte, kommt in einem Brief von Morgenstern an Karl Scheffler zum Ausdruck, wo es unter anderem heißt: „Sie sind nicht nur Kunsthistoriker, Ästhetiker usw., sondern auch ein Stück Ethiker, das heißt ein Mensch, der neben dem, daß er sehr viel weiß und versteht, auch etwas will" (24. August 1905). Im selben Sinne nannte Georg Lukäcs in seinem Buch „Die Seele und die Formen" (1911) jeden Kunstbetrachtenden einen „Pla-toniker", dessen höchstes Ziel die geistige Erkenntnis ideeller Grundformen sein müßte (S. 46). Die impressionistische Nonchalance mit ihrer scheinbar unbegrenzten Aufnahme- und Wiedergabefähigkeit wich daher zusehends einem angestrengten Bemühen, auch in der Wissenschaft „neue Tafeln" aufzustellen, zu erziehen, an der Gesamtheit des völkischen Lebens mit-zugestalten, um dem forscherlichen Drang wieder einen lebenzeugenden Charakter zu verleihen. Aus diesem Grunde distanzierte man sich sowohl vom Leitbild des unermüdlichen Spezialisten, der nur den Turmbau der eigenen Disziplin vor Augen hat, als auch vom amüsanten Unterhalter, für den Wahr­heit bloß eine Kußhand ist, und bekannte sich zum Ideal des Weltanschauungs­suchers, für den lediglich das Allgemeinmenschliche den Ausschlag gibt. Hinter den vielfältig aufgesplitterten Disziplinen und ihrer emsigen Fächer­betriebsamkeit tauchte daher in steigendem Maße ein philosophisches Ein­heitsstreben auf, das sich weniger um das Individuelle und historisch Einmalige als um das Grundsätzliche und Weltanschauliche bemüht, wobei man in echt „idealistischer" Vermessenheit die eigenen Wertvorstellungen zu seinsollenden Idealen erhob. Derselbe Aktivismus kommt in der Sprache dieser Bücher zum Ausdruck. Statt farbig schmückender Adjektive, ausgefallener Fremdwörter oder skeptischer Gedankenblitze findet man weitgehend kurze, einprägsame Sätze, die in ihren zielbewußten Formulierungen einen männlich-apodiktischen Charakter verraten sollen. Während die impressionistischen Autoren ihre Behauptungen meist in die Form eigener Erlebnisse eingekleidet hatten, ver­suchte man jetzt, den geäußerten Anschauungen eine überindividuelle Be­deutsamkeit oder typologische Gesetzmäßigkeit zu geben. Die Frage nach dem Wert bestimmter menschlicher Leistungen verschob sich dadurch immer stärker aus dem Psychologisch-Biographischen ins Philosophisch-Kategoriale, um von vornherein auf das „Zeitlose" innerhalb der geschichtlich bedingten Besonderheiten hinzuweisen.

Richard Hamann / Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 4, München 1973, S. 84 - 93

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