Idealismus statt Materialismus
Der Gedankreis der "fortschrittlichen Reaktion"

Leseauszug aus "Stilkunst um 1900 von Richard Hamann und Jost Hermand" (Teil 3)

09/2020

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Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine Geistes- oder Seelenwissenschaft, die sich im Sinne Diltheys nur noch mit den „typischen" Verhaltensweisen des Menschen beschäftigt. So betonte Eduard Spranger in seinem Buch „Lebensformen" (1914), daß sich hinter der verwirrenden Vielfalt des in­dividuellen Lebens stets eine Anzahl gesetzlicher Typen nachweisen lasse, durch die nach seiner Meinung das „Anschaulich-Konkrete" überhaupt erst verständ­lich wird (S. 9). Wieviel bei dieser abstrahierenden Betrachtungsweise durch die Maschen fällt, spürt man in folgender Bemerkung: „Wer gewöhnt ist, sich mit lebendiger Seele und einem Anflug von ästhetischer Freude in den Reichtum menschlicher Naturen zu versenken, dem wird diese Arbeit wie eine trostlose Entseelung erscheinen" (S. 16). Doch trotz dieser Einschränkung wandte er sich scharf gegen jede sogenannte „nichtdenkende Geschichts­schreibung", die sich im Deskriptiven oder Biographischen erschöpfe, und erhob statt dessen die Herausarbeitung des „Idealtypischen" zum obersten wissenschaftlichen Prinzip (S. 9). Er ging dabei von sechs „Grundkategorien" aus: Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kunst und Religion, denen er ein Erkenntnis System, Erwerbssystem, Zweckgemeinschaftssystem, Macht­system, Phantasiesystem und Erlösungssystem anzugliedern versuchte. Wie alle Idealisten sah er in diesen „Lebensformen" keine „subjektiven Denk­behelfe", sondern notwendige Anschauungsformen a priori, das heißt kon­sumtive Voraussetzungen der menschlichen Erkenntnis überhaupt (S. 12.) Auch die daraus resultierenden Menschentypen: den theoretischen, wirt­schaftlichen und sozialen Menschen, den Machtmenschen, Phantasiemenschen und den religiösen Menschen betrachtete er rein „kategorial", ohne sich nach der inhaltlichen Bedeutsamkeit einer solchen Einteilung zu fragen. Nach einer Zeit impressionistischer Systemfeindschaft, in der lediglich die momentane Augenblickserkenntnis im Vordergrund stand, herrscht hier eine Prinzipien­freudigkeit, die sich hinter einer unangreifbaren Allgemeinheit verschanzt. Immer wieder hat man den Eindruck, als interessiere Spranger nur das, was sich im Bereich des Typischen vollzieht und sich in seiner überindividuellen Objektivität fast geometrisch nachzeichnen läßt, während er allen empirischen Konkretisierungen sorgfältig aus dem Wege geht. Er nannte daher seine Methode die „Herstellung eines Zusammenhanges von Begriffen und Sätzen, die unab­hängig von der besonderen individuellen Beschaffenheit und zeitlichen Bedingt­heit des Subjekts für eine objektive Welt gelten" (S. 24), worin sich ein Forma­lismus verbirgt, der ständig der Gefahr bloßer Begriffsskelette ausgesetzt ist. Wohl am klarsten läßt sich diese methodische Wendung innerhalb der Litera­tur- und Kunstwissenschaften verfolgen. Gerade auf diesem Gebiet beschäf­tigte man sich fast ausschließlich mit der ästhetischen Ergründung bestimm­ter Einheitsformen, um so im Sinne Diltheys zu einer „Philosophie der Kultur" vorzudringen, die auf der Zusammenfassung aller geistesgeschichtlichen Disziplinen unter einem einheitlich-philosophischen Gesichtspunkt beruht. Man wollte nicht mehr genießen, nachdichten, Reichtum und Fülle verbreiten wie Muther oder Bie, sondern werten, Forderungen stellen und damit selbst die bloße Stilbetrachtung ins Vorbildliche erheben. Wie weit diese Abwertung aller historisch-psychologistischen Betrachtungsweisen ging, beweisen Bücher wie „Die Weltanschauungen der Malerei" (1908) oder „Typische Kunststile in Dichtung und Musik" (1915) von Herman Nohl, in denen wie bei Dil-they und Spranger „zeitlose" Grundhaltungen des künstlerischen Menschen herauspräpariert werden. So spricht Nohl von einem naiven Typ, der sich in die sinnliche Fülle seiner Gestaltenwelt verliebt, einem energischen Typ, der geradewegs auf sein Ziel zusteuert, und einem sentimentalischen Typ, der dieses Ziel nur auf dem Umweg über die Ratio erreichen kann. Auch seine drei „kategorialen" Weltanschauungen: Idealismus, Naturalismus und Pan­theismus, denen künstlerisch jeweils eine bestimmte Stilhaltung entspricht, bewegen sich auf einer rein abstrakten Ebene, ohne sich in die dialektische Verflochtenheit der realen Welt einzulassen. Ebenso typologisch wirkt das Buch „Formprobleme der Gotik" (1911) von Wilhelm Worringer, hinter dem sich nichts weniger als eine neue Grundlegung der Ästhetik verbirgt. Wie bei Nohl wird hier das künstlerische Ausdrucksverlangen des Menschen auf be­stimmte „Urtypen" zurückgeführt: den primitiven, klassischen, gotischen und orientalischen Menschen, um so dem Relativismus der bisherigen Ästhetik, der sich ins absolut Individualistische zersplittert hatte, mit einem festen System entgegentreten zu können.

Neben diesen „typologischen" Untersuchungen herrscht das Kategoriale vor allem da, wo es sich um Fragen des „Stils" handelt. Nach einer Zeit positivisti­scher Zertrümmerung aller größeren Zusammenhänge in molekulare Einzel­fakten, die sich nur noch statistisch erfassen lassen, bekam man plötzlich wieder ein Gefühl für die prägende Kraft bestimmter Zeitstile oder geistiger Haltun­gen, die vom Interpreten eine schöpferische Kombinatorik verlangen. Man denke an ein Buch wie „Zwei Jahrhunderte deutscher Malerei" (1916) von Curt Glaser, wo die Zeit zwischen dem ausgehenden 14. und dem beginnenden 16. Jahrhundert als eine „einheitliche und in sich geschlossene Stilphase" behandelt wird (S. 1), da sich gerade in dieser Epoche das spezifisch „Deutsche" am reinsten manifestiere. Glaser beschränkte sich deshalb ganz bewußt auf die wichtigsten Trägerfiguren, um nur die „großen Linien der Entwicklung" herauszuarbeiten, anstatt alles „Erreichbare und Wissenswerte zusammen­zutragen" und so dem Ganzen den Charakter eines „Handbuches" oder „Nachschlagewerkes" zu geben (S. I). Einen ähnlichen Eindruck erwecken die Bücher „Die altdeutsche Malerei" (1909) von Ernst Heidrich oder „Deut­sche Sondergotik" (1913) von Kurt Gerstenberg, in denen die deutsche Spät­gotik nicht als allmählicher Verfall, sondern als eine „national bedingte Stileinheit" aufgefaßt wird, wobei rein formale Elemente wie das Verlassen des Vertikalismus zugunsten einer neuen „Räumlichkeit" zum Teil mit völker­psychologischen Gesichtspunkten verbunden werden. So spricht Gersten-berg einerseits von einem Wandel des Sehens, der an sich in den Bereich der abstrakten Formgeschichte gehört, hebt aber zugleich das andersgeartete „Kunstwollen" der germanischen Rasse hervor. Das gleiche gilt für ein Buch wie „Der preußische Stil" (1916) von Arthur Moeller van den Bruck, das sich um die Definition des spezifisch „Preußischen" bemüht und dabei mit reaktio­närer Emphase die klassizistische Monumentalität eines Gilly, Schinkel oder Langhans zum Leitbild einer „neudeutschen" Gesinnung erhebt. Wohl das entscheidendste Werk dieser Richtung war Wölfflins „Klassische Kunst" (1899), wo ein bestimmter Stil zum erstenmal als ein überindividuelles Subjekt, das heißt rein antihistorisch behandelt wird, und zwar als etwas spezifisch „Künstlerisches", das „unbekümmert um allen Zeitenwechsel seinen inneren Gesetzen folgt" (S. VIII). Das Schwergewicht dieses Buches Hegt daher weniger auf dem biographischen als auf dem systematischen Teil, in dem der Stoff nicht nach „Persönlichkeiten, sondern nach Begriffen geordnet" ist (S. IX), da nach seiner Meinung jede „kunstgeschichtliche Monographie" zugleich ein Stück „Ästhetik" enthalten müsse. Wirkungsgeschichtlich noch über­troffen wurde dieses Buch durch seine „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe" (1915), in dem Wölfflin die einmal aufgegriffene Idee in aller Strenge und Rein­heit zu Ende führt und das Phänomen des „Stils", als der kategorialen Grund­form der jeweiligen Epoche, zum obersten Begriff aller kunsthistorischen Er­kenntnismöglichkeiten überhaupt erhebt. Anstatt sich wie Muther mit roman­haften Seelenschilderungen oder anekdotisch-biographischen Sensatiönchen zu begnügen, forderte er in diesem Werk die logische Zusammenfassung aller Stilmerkmale einer bestimmten Epoche zu einem synthetischen Begriffs-komplex, der sich auf rein formale Vorstellungen wie das bloße „Sehen" stützt. Auch hier ging es ihm weniger um das Individuelle als um die „reinen" Anschauungsformen, wobei er für das 16. und 17. Jahrhundert die Gegen­satzpaare: linear und malerisch, Fläche und Tiefe, geschlossene und offene Form, Vielheit und Einheit, Klarheit und Unklarheit aufstellte, die auf ger­manistischer Seite später von Oskar Walzel und Fritz Strich aufgegriffen wurden. Eng damit verwandt ist die typologische Herausarbeitung bestimmter nationaler Gegensätze, wie sie Eduard Wechßler in seinem Buch „Esprit und Geist" (1927) versuchte, das sich im Untertitel eine „Wesenskunde des Deut­schen und des Franzosen" nennt. Die Franzosen werden hier nach altem Klischee als reizbar, nervös, sinnlich, feminin, impressionistisch, die Deut­schen als empfindsam, ideell, gemütvoll, innerlich und ungesellschaftlich hingestellt. Und zwar kam er bei dieser Konfrontation zu folgenden Gegen­satzpaaren: La galanterie — Heiligung der reinen Weiblichkeit, La curiosite pour les nouveautes — Unsere Treue zum Alten, L'horreur de l'infini — Unser Drang ins Unendliche, La raison — Vernunft als Vermögen der Ideen, L'intelligence — Intuition, L'esprit — Synthetisches Denken, um so die „idealistische" Qualifizierung des deutschen „Geistes" herauszustreichen, der dem französischen „Esprit" geradezu diametral entgegengesetzt sei. Einen ähnlichen und doch ganz anderen Typ dieses „kategorialen" Denkens vertritt das rein kulturphilosophisch angelegte Buch „Impressionismus in Leben und Kunst" (1907) von Richard Hamann. Auch hier geht es nicht um Einzel­analysen, um bestimmte Künstler oder bestimmte Werke, sondern um ein gesetzmäßig auftretendes Stilphänomen, in diesem Falle den Impressionismus, der immer dann vorherrschend wird, wenn eine bisherige Hochkultur in ihre Altersphase übergeht. Hamann deutet daher von jedem Punkt dieses Werkes auf die gesetzmäßige Entwicklung der einzelnen Stile oder Stilfolgen hin, ohne dabei das dialektische Verhältnis zur jeweiligen Sozialstruktur aus dem Auge zu lassen. So liest man ständig Begriffe wie Kultursubstanz, Systematik, Stilfolge oder Kulturkausalität, in denen eine philosophische Durchdringung der geschichtlichen Erkenntnisse zum Ausdruck kommt. Dafür sprechen Behauptungen wie „Nicht den Geschmack einer verwöhnten Zunge, wohl aber eine baumeisterliche Gesinnung setzten wir voraus", die auf den synthetisch­progressiven Charakter dieser Untersuchungen verweisen (S. 20). Das Ganze, mehr ein Baustein zu einer „Systematik der Kultur" als eine bloße Beschreibung, schließt deshalb sinnvollerweise mit dem lakonisch aufmunternden Ruf „Mehr Hegel!"

Neben dieser geistesgeschichtlichen Erkenntnis nationaler Einheiten oder zusammenfassender Stilstrukturen entwickelte sich in denselben Jahren eine ausgesprochen personenkultische Tendenz, die zu einer sakralen Verehrung „großer Gestalten" drängte. Auch dieses Mittel der Vereinheit­lichung muß als Gegenschlag gegen die positivistische Individualitäts­auflösung verstanden werden. Während man sich in den achtziger und neun­ziger Jahren vor allem mit milieutheoretischen oder sinnespsychologischen LTntersuchungen beschäftigt hatte, trat jetzt wie bei Treitschke und Herman Grimm wieder die Herausmeißelung des großen Einzelnen in den Vorder­grund, der die „misera plebs" wie ein antiker Halbgott überragt. Anstatt sich weiterhin mit einer relativistischen Verlebendigung des Gewesenen zu be­gnügen, bemühte man sich in steigendem Maße um eine übermenschliche Monumentalität, der eine Mythisierung des Geschichtlichen ins Zeitlose und Gesetzgeberische zugrunde liegt. Nicht das Biographische interessierte, sondern das gestalthaft Personale, das Kultische einer bestimmten Person. Auf diese Weise trat an die Stelle der suggestiven Veranschaulichung eine deutlich spürbare Entwirklichung der konkreten Faktizität, aus der sich eine ausgesprochen „mythologische" Geschichtsbetrachtung entwickelte. Das Er­gebnis dieser Richtung war wie in der Gründerzeit ein auffälliger Heroenkult, der sich nicht unter das Gesetz von Ursache und Wirkung beugt, sondern gerade das Tyrannische, Eigenschöpferische und Antiliberale der großen Einzelnen, der „Leuchttürme der Menschheit", betont. So schrieb Hans Blüher in „Werke und Tage" (1920): „Die entscheidenden Ereignisse der Menschheit spielen sich aber nur durch die obersten und gelungensten Exemplare ab, als welche daher der eigentliche Sinn und das Thema der Menschheit sind, wäh­rend der Rest, die Masse, völlig belanglos ist und am besten im Sklaven-zustande gehalten wird. Daher gibt es nur heroistische Geschichtsschreibung, das heißt einseitig auf das Schicksal der Großen sich tendenziös einstellende, während man das Schicksal der Kleinen, welches persönlichkeitslos ist, durch die Mittel der Wissenschaft darstellen kann (Statistik, Massenpsychologie, Physiologie der Ernährung)" (S. 101). Das geheime Ziel aller Biographen dieser Jahre war daher nicht die romanhafte Interessantheit, sondern die legendäre „Geistbiographie", bei der alles Menschlich-Persönliche zu einer mythisch-religiösen oder philosophischen Chiffre erstarrt. Das beweist eine Äußerung von Ernst Uehli, die 1916 unter dem anspruchsvollen Titel „Die Geburt der Individualität aus dem Mythos" in der Zeitschrift „Das Reich" erschien: „Da, wo das Jenseits des geisterhöhten Menschen beginnt, da beginnt auch seine andere Biographie, seine Geistbiographie, die nicht den Gang seines äußeren Lebens, sondern den Gang seines ewigen Lebens in der Zeit zum Gegenstand hat" (I, 189).

Wohl das sensationellste, wenn auch nicht bedeutendste Werk dieser Rich­tung war Emil Ludwigs „Bismarck" (1912), das sich in aller Entschiedenheit gegen den bürgerlich-liberalen Zeitgeist wendet und in kurzen, prägnanten Zügen ein „heroisches" Dasein nachzuzeichnen versucht. Anstatt die Tradi­tion der impressionistischen Bilderreihen oder Anekdotensammlungen fort­zusetzen, wo auch die Details einen gewissen Eigenwert für sich beanspruchen können, stellt Ludwig in sprachlich gedrängter, oft pathetischer Weise nur die großen Momente dieses „übermenschlichen" Schicksals dar. Das Ganze ist daher keine nacherlebbare Biographie, sondern ein Schnitt durch die geistige Struktur seines Helden, der die geheimen Triebkräfte dieses Phänomens bloß­legen soll. Aus Bismarck wird so eine geborene Herrschernatur, ein Mann mit übermenschlichem Selbstbewußtsein, der sich nur als zeitloses Standbild dar­stellen läßt, was vor allem in der Vorliebe für mythische oder symbolische Wendungen zum Ausdruck kommt, in denen Ludwig das Schicksal dieses gründerzeitlichen „Heroen" in kurze, beschwörende Formeln zu pressen versucht. Einen ähnlichen Charakter haben Bücher wie „Die Deutschen" (1904—1910) von Arthur Moeller van den Bruck, „Die dreizehn Bücher der deutschen Seele" (1922) von Wilhelm Schäfer oder „Helden" (1908) von Fried­rich Lienhard, die den Eindruck blockhaft-aufgetürmter Monumente er­wecken, denen sich der Leser mit bewundernder Ehrfurcht oder religiöser Ergriffenheit nähern soll.

Ihren Höhepunkt erlebte diese Richtung in den Werken des George-Kreises, wo an die Stelle des Völkischen oder Publizistisch-Sensationellen die „leib­hafte Vergottung" des Gestalthaft-Personalen tritt, die fast einer kultischen Sakralisierung gleicht. So erhob Friedrich Gundolf in seinem Aufsatz „Vor­bilder", der 1912 im „Jahrbuch für die geistige Bewegung" erschien, nicht das „schauen und hinnehmen", das heißt das impressionistische Verstehenkönnen, sondern das „wählerische umschaffen" zum höchsten Prinzip des wissenschaft­lichen Bemühens (S. 1). Anstatt alles zu erforschen, solle man sich nur um das kümmern, „was fruchtbar macht, kräfte weckt, das lebensgefühl steigert" (S. 1). Er wandte sich daher scharf gegen jene Schilderer und Eindrucks Jäger, die sich bloß an „Originalitäten, eigenarten, nuancen" ergötzten (S. 3) und den „Sonderling dem strengen forderer, den mysteriösen gaukler dem dichter, den abenteurer dem helden, den plauderer dem sager, den riecher dem seher" vorzögen (S. 4). Wie weit seine Verdammung der impressionistischen Ära und ihrer Freude am Glitzernden, Geistreichen und Paradoxen ging, beweist folgendes Zitat: „Die heutigen Symptome für diese Zersetzung sind: die sucht nach exotischen, exhibitionistischen, theosophischen nerven- und seelen-speisen, die neugier nach bekenntnisorgien und impressionistisch aufgehöhten reisebeschreibungen, das schnuppern nach unentdeckten reizen draußen und drinnen, die lust an allem hautlichen, am glitzernd skizzenhaften, spannend vorläufigen, prickelnd andeutenden.. .insbesondere die weichliche und schwatz­hafte eitelkeit mit der die ichlein ihre paradoxen und liebhabereien hegen" (S. 4). Im Gegensatz zu dieser impressionistischen Verheutigung alles Großen und Überzeitlichen strebte er wieder nach der Darstellung des Unerreichbaren und göttlich Begnadeten. Er schrieb darum unter anderem: „Die Verehrung der großen menschen ist entweder religiös oder sie ist wertlos. Große menschen als genußmittel verwenden ist ärger als alle großheit leugnen" (S. 5). An anderer Stelle heißt es noch deutlicher: „Die Vorbilder sind gesetz und anwendung zugleich. Ihr tun und wirken ist kult, ihr leben und wesen ist mythos" (S. 6). Aus diesem Grunde huldigte er einem Personenkult, der sich nur mit antiker Genievergötterung vergleichen läßt. So sah er in Dante einen religiösen Heros mit „architektonischem Lebensgefühl", in dem sich ein ganzes Zeitalter spie­gele. Die gleiche Verehrung brachte er Shakespeare entgegen, der sich nach seiner Meinung im Gegensatz zu anderen „Realisten" nie zu einem „wahllosen Sammeleifer" oder „seelenlosen Schilderungsfanatismus" hinreißen ließ, son­dern in „überlegener, adliger, unbeirrter" Weise seine Sternenbahn durchlief (S. 15). Wohl ihre bekannteste Verwirklichung erfuhren diese Ideen in seinem „Goethe" (1916), bei dem weniger das Biographische als die überzeitliche „Gestalt" im Vordergrund steht (S. 1). Während man sich in den achtziger und neunziger Jahren mehr mit dem kranken Goethe (Möbius) oder dem impres­sionistischen Goethe (Hartleben, Bahr) beschäftigt hatte, stellt er Goethe als einen Tatmenschen dar, der Ideal und Wirklichkeit zu imponierender Einheit verschmolz und dadurch seinem Leben „Stil" zu geben verstand. Goethe ist für ihn der Unnahbare, der Mythische, der sich mit dämonischer Sicherheit über das Alltägliche erhob und deshalb in den Bereich der „zeitlosen" Genien gehört. Anstatt sein Leben und seine Werke kritisch zu analysieren, versucht er, sie synthetisch nachzuschaffen oder auf bestimmte „Urerlebnisse" zurück­zuführen, während er das Historische und Gesellschaftliche als etwas Sekun­däres behandelt. Nur bei „gewöhnlichen" Menschen müsse man sich auch mit den Eigenschaften, Meinungen und Beschäftigungen auseinandersetzen, bei Goethe hingegen sei alles von „innen erbildet" (S. 4). Aus dem „Menschen" Goethe wird so ein lebensphilosophisches Urphänomen, das nur dem eigenen Dämon gehorcht. So betont Gundolf immer wieder das Religiöse, Titanische und Erotische, die eigentlichen „Urerlebnisse", und geht den historischen Faktoren so weit wie möglich aus dem Wege. Ein gutes Beispiel dafür bietet seine Interpretation des „Tasso", wo er die konkrete Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und die bildungsmäßige Übernahme der klassischen französi­schen Tragödie weitgehend unterschlägt. Ebenso auffällig ist die starke Her­vorhebung des Zyklischen, die Charakterisierung von Goethes Werken als „Jahresringen" einer bestimmten „Entwicklungskugel" (S. 15), die einem deutlichen Affekt gegen alles Progressive entspringt. Noch klarer ausgespro­chen wird diese Gesinnung in seinem Auf satz „Das Bild Georges" (1910), der wie die „Vorbilder" im „Jahrbuch für die geistige Bewegung" erschien. George gleicht hier einem verehrungheischenden Standbild, in dem Gundolf die einzige symbolische( Verkörperung sieht, die nicht vom „liberalen" Zeit­geist angekränkelt ist. Eine „Gestalt" wie ihn könne man nur exemplarisch darstellen, und zwar in einer „spräche der gewißheit" (S. 22), die etwas Be­fehlendes und Führerisches habe. Er lobte daher die George-Bücher der Kreis­angehörigen Wolters und Klages, in denen das Prinzip von „Herrschaft und  Dienst" verherrlicht wird, während er die „einfühlsame" Art von Rudolf Borchardt schärfstens verdammte.

Auch die anderen Bücher des „Kreises" haben diese Tendenz ins Gestalt­haft-Monumentale. Man denke an den „Napoleon" (1923) von Berthold Val-lentin, der sich voller Ressentiment gegen die sogenannten „sozialen Mensch­heitsideale" zum Prinzip des Cäsarischen bekennt (S. 3). Anstatt eine bio­graphisch belegbare Charakterbeschreibung zu geben, geht es hier vornehm­lich um das „Gesamtbild" eines „ungeteilten" Menschen (S. 4). Napoleon wird daher nicht nacheinander als Liebhaber, Feldherr und Staatsmann ge­schildert, sondern stets als „heroische Gestalt", die wie ein Halbgott von einem Schlachtfeld zum anderen eilt (S. 7). Eine ähnliche Gesinnung herrscht in dem Buch „Kaiser Friedrich der Zweite" (1927) von Ernst Kantorowicz, in dem sich Kaiser und Papst, Stauf er und Weifen wie bei Treitschke in monu­mental gesehenen Konfrontationen gegenüberstehen. Friedrich selbst tritt als der strahlende Jüngling aus Apulien auf, der in heroischer Einsamkeit zu einem weltballbeherrschenden Imperator heranwächst. Auch im „RafTael" (1923) von Wilhelm Stein wird echt georgisch das Leben eines jugendlichen Genius beschrieben, dessen Werke eine „göttliche" Erwähltheit ahnen lassen. Statt sich wie Muther fast ausschließlich mit dem erotisch Pikanten zu be­schäftigen oder wie Carl Neumann in seinem „Rembrandt" (1902) lange Milieubeschreibungen einzuschalten, konzentriert sich Stein völlig auf die künstlerische Einmaligkeit und damit Zeitlosigkeit des von ihm behandelten Meisters. Dasselbe gilt für seinen „Holbein" (1929), wo er einen künstlerischen Heros beschreibt, der sich im Sinne Georges um einen klassisch-linearen Stil bemühte und in seinen Werken eine Galerie bedeutender Köpfe hinterließ. Ihren Höhepunkt erlebte diese Tendenz in Bertrams Nietzsche-Buch (1918), dem „Versuch einer Mythologie", wie er es selber nennt. Im Gegensatz zu Elisabeth Förster-Nietzsche wird hier Nietzsche nicht aus seinem Privatleben, sondern rein unter dem Gesichtspunkt seiner „überzeitlichen" Wirkung be­trachtet. Das Programm dazu findet sich bereits auf der ersten Seite: „Wir ver­gegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten. Wir retten es nicht in unsere Zeit hinüber, wir machen es zeitlos. Indem wir es uns verdeutlichen, deuten wir es schon. Was von ihm bleibt ... ist nie das Leben, sondern immer seine Legende." Bertram interessiert sich daher weniger für das Psychologische als für das Ge­stalthaft-Personale seines Helden, den er aus seiner historischen Einmaligkeit ins Mythische erhebt und dort wie einen Fixstern der menschlichen Erkennt­nis verehrt. Wie stark diese Legendenbildung ins Religiöse tendiert, beweist folgende Stelle: „Nur als Bild, als Gestalt, nur als Mythos lebt sie, nicht als Kenntnis oder Erkenntnis eines Gewesenen. Keine Philologie, keine analy­tische Methode vermag das Bild zu formen ... Es steigt langsam am Sternen­himmel der menschlichen Erinnerung hinan; es scheint in jedem der mythischen Tierkreisbilder, der zwölf großen ,Häuser des Himmels' einmal zu verweilen, als sei es gerade in diesem Zeichen geboren, und eigentlich zu Hause; und es kreist, ist seine innere Umlaufkraft so stark, daß sie unter Menschen ewig heißt, allmählich so hoch gegen den Pol, daß es, gleich einem Gestirn des Nordens, niemals wieder unter die Horizontgrenze unseres Gedächtnisses hinuntergeht" (S. 2). Während man bisher in einer Biographie eine „bewußt künstlerische Zusammenfassung" oder den „Niederschlag eines jeweiligen Standes exakter Forschung" gesehen habe (S. 2), womit Bertram sowohl den positivistischen als auch den impressionistischen Standpunkt charakterisiert, stellte er die herrische Forderung auf, die ins Auge gefaßte Gestalt von allen historischen Schlacken zu reinigen und in einen wirkungskräftigen Mythos zu verwandeln. Er beschränkte sich daher ausdrücklich auf die verschiedenen „Umkreise seines Denkens", und zwar nicht als ideengeschichtliche Kompen­dien, die in bestimmten Relationen zu anderen Denkern stehen, sondern als geistige Herrschaftsbezirke. Auf diese Weise verwandelte sich sogar die Ge­schichtsschreibung aus einer Wirklichkeitswissenschaft in eine Wertphilo­sophie, die der Welt der Objekte völlig gleichgültig gegenübersteht und sich bloß mit den „Leuchttürmen" der Menschheit beschäftigt. Daß selbst eine solche Haltung, so edel sie ursprünglich gewesen sein mag, ideologisch nicht unbedenklich ist, zeigt sich im Bereich des „Völkischen", wo sich aus diesem Heroenkult eine antidemokratische Führergesinnung entwickelte, die alle positiven Leistungen der Menschheit als Ergebnisse einer forcierten Her­renmoral hinzustellen versuchte und dadurch sogar die Rolle des Genialen ins Antihumanistische verfälschte.

Richard Hamann / Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 4, München 1973, S. 93 - 101
 

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