Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine
Geistes- oder Seelenwissenschaft, die sich
im Sinne Diltheys nur noch mit den
„typischen" Verhaltensweisen des Menschen
beschäftigt. So betonte Eduard Spranger in
seinem Buch „Lebensformen" (1914), daß sich
hinter der verwirrenden Vielfalt des
individuellen Lebens stets eine Anzahl
gesetzlicher Typen nachweisen lasse, durch
die nach seiner Meinung das
„Anschaulich-Konkrete" überhaupt erst
verständlich wird (S. 9). Wieviel bei
dieser abstrahierenden Betrachtungsweise
durch die Maschen fällt, spürt man in
folgender Bemerkung: „Wer gewöhnt ist, sich
mit lebendiger Seele und einem Anflug von
ästhetischer Freude in den Reichtum
menschlicher Naturen zu versenken, dem wird
diese Arbeit wie eine trostlose Entseelung
erscheinen" (S. 16). Doch trotz dieser
Einschränkung wandte er sich scharf gegen
jede sogenannte „nichtdenkende
Geschichtsschreibung", die sich im
Deskriptiven oder Biographischen erschöpfe,
und erhob statt dessen die Herausarbeitung
des „Idealtypischen" zum obersten
wissenschaftlichen Prinzip (S. 9). Er ging
dabei von sechs „Grundkategorien" aus:
Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft,
Staat, Kunst und Religion, denen er ein
Erkenntnis System, Erwerbssystem,
Zweckgemeinschaftssystem, Machtsystem,
Phantasiesystem und Erlösungssystem
anzugliedern versuchte. Wie alle Idealisten
sah er in diesen „Lebensformen" keine
„subjektiven Denkbehelfe", sondern
notwendige Anschauungsformen a priori, das
heißt konsumtive Voraussetzungen der
menschlichen Erkenntnis überhaupt (S. 12.)
Auch die daraus resultierenden
Menschentypen: den theoretischen,
wirtschaftlichen und sozialen Menschen, den
Machtmenschen, Phantasiemenschen und den
religiösen Menschen betrachtete er rein
„kategorial", ohne sich nach
der inhaltlichen Bedeutsamkeit einer solchen
Einteilung zu fragen. Nach einer Zeit
impressionistischer Systemfeindschaft, in
der lediglich die momentane
Augenblickserkenntnis im Vordergrund stand,
herrscht hier eine Prinzipienfreudigkeit,
die sich hinter einer unangreifbaren
Allgemeinheit verschanzt. Immer wieder hat
man den Eindruck, als interessiere Spranger
nur das, was sich im Bereich des Typischen
vollzieht und sich in seiner
überindividuellen Objektivität fast
geometrisch nachzeichnen läßt, während er
allen empirischen Konkretisierungen
sorgfältig aus dem Wege geht. Er nannte
daher seine Methode die „Herstellung eines
Zusammenhanges von Begriffen und Sätzen, die
unabhängig von der besonderen individuellen
Beschaffenheit und zeitlichen Bedingtheit
des Subjekts für eine objektive Welt gelten"
(S. 24), worin sich ein Formalismus
verbirgt, der ständig der Gefahr bloßer
Begriffsskelette ausgesetzt ist. Wohl am
klarsten läßt sich diese methodische Wendung
innerhalb der Literatur- und
Kunstwissenschaften verfolgen. Gerade auf
diesem Gebiet beschäftigte man sich fast
ausschließlich mit der ästhetischen
Ergründung bestimmter Einheitsformen, um so
im Sinne Diltheys zu einer „Philosophie der
Kultur" vorzudringen, die auf der
Zusammenfassung aller geistesgeschichtlichen
Disziplinen unter einem
einheitlich-philosophischen Gesichtspunkt
beruht. Man wollte nicht mehr genießen,
nachdichten, Reichtum und Fülle verbreiten
wie Muther oder Bie, sondern werten,
Forderungen stellen und damit selbst die
bloße Stilbetrachtung ins Vorbildliche
erheben. Wie weit diese Abwertung aller
historisch-psychologistischen
Betrachtungsweisen ging, beweisen Bücher wie
„Die Weltanschauungen der Malerei" (1908)
oder „Typische Kunststile in Dichtung und
Musik" (1915) von Herman Nohl, in denen wie
bei Dil-they und Spranger „zeitlose"
Grundhaltungen des künstlerischen Menschen
herauspräpariert werden. So spricht Nohl von
einem naiven Typ, der sich in die sinnliche
Fülle seiner Gestaltenwelt verliebt, einem
energischen Typ, der geradewegs auf sein
Ziel zusteuert, und einem sentimentalischen
Typ, der dieses Ziel nur auf dem Umweg über
die Ratio erreichen kann. Auch seine drei
„kategorialen" Weltanschauungen: Idealismus,
Naturalismus und Pantheismus, denen
künstlerisch jeweils eine bestimmte
Stilhaltung entspricht, bewegen sich auf
einer rein abstrakten Ebene, ohne sich in
die dialektische Verflochtenheit der realen
Welt einzulassen. Ebenso typologisch wirkt
das Buch „Formprobleme der Gotik" (1911) von
Wilhelm Worringer, hinter dem sich nichts
weniger als eine neue Grundlegung der
Ästhetik verbirgt. Wie bei Nohl wird hier
das künstlerische Ausdrucksverlangen des
Menschen auf bestimmte „Urtypen"
zurückgeführt: den primitiven, klassischen,
gotischen und orientalischen Menschen, um so
dem Relativismus der bisherigen Ästhetik,
der sich ins absolut Individualistische
zersplittert hatte, mit einem festen System
entgegentreten zu können.
Neben diesen „typologischen" Untersuchungen
herrscht das Kategoriale vor allem da, wo es
sich um Fragen des „Stils" handelt. Nach
einer Zeit positivistischer Zertrümmerung
aller größeren Zusammenhänge in molekulare
Einzelfakten, die sich nur noch statistisch
erfassen lassen, bekam man plötzlich wieder
ein Gefühl für die prägende Kraft bestimmter
Zeitstile oder geistiger Haltungen, die vom
Interpreten eine schöpferische Kombinatorik
verlangen. Man denke an ein Buch wie „Zwei
Jahrhunderte deutscher Malerei" (1916) von
Curt Glaser, wo die Zeit zwischen dem
ausgehenden 14. und dem beginnenden 16.
Jahrhundert als eine „einheitliche und in
sich geschlossene Stilphase" behandelt wird
(S. 1), da sich gerade in dieser Epoche das
spezifisch „Deutsche" am reinsten
manifestiere. Glaser beschränkte sich
deshalb ganz bewußt auf die wichtigsten
Trägerfiguren, um nur die „großen Linien der
Entwicklung" herauszuarbeiten, anstatt alles
„Erreichbare und Wissenswerte
zusammenzutragen" und so dem Ganzen den
Charakter eines „Handbuches" oder
„Nachschlagewerkes" zu geben (S. I). Einen
ähnlichen Eindruck erwecken die Bücher „Die
altdeutsche Malerei" (1909) von Ernst
Heidrich oder „Deutsche Sondergotik" (1913)
von Kurt Gerstenberg, in denen die deutsche
Spätgotik nicht als allmählicher Verfall,
sondern als eine „national bedingte
Stileinheit" aufgefaßt wird, wobei rein
formale Elemente wie das Verlassen des
Vertikalismus zugunsten einer neuen
„Räumlichkeit" zum Teil mit
völkerpsychologischen Gesichtspunkten
verbunden werden. So spricht Gersten-berg
einerseits von einem Wandel des Sehens, der
an sich in den Bereich der abstrakten
Formgeschichte gehört, hebt aber zugleich
das andersgeartete „Kunstwollen" der
germanischen Rasse hervor. Das gleiche gilt
für ein Buch wie „Der preußische Stil"
(1916) von Arthur Moeller van den Bruck, das
sich um die Definition des spezifisch
„Preußischen" bemüht und dabei mit
reaktionärer Emphase die klassizistische
Monumentalität eines Gilly, Schinkel oder
Langhans zum Leitbild einer „neudeutschen"
Gesinnung erhebt. Wohl das entscheidendste
Werk dieser Richtung war Wölfflins
„Klassische Kunst" (1899), wo ein bestimmter
Stil zum erstenmal als ein überindividuelles
Subjekt, das heißt rein antihistorisch
behandelt wird, und zwar als etwas
spezifisch „Künstlerisches", das
„unbekümmert um allen Zeitenwechsel seinen
inneren Gesetzen folgt" (S. VIII). Das
Schwergewicht dieses Buches Hegt daher
weniger auf dem biographischen als auf dem
systematischen Teil, in dem der Stoff nicht
nach „Persönlichkeiten, sondern nach
Begriffen geordnet" ist (S. IX), da nach
seiner Meinung jede „kunstgeschichtliche
Monographie" zugleich ein Stück „Ästhetik"
enthalten müsse. Wirkungsgeschichtlich noch
übertroffen wurde dieses Buch durch seine
„Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe" (1915),
in dem Wölfflin die einmal aufgegriffene
Idee in aller Strenge und Reinheit zu Ende
führt und das Phänomen des „Stils", als der
kategorialen Grundform der jeweiligen
Epoche, zum obersten Begriff aller
kunsthistorischen Erkenntnismöglichkeiten
überhaupt erhebt. Anstatt sich wie Muther
mit romanhaften Seelenschilderungen oder
anekdotisch-biographischen Sensatiönchen zu
begnügen, forderte er in diesem Werk die
logische Zusammenfassung aller
Stilmerkmale einer bestimmten Epoche zu
einem synthetischen Begriffs-komplex, der
sich auf rein formale Vorstellungen wie das
bloße „Sehen" stützt. Auch hier ging es ihm
weniger um das Individuelle als um die
„reinen" Anschauungsformen, wobei er für das
16. und 17. Jahrhundert die Gegensatzpaare:
linear und malerisch, Fläche und Tiefe,
geschlossene und offene Form, Vielheit und
Einheit, Klarheit und Unklarheit aufstellte,
die auf germanistischer Seite später von
Oskar Walzel und Fritz Strich aufgegriffen
wurden. Eng damit verwandt ist die
typologische Herausarbeitung bestimmter
nationaler Gegensätze, wie sie Eduard
Wechßler in seinem Buch „Esprit und Geist"
(1927) versuchte, das sich im Untertitel
eine „Wesenskunde des Deutschen und des
Franzosen" nennt. Die Franzosen werden hier
nach altem Klischee als reizbar, nervös,
sinnlich, feminin, impressionistisch, die
Deutschen als empfindsam, ideell,
gemütvoll, innerlich und ungesellschaftlich
hingestellt. Und zwar kam er bei dieser
Konfrontation zu folgenden Gegensatzpaaren:
La galanterie — Heiligung der reinen
Weiblichkeit, La curiosite pour les
nouveautes — Unsere Treue zum Alten,
L'horreur de l'infini — Unser Drang ins
Unendliche, La raison — Vernunft als
Vermögen der Ideen, L'intelligence —
Intuition, L'esprit — Synthetisches Denken,
um so die „idealistische" Qualifizierung des
deutschen „Geistes" herauszustreichen, der
dem französischen „Esprit" geradezu
diametral entgegengesetzt sei. Einen
ähnlichen und doch ganz anderen Typ dieses
„kategorialen" Denkens vertritt das rein
kulturphilosophisch angelegte Buch
„Impressionismus in Leben und Kunst" (1907)
von Richard Hamann. Auch hier geht es nicht
um Einzelanalysen, um bestimmte Künstler
oder bestimmte Werke, sondern um ein
gesetzmäßig auftretendes Stilphänomen, in
diesem Falle den Impressionismus, der immer
dann vorherrschend wird, wenn eine bisherige
Hochkultur in ihre Altersphase übergeht.
Hamann deutet daher von jedem Punkt dieses
Werkes auf die gesetzmäßige Entwicklung der
einzelnen Stile oder Stilfolgen hin, ohne
dabei das dialektische Verhältnis zur
jeweiligen Sozialstruktur aus dem Auge zu
lassen. So liest man ständig Begriffe wie
Kultursubstanz, Systematik, Stilfolge oder
Kulturkausalität, in denen eine
philosophische Durchdringung der
geschichtlichen Erkenntnisse zum Ausdruck
kommt. Dafür sprechen Behauptungen wie
„Nicht den Geschmack einer verwöhnten Zunge,
wohl aber eine baumeisterliche Gesinnung
setzten wir voraus", die auf den
synthetischprogressiven Charakter dieser
Untersuchungen verweisen (S. 20). Das Ganze,
mehr ein Baustein zu einer „Systematik der
Kultur" als eine bloße Beschreibung,
schließt deshalb sinnvollerweise mit dem
lakonisch aufmunternden Ruf „Mehr Hegel!"
Neben dieser geistesgeschichtlichen
Erkenntnis nationaler Einheiten oder
zusammenfassender Stilstrukturen entwickelte
sich in denselben Jahren eine ausgesprochen
personenkultische Tendenz, die zu einer
sakralen Verehrung „großer Gestalten"
drängte. Auch dieses Mittel der
Vereinheitlichung muß als Gegenschlag gegen
die positivistische
Individualitätsauflösung verstanden werden.
Während man sich in den achtziger und
neunziger Jahren vor allem mit
milieutheoretischen oder
sinnespsychologischen LTntersuchungen
beschäftigt hatte, trat jetzt wie bei
Treitschke und Herman Grimm wieder die
Herausmeißelung des großen Einzelnen in den
Vordergrund, der die „misera plebs" wie ein
antiker Halbgott überragt. Anstatt sich
weiterhin mit einer relativistischen
Verlebendigung des Gewesenen zu begnügen,
bemühte man sich in steigendem Maße um eine
übermenschliche Monumentalität, der eine
Mythisierung des Geschichtlichen ins
Zeitlose und Gesetzgeberische zugrunde
liegt. Nicht das Biographische
interessierte, sondern das gestalthaft
Personale, das Kultische einer bestimmten
Person. Auf diese Weise trat an die Stelle
der suggestiven Veranschaulichung eine
deutlich spürbare Entwirklichung der
konkreten Faktizität, aus der sich eine
ausgesprochen „mythologische"
Geschichtsbetrachtung entwickelte. Das
Ergebnis dieser Richtung war wie in der
Gründerzeit ein auffälliger Heroenkult, der
sich nicht unter das Gesetz von Ursache und
Wirkung beugt, sondern gerade das
Tyrannische, Eigenschöpferische und
Antiliberale der großen Einzelnen, der
„Leuchttürme der Menschheit", betont. So
schrieb Hans Blüher in „Werke und Tage"
(1920): „Die entscheidenden Ereignisse der
Menschheit spielen sich aber nur durch die
obersten und gelungensten Exemplare ab, als
welche daher der eigentliche Sinn und das
Thema der Menschheit sind, während der
Rest, die Masse, völlig belanglos ist und am
besten im Sklaven-zustande gehalten wird.
Daher gibt es nur heroistische
Geschichtsschreibung, das heißt einseitig
auf das Schicksal der Großen sich tendenziös
einstellende, während man das Schicksal der
Kleinen, welches persönlichkeitslos ist,
durch die Mittel der Wissenschaft darstellen
kann (Statistik, Massenpsychologie,
Physiologie der Ernährung)" (S. 101). Das
geheime Ziel aller Biographen dieser Jahre
war daher nicht die romanhafte
Interessantheit, sondern die legendäre
„Geistbiographie", bei der alles
Menschlich-Persönliche zu einer
mythisch-religiösen oder philosophischen
Chiffre erstarrt. Das beweist eine Äußerung
von Ernst Uehli, die 1916 unter dem
anspruchsvollen Titel „Die Geburt der
Individualität aus dem Mythos" in der
Zeitschrift „Das Reich" erschien: „Da, wo
das Jenseits des geisterhöhten Menschen
beginnt, da beginnt auch seine andere
Biographie, seine Geistbiographie, die nicht
den Gang seines äußeren Lebens, sondern den
Gang seines ewigen Lebens in der Zeit zum
Gegenstand hat" (I, 189).
Wohl das sensationellste, wenn auch nicht
bedeutendste Werk dieser Richtung war Emil
Ludwigs „Bismarck" (1912), das sich in aller
Entschiedenheit gegen den
bürgerlich-liberalen Zeitgeist wendet und in
kurzen, prägnanten Zügen ein „heroisches"
Dasein nachzuzeichnen versucht. Anstatt die
Tradition der impressionistischen
Bilderreihen oder Anekdotensammlungen
fortzusetzen, wo auch die Details einen
gewissen Eigenwert für sich beanspruchen
können, stellt Ludwig in sprachlich
gedrängter, oft pathetischer Weise nur die
großen Momente dieses „übermenschlichen"
Schicksals dar. Das Ganze ist daher keine
nacherlebbare Biographie, sondern ein
Schnitt durch die geistige Struktur seines
Helden, der die geheimen Triebkräfte dieses
Phänomens bloßlegen soll. Aus Bismarck wird
so eine geborene Herrschernatur, ein Mann
mit übermenschlichem Selbstbewußtsein, der
sich nur als zeitloses Standbild darstellen
läßt, was vor allem in der Vorliebe für
mythische oder symbolische Wendungen zum
Ausdruck kommt, in denen Ludwig das
Schicksal dieses gründerzeitlichen „Heroen"
in kurze, beschwörende Formeln zu pressen
versucht. Einen ähnlichen Charakter haben
Bücher wie „Die Deutschen" (1904—1910) von
Arthur Moeller van den Bruck, „Die dreizehn
Bücher der deutschen Seele" (1922) von
Wilhelm Schäfer oder „Helden" (1908) von
Friedrich Lienhard, die den Eindruck
blockhaft-aufgetürmter Monumente erwecken,
denen sich der Leser mit bewundernder
Ehrfurcht oder religiöser Ergriffenheit
nähern soll.
Ihren Höhepunkt erlebte diese Richtung in
den Werken des George-Kreises, wo an die
Stelle des Völkischen oder
Publizistisch-Sensationellen die „leibhafte
Vergottung" des Gestalthaft-Personalen
tritt, die fast einer kultischen
Sakralisierung gleicht. So erhob Friedrich
Gundolf in seinem Aufsatz „Vorbilder", der
1912 im „Jahrbuch für die geistige Bewegung"
erschien, nicht das „schauen und hinnehmen",
das heißt das impressionistische
Verstehenkönnen, sondern das „wählerische
umschaffen" zum höchsten Prinzip des
wissenschaftlichen Bemühens (S. 1). Anstatt
alles zu erforschen, solle man sich nur um
das kümmern, „was fruchtbar macht, kräfte
weckt, das lebensgefühl steigert" (S. 1). Er
wandte sich daher scharf gegen jene
Schilderer und Eindrucks Jäger, die sich
bloß an „Originalitäten, eigenarten,
nuancen" ergötzten (S. 3) und den
„Sonderling dem strengen forderer, den
mysteriösen gaukler dem dichter, den
abenteurer dem helden, den plauderer dem
sager, den riecher dem seher" vorzögen (S.
4). Wie weit seine Verdammung der
impressionistischen Ära und ihrer Freude am
Glitzernden, Geistreichen und Paradoxen
ging, beweist folgendes Zitat: „Die heutigen
Symptome für diese Zersetzung sind: die
sucht nach exotischen, exhibitionistischen,
theosophischen nerven- und seelen-speisen,
die neugier nach bekenntnisorgien und
impressionistisch aufgehöhten
reisebeschreibungen, das schnuppern nach
unentdeckten reizen draußen und drinnen, die
lust an allem hautlichen, am glitzernd
skizzenhaften, spannend vorläufigen,
prickelnd andeutenden.. .insbesondere die
weichliche und schwatzhafte eitelkeit mit
der die ichlein ihre paradoxen und
liebhabereien hegen" (S. 4). Im Gegensatz zu
dieser impressionistischen Verheutigung
alles Großen und Überzeitlichen strebte er
wieder nach der Darstellung des
Unerreichbaren und göttlich Begnadeten. Er
schrieb darum unter anderem: „Die Verehrung
der großen menschen ist entweder religiös
oder sie ist wertlos. Große menschen als
genußmittel verwenden ist ärger als alle
großheit leugnen" (S. 5). An anderer
Stelle heißt es noch deutlicher: „Die
Vorbilder sind gesetz und anwendung
zugleich. Ihr tun und wirken ist kult, ihr
leben und wesen ist mythos" (S. 6). Aus
diesem Grunde huldigte er einem
Personenkult, der sich nur mit antiker
Genievergötterung vergleichen läßt. So sah
er in Dante einen religiösen Heros mit
„architektonischem Lebensgefühl", in dem
sich ein ganzes Zeitalter spiegele. Die
gleiche Verehrung brachte er Shakespeare
entgegen, der sich nach seiner Meinung im
Gegensatz zu anderen „Realisten" nie zu
einem „wahllosen Sammeleifer" oder
„seelenlosen Schilderungsfanatismus"
hinreißen ließ, sondern in „überlegener,
adliger, unbeirrter" Weise seine Sternenbahn
durchlief (S. 15). Wohl ihre bekannteste
Verwirklichung erfuhren diese Ideen in
seinem „Goethe" (1916), bei dem weniger das
Biographische als die überzeitliche
„Gestalt" im Vordergrund steht (S. 1).
Während man sich in den achtziger und
neunziger Jahren mehr mit dem kranken Goethe
(Möbius) oder dem impressionistischen
Goethe (Hartleben, Bahr) beschäftigt hatte,
stellt er Goethe als einen Tatmenschen dar,
der Ideal und Wirklichkeit zu imponierender
Einheit verschmolz und dadurch seinem Leben
„Stil" zu geben verstand. Goethe ist für ihn
der Unnahbare, der Mythische, der sich mit
dämonischer Sicherheit über das Alltägliche
erhob und deshalb in den Bereich der
„zeitlosen" Genien gehört. Anstatt sein
Leben und seine Werke kritisch zu
analysieren, versucht er, sie synthetisch
nachzuschaffen oder auf bestimmte
„Urerlebnisse" zurückzuführen, während er
das Historische und Gesellschaftliche als
etwas Sekundäres behandelt. Nur bei
„gewöhnlichen" Menschen müsse man sich auch
mit den Eigenschaften, Meinungen und
Beschäftigungen auseinandersetzen, bei
Goethe hingegen sei alles von „innen
erbildet" (S. 4). Aus dem „Menschen" Goethe
wird so ein lebensphilosophisches
Urphänomen, das nur dem eigenen Dämon
gehorcht. So betont Gundolf immer wieder das
Religiöse, Titanische und Erotische, die
eigentlichen „Urerlebnisse", und geht den
historischen Faktoren so weit wie möglich
aus dem Wege. Ein gutes Beispiel dafür
bietet seine Interpretation des „Tasso", wo
er die konkrete Auseinandersetzung mit der
Gesellschaft und die bildungsmäßige
Übernahme der klassischen französischen
Tragödie weitgehend unterschlägt. Ebenso
auffällig ist die starke Hervorhebung des
Zyklischen, die Charakterisierung von
Goethes Werken als „Jahresringen" einer
bestimmten „Entwicklungskugel" (S. 15), die
einem deutlichen Affekt gegen alles
Progressive entspringt. Noch klarer
ausgesprochen wird diese Gesinnung in
seinem Auf satz „Das Bild Georges" (1910),
der wie die „Vorbilder" im „Jahrbuch für die
geistige Bewegung" erschien. George gleicht
hier einem verehrungheischenden Standbild,
in dem Gundolf die einzige symbolische(
Verkörperung sieht, die nicht vom
„liberalen" Zeitgeist angekränkelt ist.
Eine „Gestalt" wie ihn könne man nur
exemplarisch darstellen, und zwar in einer
„spräche der gewißheit" (S. 22), die etwas
Befehlendes und Führerisches habe. Er lobte
daher die George-Bücher der
Kreisangehörigen Wolters und Klages, in
denen das Prinzip von „Herrschaft und
Dienst"
verherrlicht wird, während er die
„einfühlsame" Art von Rudolf Borchardt
schärfstens verdammte.
Auch die anderen Bücher des „Kreises" haben
diese Tendenz ins Gestalthaft-Monumentale.
Man denke an den „Napoleon" (1923) von
Berthold Val-lentin, der sich voller
Ressentiment gegen die sogenannten „sozialen
Menschheitsideale" zum Prinzip des
Cäsarischen bekennt (S. 3). Anstatt eine
biographisch belegbare
Charakterbeschreibung zu geben, geht es hier
vornehmlich um das „Gesamtbild" eines
„ungeteilten" Menschen (S. 4). Napoleon wird
daher nicht nacheinander als Liebhaber,
Feldherr und Staatsmann geschildert,
sondern stets als „heroische Gestalt", die
wie ein Halbgott von einem Schlachtfeld zum
anderen eilt (S. 7). Eine ähnliche Gesinnung
herrscht in dem Buch „Kaiser Friedrich der
Zweite" (1927) von Ernst Kantorowicz, in dem
sich Kaiser und Papst, Stauf er und Weifen
wie bei Treitschke in monumental gesehenen
Konfrontationen gegenüberstehen. Friedrich
selbst tritt als der strahlende Jüngling aus
Apulien auf, der in heroischer Einsamkeit zu
einem weltballbeherrschenden Imperator
heranwächst. Auch im „RafTael" (1923) von
Wilhelm Stein wird echt georgisch das Leben
eines jugendlichen Genius beschrieben,
dessen Werke eine „göttliche" Erwähltheit
ahnen lassen. Statt sich wie Muther fast
ausschließlich mit dem erotisch Pikanten zu
beschäftigen oder wie Carl Neumann in
seinem „Rembrandt" (1902) lange
Milieubeschreibungen einzuschalten,
konzentriert sich Stein völlig auf die
künstlerische Einmaligkeit und damit
Zeitlosigkeit des von ihm behandelten
Meisters. Dasselbe gilt für seinen „Holbein"
(1929), wo er einen künstlerischen Heros
beschreibt, der sich im Sinne Georges um
einen klassisch-linearen Stil bemühte und in
seinen Werken eine Galerie bedeutender Köpfe
hinterließ. Ihren Höhepunkt erlebte diese
Tendenz in Bertrams Nietzsche-Buch (1918),
dem „Versuch einer Mythologie", wie er es
selber nennt. Im Gegensatz zu Elisabeth
Förster-Nietzsche wird hier Nietzsche nicht
aus seinem Privatleben, sondern rein unter
dem Gesichtspunkt seiner „überzeitlichen"
Wirkung betrachtet. Das Programm dazu
findet sich bereits auf der ersten Seite:
„Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes
Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem
wir es historisch betrachten. Wir retten es
nicht in unsere Zeit hinüber, wir machen es
zeitlos. Indem wir es uns verdeutlichen,
deuten wir es schon. Was von ihm bleibt ...
ist nie das Leben, sondern immer seine
Legende." Bertram interessiert sich daher
weniger für das Psychologische als für das
Gestalthaft-Personale seines Helden, den er
aus seiner historischen Einmaligkeit ins
Mythische erhebt und dort wie einen Fixstern
der menschlichen Erkenntnis verehrt. Wie
stark diese Legendenbildung ins Religiöse
tendiert, beweist folgende Stelle: „Nur als
Bild, als Gestalt, nur als Mythos lebt sie,
nicht als Kenntnis oder Erkenntnis eines
Gewesenen. Keine Philologie, keine
analytische Methode vermag das Bild zu
formen
...
Es steigt langsam am Sternenhimmel der
menschlichen Erinnerung hinan; es scheint in
jedem der mythischen
Tierkreisbilder, der zwölf großen ,Häuser
des Himmels' einmal zu verweilen, als sei es
gerade in diesem Zeichen geboren, und
eigentlich zu Hause; und es kreist, ist
seine innere Umlaufkraft so stark, daß sie
unter Menschen ewig heißt, allmählich so
hoch gegen den Pol, daß es, gleich einem
Gestirn des Nordens, niemals wieder unter
die Horizontgrenze unseres Gedächtnisses
hinuntergeht" (S. 2). Während man bisher in
einer Biographie eine „bewußt künstlerische
Zusammenfassung" oder den „Niederschlag
eines jeweiligen Standes exakter Forschung"
gesehen habe (S. 2), womit Bertram sowohl
den positivistischen als auch den
impressionistischen Standpunkt
charakterisiert, stellte er die herrische
Forderung auf, die ins Auge gefaßte Gestalt
von allen historischen Schlacken zu reinigen
und in einen wirkungskräftigen Mythos zu
verwandeln. Er beschränkte sich daher
ausdrücklich auf die verschiedenen „Umkreise
seines Denkens", und zwar nicht als
ideengeschichtliche Kompendien, die in
bestimmten Relationen zu anderen Denkern
stehen, sondern als geistige
Herrschaftsbezirke. Auf diese Weise
verwandelte sich sogar die
Geschichtsschreibung aus einer
Wirklichkeitswissenschaft in eine
Wertphilosophie, die der Welt der Objekte
völlig gleichgültig gegenübersteht und sich
bloß mit den „Leuchttürmen" der Menschheit
beschäftigt. Daß selbst eine solche Haltung,
so edel sie ursprünglich gewesen sein mag,
ideologisch nicht unbedenklich ist, zeigt
sich im Bereich des „Völkischen", wo sich
aus diesem Heroenkult eine antidemokratische
Führergesinnung entwickelte, die alle
positiven Leistungen der Menschheit als
Ergebnisse einer forcierten Herrenmoral
hinzustellen versuchte und dadurch sogar die
Rolle des Genialen ins Antihumanistische
verfälschte.
Richard Hamann / Jost Hermand: Stilkunst um
1900, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis
zur Gegenwart, Band 4, München 1973, S.
93
- 101
Zum
Teil 1
Zum
Teil 2 |