Die relative
Autonomie des bürgerlichen Individuums
gegenüber der Gesellschaft |
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums
|
Das Individuum, wie wir es nun vor uns haben, ist das
"vorgefundene Resultat der aufgelösten Gesellschaft". Ihm
erscheint die Gesellschaft geradezu "als äußerlicher Rahmen" und
Beschränkung einer erdachten "ursprünglichen Selbständigkeit"
(75). Die Sehnsucht nach der "ursprünglichen Fülle" und der
angeblich verlorenen Individualität sowie das Gefühl der
Zerrissenheit und Rollenhaftigkeit der Person ist selbst ein
verkehrtes Resultat der widersprüchlichen Entwicklung der
bürgerlichen Individualität. Im Traum von der ursprünglichen
Harmonie des Menschen mit sich selbst und zwischen Mensch und
Natur sowie auch in der Ehrfurcht vor allem "organisch
Gewachsenen", schließlich in der damit einhergehenden Kritik an
einem "übertriebenen Individualismus" wird die wirkliche
Zerrissenheit nur ideologisch reflektiert. Diese falsche Kritik
hat in der romantischen Literatur (z.B. Schlegel, Novalis) ihre
ersten Höhepunkte erlebt und begegnet uns heute wieder in der
Aufwertung traditioneller Lebenswelten und des dazugehörigen
Mythos durch die "Postmoderne" (76); ebenso in der
"ganzheitlichen" Ideologie der New-Age-Literatur, der es
ausdrücklich um die Aufhebung aller Zerrissenheiten (zwischen
Subjekt und Objekt, Gefühl und Verstand, Wissen und Moral, Geist
und Materie) geht (77); des weiteren in Gestalt des
Neo-konservatismus mit seiner Aufwertung von "Heimat",
"Vertrautheit", seiner Polemik gegen die hedonistische
Wertorientierung bzw. Maßlosigkeit der Selbstverwirklichung und
seinem Programm der Versöhnung von "großer und kleiner Welt". Zu
erwähnen ist hier auch die politische Ökologie, in deren zentraler
Losung "Natur als Politik" (Amery) Gesellschaftliches zunächst auf
Natürliches zurückgeführt wird, um dann aus den
Naturnotwendigkeiten auf den nötigen Zwang innerhalb der
Gesellschaft zurückzuschließen und dem Individuum die Unterwerfung
unter diese Zwänge als "natürliche Lebensweise" anzuempfehlen
(78). Marx enthüllt solche Verdinglichungen: "Auf früheren Stufen
der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es
eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und
als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse
sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach
der ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der
Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über
den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche
nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz
sie bis an ihr seliges Ende begleiten." (79) Nach Marx ist die
konservativ-romantische Kritik an der Zerrissenheit des
bürgerlichen Individuums also eine typische Begleiterscheinung des
widersprüchlichen Entstehungsprozesses dieser Individualität. Auf
der anderen Seite steht die bürgerliche Apologetik, die die
jeweiligen Formen der Individualität für gut und für das maximal
Erreichbare hält. Es sind dies die (undialektischen) Aufklärer,
die Modernisten, Sozialtechnologen und Pragmatiker. Ihnen hält
Marx vor, daß sie die "verkehrte Welt" doktrinär verdolmetschen
und sich in ihr "völlig zu Hause fühlen." (80) Sie sind die Gegner
einer freien Individualität, "gegründet auf
die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung
ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als
ihres gesellschaftlichen Vermögens ..." (81) Marx unterscheidet
drei große Stufen in der Entwicklung der Beziehung von
Individuum und Gesellschaft: Vor dem Kapitalismus herrschten
persönliche Abhängigkeitsverhältnisse in verschiedener Form
(z.B. Sklaven, Feudalbauern). Die Entwicklung von Individualität
war beschränkt und bevorzugt den Mitgliedern der herrschenden
Klassen möglich. Mit dem Kapitalismus entstehen die materiellen
Voraussetzungen für eine reiche, vielseitige Individualität aller
und zwar durch die erhöhte Produktivkraft der Arbeit, durch die
Schaffung des Weltmarktes und des persönlich freien Lohnarbeiters.
Dies geschieht jedoch in den bereits beschriebenen bornierten
Formen, so daß die entfesselte Individualität in die Sackgasse
undurchschauter Zerissenheit gerät. Eine wirklich freie
Individualität erfordert deshalb die selbstbewußte Kontrolle der
gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, d.h. die Aufhebung
der Verkehrung von Subjekt und Objekt. Weil die gesellschaftliche
Gliederung und auch der Staat beständig aus dem Alltag der
Individuen hervorgehen, d.h. aus ihrem realen Lebensprozeß in
allen seinen Facetten -und im wesentlichen gilt das auch
hinsichtlich der Ideenproduktion -, muß der Lebensprozeß auf eine
andere Grundlage gestellt werden und zwar so, daß die
gesellschaftliche Produktivität gemeinschaftlich kontrolliert
wird, so daß die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt
der politischen Kraft abgetrennt werden muß. "Erst dann ist die
menschliche Emanzipation vollbracht." (82)
Wir haben nun auf der Grundlage der Marx'schen Theorie die
grundlegenden Bestandteile eines (idealen) bürgerlichen
Individuums rekonstruiert. Wir haben verfolgt, wie sich das
Klassenindividuum zum persönlichen Individuum fortentwickelte, wie
in der Figur des Käufers alle Hinweise auf die
Klassenstrukturiertheit der Gesellschaft ausgelöscht wird, wie das
freie Individuum lernt, sich selbst zu beherrschen und wie es sich
gleichzeitig hedonistisch gebärdet. Sodann haben wir gesehen, wie
sich der Nichtarbeitsbereich in eine Privatsphäre (Familie etc.)
und eine politische Sphäre (Staatsbürger) aufspaltet. Dabei wurde
auch auf die verschiedenen Überschneidungen und Rückwirkungen
zwischen diesen einzelnen Individualitätsmomenten hingewiesen. Als
Resultat erhielten wir einen "Schnittpunkt" dieser verschiedenen
Momente und dieser Schnittpunkt ist nichts anderes als das
widersprüchliche aus gegensätzlichen Momenten zusammengesetzte und
daher 'Innerlich zerissene" bürgerliche Individuum. Allerdings
steht es erst vor uns in einer noch sehr allgemeinen Fassung.
Weder wurden seine Gefühle, Empfindungen etc. näher untersucht,
noch wurde eine Realanalyse der heute in der
BRD lebenden bürgerlichen Individuen,
ihrer Lebensstile und Lebensziele, gegeben, weder im Durchschnitt
und erst recht nicht für konkrete Fälle. Auch können die
vereinzelten historischen Andeutungen nicht darüber
hinwegtäuschen, daß die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen,
aus denen dieses Individuum letztlich hervorging, ebenso nur
andeutungsweise geklärt sind wie der Einfluß traditioneller
Denkweisen, der Sprache etc. und überhaupt der relativ autonomen
Ideenwelt. Wir waren bereits bei der Kategorie der
Nichtarbeitssphäre an die Grenzen einer systematischen Ableitung
des bürgerlichen Individuums und seiner grundlegenden
Bewußtseinsstrukturen gestoßen. Die wenigen Aussagen über die
Verhältnisse im Nichtarbeitsbereich, wie auch die Aussagen über
den Staatsbürger betrafen entweder nur die Art des Zusammenhangs
dieser Kategorien mit der Produktionsweise (z.B. "der
Nichtarbeitsbereich ist nur z.T. durch Kompensation
gekennzeichnet, ansonsten gibt es hier eine selbständige Logik"
oder: "der bürgerliche Staat ist nicht aus dem Mehrwert, sondern
aus den praktischen Lebensverhältnissen zu erklären") oder aber,
es handelte sich um Kategorien (und auch um Illustrationen), die
aus anderen theoretischen Bereichen gewonnen wurden (z.B. die
meisten Aussagen über die Handlungen des Staatsbürgers aus der
bruchstückhaft vorliegenden Marx'schen Staatstheorie). Obwohl wir
also auf die Grenzen der Marx'schen Kritik der politischen
Ökonomie gestoßen sind, hat sich andererseits doch gezeigt, daß
- Marx' Analyse viel weiter reicht, als es eine falsch
verstandene "Kapital" -Lektüre nahelegen mag,
- seine Analyse in den Vorarbeiten zum "Kapital" viel weiter
reicht als die drei Bände des "Kapitals" selbst,
- sich auch in Marx' frühen Schriften viele Hinweise darauf
finden lassen, daß er immer bis zu den wesentlichsten
Bestimmungen des bürgerlichen Individuums vorstoßen wollte,
- die Marx'sche Therorie geeignet ist, von "unten her", sehr
nahe an die Bestimmungen des bürgerlichen Individuums
heranzukommen,
- die realhistorische Forschung ebenso, wie eine
materialistische Psychologie, Soziologie, Politologie,
Lebenswelt- und Alltagsforschung etc. bei Marx eine Grundlage
finden, ohne die alles angehäufte und mehr oder weniger
deskriptive Wissen letztlich 'In der Luft" hängen muß,
- der Streit in den Sozialwissenschaften über den Zusammenhang
von "System" und "Lebenswelt" im Prinzip bei Marx gelöst
ist, d.h. daß bei ihm die Art und Weise des Zusammenhangs
geklärt ist. Mehr kann man auch von einer Kritik der politischen
Ökonomie nicht verlangen, aber wer hat schon neben Marx immerhin
dies zu bieten?
Was auf Seiten der an Marx orientierten Wissenschaft noch zu
klären ist, ist natürlich nicht wenig. Nicht nur, daß diese
Darstellung durch Zusammentragen verschiedener Textstellen aus
verschiedenen Zeitabschnitten der Marx'schen Arbeit entstand, so
daß schon dieser Umstand nach einer Fortsetzung und
Vervollständigung der Marx'schen Kritik verlangt: die Auffächerung
und Differenzierung der kapitalistischen Totalität kommt ja
täglich ein Stück voran. Das Marx'sche Werk muß daher wie schon zu
Beginn dieser Arbeit erwähnt - nicht nur vervollständigt (z.T.
auch verbessert), sondern auch "fortgeschrieben" werden. Das
bedeutet nicht eine Verlängerung der Kritik der politischen
Ökonomie in andere Wissenschaftszweige hinein, sondern eine
rückwertige Überprüfung der vorhandenen Kategorien (insbesondere
der Werttheorie) an den neuen Tatsachen. Um den verbreiteten
Fehler eines interessierten Reduktionismus zu vermeiden, müssen
die noch fehlenden "Mittelglieder" (z.B. zum Konkurrenzverhalten
der Lohnarbeiter) herausgefunden werden, soweit dies innerhalb der
Kritik der politischen Ökonomie (die nicht von Dingen, sondern von
Verhältnissen zwischen Personen handelt) möglich ist. Erst wenn
diese Voraussetzungen bestehen, können wirkliche Realanalysen über
den empirischen Produktions- und Reproduktionsprozeß erarbeitet
werden und zwar ohne in den Fehler zu verfallen, den Mehrwert im
Statistischen Jahrbuch aufsuchen zu wollen. Ganz anders ist es mit
den Lebensbereichen, Denkformen etc., die überhaupt nicht oder nur
zum Teil direkt mit der kapitalistischen Grundlage zu tun
haben und daher nicht als 'Verlängerung" der Kritik der
politischen Ökonomie in diese Bereiche hinein untersucht werden
können. Stall einer Reduktion der differenzierten Formen auf "die
Ökonomie" sind aus der Analyse der wirklichen (umfassenden und
geschichtlichen) Welt, die "himmlischen Formen" nicht nur zu
beschreiben, sondern auch begrifflich zu entwickeln. Die Marx'sche
Kritik der politischen Ökonomie steht also zu anderen
materialistischen Sozialwissenschaften weder im Verhältnis einer
"Überwissenschaft" noch in einem Konkurrenzverhältnis. Sie steht
aber in einem Verhältnis der Gegnerschaft zu den
"Vulgärwissenschaften", d.h. zu allen jenen Wissenschaften, die
zwischen Erscheinung und Wesen keinen Unterschied machen und
deshalb z.B. eine Maschine für Kapital und den Staatsbürger für
den wirklichen Menschen halten (83).
Das bürgerliche Individuum in den
Sozialwissenschaften:
"Weltmittelpunkt" für die einen, "gefangen
in den Strukturen "für die anderen
In den Sozialwissenschaften gibt es seit jeher zwei scheinbar
gegensätzliche Ausgangspunkte: 1. "das Individuum" und 2. "das
System" (bzw. "die Struktur"). Ein zentraler Begriff der ersten
Richtung ist das soziale Handeln. Max Weber hat die Formen und
Bestimmungsgründe sozialen Handelns sehr ausführlich entwickelt
(84). Bei ihm ist Handeln ein menschliches Verhalten? das sich
prinzipiell mit einem subjektiven Sinn verbindet und es ist
soziales Verhalten, weil es sich mit dem gemeinten Sinn auf das
Verhalten anderer bezieht. Für Weber folgt daraus, daß die
Menschen verschieden handeln können: zweckrational, wertrational,
affektual und traditional. Diese Handlungstheorie wurde von
Parsons, Mead, Schütz und anderen in verschiedene Richtungen
ausdifferenziert. Während Parsons die Unterscheidung verschiedener
Bezugsebenen (Sozialsystem, Persönlichkeitssystem, kulturelles
System) einführte, und Mead die symbolische Wechselseitigkeit
sozialer Beziehungen betonte, spezialisierte sich Schütz auf das
Thema der Sinnproduktion. Mit dem Begriff der Handlung werden die
Beziehungen zwischen den Individuen als konstitütiv für den
gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden. Das Individuum selbst
ist dabei der Ausgangspunkt. Von Marx wissen wir
inzwischen, daß es sich hier um eine willkürliche Abstraktion
handelt, die darin besteht, eine historisch gewordene
Individualität den Gründen ihrer Entstehung gegenüberzustellen
(85). Ein solches Individuum ist nicht - wie in diesem Aufsatz
versucht -aus dem konkret-historischen Prozeß gewonnen worden,
sondern es wurde, nachdem es fertig war, als unhistorisches
Individuum einfach gesetzt. Das wirkliche Individuum
handelt nicht nur aus freien Stücken. Soweit es z.B. in der
"Rolle" des Verkäufers auf dem Markt auftritt, folgt sein Handeln
notwendig den Marktgesetzen. In diesem Moment ist es
Charaktermaske und sein Handeln ist Handlungszwang (86).
Sicherlich lassen sich Zitate bei diesen Theoretikern finden, aus
denen ihr Wissen um die Geschichtlichkeit der Individualität
belegt werden kann. Trotzdem bleibt es m.E. bei der Verwechslung
von empirischem und theoretischem Ausgangspunkt. Wenn, aber "das
Individuum" erst mal eine reale Figur ist - vorher gab es
auch keine Handlungstheorie - dann macht diese Vorgehensweise
natürlich einen gewissen Sinn. Man nimmt das Individuum wie es
ist, sagt dazu, daß es selbstverständlich innerhalb einer
Gesellschaft ("System" etc.) handelt, sicherlich auch seine
Geschichte hat, streicht die letzte Bemerkung dann als unwichtig
wieder durch und untersucht, wie und warum "der Mensch" das eine
tut und das andere läßt, dabei Sinn und Deutungen produziert, usw.
Zusätzliche Berechtigung erhält diese Vorgehensweise zudem
dadurch, daß die Handlungen und Sinngebungen der Menschen
tatsächlich Geschichte machen, - wenn dies auch nicht völlig
"aus freien Stücken" geschieht. Wenn der Gegenstand der Analyse
"das Individuum" ist, kann man auf jeden Fall niemandem vorwerfen,
er müsse "eigentlich die Ökonomie" untersuchen. Die
Verwechselung von empirischem und theore-tilschem Ausgangspunkt
zeigt sich jedoch spätestens dann, wenn es darum geht, die
Veränderungen des durchschnittlichen Handelns auf ihre
Grundlage zurückzuführen. Es kann sich dann zeigen, daß diese
überhaupt nicht existiert und der ganze "Sinn" in der Luft hängt,
als pures Ideenprodukt dasteht. Die Gesellschaft ist den
bürgerlichen Individuen äußerlich, stellt sich ihnen als
verdinglichte dar. Dem anschauenden (alltäglichen oder
wissenschaftlichen) Bewußtsein erscheinen daher die
gesellschaftlichen Verhältnisse als naturgegebene Sachzwänge,
innerhalb derer dann symbolisch interaklioniert und
kommunikativ gehandelt wird. Das empirisch unmittelbar
erscheinende Handeln des bürgerlichen Individuums ist nur zu
begreifen, wenn dieses Handeln als vermitteltes
entschlüsselt ist. Dabei reiche es nicht, die intersubjektive
Vermittlungsebene (Kommunikation, etc.) zu betrachten, denn das
Ganze des gesellschaftlichen Zusammenhangs ist mehr als bloßes
Aggregat von Individuen: "Die Gesellschaft besteht nicht aus
Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse
aus, worin diese Individuen zueinander stehen."(87) Nimmt man das
bürgerliche Individuum nicht als empirischen, sondern als
theoretischen Ausgangspunkt einer Forschung, so ist man zu einer
Reduktion gewordener bürgerlicher Verhältnisse auf eine
soziale Interaktion mehr oder weniger unterschiedsloser und
gleichberechtigter Individuen geradezu gezwungen. Man kann nun
diesen Fehler auch von der entgegengesetzten Seite her
praktizieren, indem man von der Existenz eines "Systems"
oder einer alles übergreifenden "Struktur" empirisch und
theoretisch ausgeht und das Individuum als "Rädchen im
Getriebe" der großen Systemmaschine bzw. moderner: als
Grundbaustein/Quark im Atommodell, denkt. Im Gegensatz zur
Handlungstheorie mit ihren "Aktoren" erscheint das Individuum nun
bestenfalls noch als Teil einer Gruppe, in deren Handlungssystem
es verstrickt ist. Die Bestandteile der Einzelhandlungen im Sinne
Webers verdichten sich zu "Subsystemen" (z. B. ökonomisches
System, kulturelles System), die wiederum ihre stabilisierende
Rolle für das Gesamtsystem zu leisten haben. Ähnlich ist es beim
Hauptstrang des sozial wissenschaftlichen Strukturalismus,
der alle Phänomenbereiche des sozialen Lebens unter vollkommener
Abstraktion von individuellen Sinnleistungen durch autonome
Systeme von Zeichen, geregelten Strukturen, etc. zu erklären
sucht. Auch wo diese rigorose Ausschaltung von Geschichte
und bewußter Verstandesleistung abgemildert wird (z.B.
Sprache als Substruktur), bleibt ein verdinglichter Gegensatz von
objektiver Struktur und subjektiven Momenten (88). Hier wie dort
wird die reale Autonomie von
Deutungsmustern und Diskursen endgültig verabsolutiert und dann
z.B. als "Zeichensystem" einfach neben das "ökonomische
System" gestellt oder als dessen Teil (Subsystem) gedacht.
Luhmann, zum Beispiel, stellt sich die Welt als eine komplexe
Welttotalität vor, die von der begrenzten Erlebnisfähigkeit nie
vollständig eifaßt werden kann. Auf der einen Seite steht die
unbegreifliche, komplexe "Welt" und auf der anderen Seite der
perplexe Wicht "Mensch". Aus dem Bedürfnis heraus, die Welt
trotzdem zu erkennen, reduziert der Mensch die
Weltkomplexität, indem er ordnende soziale Systeme zwischen die
"Welt" und sich schaltet. Dieses "System" vermittelt nun die Welt
an den Einzelnen. Die Vorstellung, "das Individuum" habe
irgendwann einmal einer komplexen Well gegenübergestanden, ist
selbstverständlich eine sehr schlechte Abstraktion, denn in der
bisherigen Menschheitsgeschichte war die Naturbearbeitung und
-erkenntnis immer von vornherein notwendig gesellschaftlich
vermittelt. Diese scheinbar so konträren Ansätze der
Sozialwissenschaften - hier das handelnde Individuum, dort das
"System" als Ausgangspunkt - verfallen m.E. gleichermaßen der der
bürgerlichen Gesellschaft immanenten Mystifikationsleistung. Was
den Strukturalisten und Systemtheoretikern als Objektivität
imponiert, ist für Marx kein unableitbares Letztes. Auch wo Marx
vom "Primat der Ökonomie" spricht, begreift er "Ökonomie" immer
als etwas Produziertes. Die Pointe gerade hinsichtlich der
bürgerlichen Gesellschaft liegt darin, daß die Objektivität von
subjektiv bewußten Individuen produziert wird, daß aber das
Gesamtresultat ungewollt ist. Die bürgerlichen Menschen sind
unbewußt als Gesamtgesellschaft und deshalb spielen sich
einige Dinge hinter ihrem Rücken ab, obgleich sie bei ihren
konkreten Handlungen bei klarem Verstand sind. Obwohl uns das
Ganze einerseits als gesellschaftlicher Prozeß und als Folge
des bewußten Wollens der Individuen erscheint ("Handeln", "Sinn"),
erscheint es andererseits als objektiver Zusammenhang ("System",
"Struktur"), der naturwüchsig entsteht. "Naturwüchsig"
heißt: aus dem Zusammenprall bewußter
Individuen. "Ihr eigenes produziert
ihnen (!) eine über ihnen stehende, fremde
gesellschaftliche Macht (...) Die gesellschaftliche Beziehung der
Individuen aufeinander als verselbständigte Macht
über die Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht,
Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat
dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche
Individuum ist." (89) Marx kritisiert gerade an der
bürgerlichen Gesellschaft, daß in ihr das Individuum zum
Vollzugsorgan des objektiven Zusammenhangs herabgesetzt
ist. Ausgangspunkt des Denkens kann "der Mensch" deshalb erst
werden, wenn er in der Realität nicht mehr Anhängsel "der
Strukturen" ist. Ob man daher nun die Strukturen oder aber das
Handeln ungeachtet dieses spezifischen Zusammenhangs zum
Ausgangspunkt macht, - in beiden Fällen wird man ungewollt zum
Apologeten des Bestehenden (90).
Individuelle Gefühle, Lebenstile, Habitus
In diesem Abschnitt soll auf einige Auswirkungen der
Verdinglichung auf die "Gefühlswelt" des bürgerlichen Individuums
aufmerksam gemacht werden. Dabei wird auf verschiedene
theoretische Versuche hingewiesen, die sich mit diesen Momenten
des bürgerlichen Daseins beschäftigen. Nach Marx eignet sich der
Mensch "sein allseitiges Wesen auf allseitige Art an, also als ein
totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur
Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen,
Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner
Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form
als gesellschaftliche Organe sind, sind in ihrem
gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum
Gegenstand die Aneignung desselben."^!) Die individuellen
Lebensäußerungen vollziehen sich als Einheit von Denken, Handeln,
Emotionen und Gefühlen: "Wie es kein Gefühl ohne
Konzeptualisierung oder zu mindestens ohne Bezugnahme auf das
Begriffliche gibt, genauso ist kein Denken .. ohne Gefühl
möglich." (92) Die Frage ist nun, wie sich diese Aneignungsweisen
in der bürgerlichen Gesellschaft darstellen? Der Widerspruch
zwischen dem Individuum als Träger von Produktionsverhältnissen
und dem "Freizeitorientierten", hedonistischen Individuum in dem
Nichtarbeitsbereich, berührt ja nicht nur die theoretische Frage
nach dem inneren Zusammenhang der verschiedenen Lebensbereiche,
sondern auch die Gefühlswelt des Individuums selbst. Weil sich ihm
dieser Zusammenhang nur in verdinglichter Weise darstellt, es
andererseits üblicherweise wenig Anstrengungen unternimmt, diese
Verkehrungen zu durchschauen - ganz im Gegenteil - und weil auch
die bürgerlichen Wissenschaften ihm dazu keine Hilfestellung
leisten, - aus diesen Gründen ist die Gefühlswelt des bürgerlichen
Individuums einigermaßen desolat. Der Widerspruch zwischen
zunehmender Differenzierung aller Lebensbereiche (Arbeitsteilung,
neue Bedürfnisse etc.) einerseits und dem zum freien Willen
gewordenen Zwang zur Selbstbeherrschung und zur Einrichtung in den
verschiedenen Sachnotwendigkeiten andererseits, schlägt sich
sowohl in den einzelnen Biographien als auch in den
einzelnen Gefühlslagen nieder. Nebenbei bemerkt spielt hier
auch das kollektive Vergessen eine Rolle, denn geschichtlich
ist die heute zu konstatierende Individualisierung der Person ja
nicht einfach das Resultat "objektiver Trends": Solche Trends
werden immer in praktischen Auseinandersetzungen "vollstreckt"
und zugleich
"modifiziert". Das Bewußtsein der Menschen über ihre
weitgehende Bestimmtheit durch die Produktionsverhältnisse stand
z.B. in Deutschland schon einmal höher als heute. Wichtige
Ursachen hierfür wurden bereits erwähnt: Zerschlagung der
politischen "Arbeiterbewegung" und faschistische Modernisierung
waren Voraussetzungen für das Enstehen des atomi-sierten
"hedonistischen" Individuums in den 50er Jahren. Was die
Gefühlswelt des bürgerlichen Individuums angeht, so könnte man
durchaus erstaunt sein, daß trotz größerem Reichtum und trotz der
Differenzierung der Bedürfnisse und Genüsse heute eher von
Gefühlsarmut die Rede ist. Manche sprechen sogar vom
"Schwinden der Sinne", fordern die "Wiederentdeckung der Gefühle",
die sie dann vor allem unter Umgehung des Kopfes "unmittelbar" im
Körper auffinden wollen (93). Die Rede von der "Gefühlsarmut" ist
aber nur der Auftakt zum Programm der Besinnung auf die "inneren
Werte" des Individuums: "Die Welt der Gegensätze existiert nur in
unseren Köpfen" (94). Indem nun die undurch-schauten äußeren
Widrigkeiten als Ergebnis eines falschen eigenen Umgangs
mit der Welt vorgestellt werden, kann es nur noch darum gehen,
sich zu ändern: Think Pink! Ob man ein Glas Wasser als "halb
voll" oder als "halb leer" bezeichnet, in dieser und ähnlichen
"Sichtweisen" und "Herangehenstechniken" verfängt sich der
bürgerliche Mensch, wenn er sich erst mal dazu entschlossen hat,
den stummen Zwang der Verhältnisse auch subjektiv fortzusetzen.
Erst durch diesen (massenhaften) Entschluß wird die Relativität
aller Sachzwänge aufgehoben und sie werden absolut. Dieser
Entschluß ist eine Leistung des Willens und er wird unter
Einsatz des Verstandes gefaßt. Mit dieser Bestimmung des
Willens sind m.E. zwei Fehler vermieden: Erstens der Fehler, die
Existenz eines freien Willens zu leugnen und zweitens der Fehler
des Voluntarismus, d.h. die Erklärung des Weltganzen allein
aus dem Willen. Gegen beide Fehler halten wir fest, daß sich die
materiellen Bedingungen für das reale Verschwinden der
Mystifikationen mit der kapitalistischen Produktionsweise ebenso
entwickeln, wie auf der anderen Seite die Verdunkelung des
Ursprungs des Mehrwerts und die Verkehrung von Subjekt und Objekt
mit der Teilung der Arbeit, der Ausdifferenzierung des Staates,
etc. vertieft werden. Auf der einen Seite stehen eine zunehmend
bürgerliche Vergesellschaftung sowie auch die das Leben der
Hedonisten verunsichernden ökonomischen Konjunkturen. Auf der
anderen Seite verstärken sich, wie gesagt, die Mystifikationen.
Aber in dem einen wie in dem anderen Fall ist niemand
gezwungen, diesen Mystifikationen sein Leben lang aufzusitzen.
Daß man sich mit ihnen denkend auseinandersetzen kann,
beweist jede Leserin und jeder Leser von Marx. Die subjektive
Fortsetzung der Zwänge muß also nicht sein. Wo sie aber
praktiziert wird, da befestigt sich die
Mystifikation erst recht. Man könnte dann fast von einer
Mystifikation der Mystifikation sprechen. Das einzelne Individuum
kann sich verweigern, aber ob dies auch massenhaft geschieht, das
hängt von sehr vielen - jeweils zu untersuchenden - Umständen ab.
Allein durch Verbreitung "dechiffrierender" Texte wird es auf
jeden Fall nicht gehen, aber auch nicht ohne sie (95). Die
"Verinnerlichung" der realen Zwänge beseitigt also deren
Relativität. An die Stelle der möglichen Revolution der
Verhältnisse trifft die Reform des Verhaltens. Das Programm des
Sich-änderns ist jedoch mit psychischen Kosten verbunden, mit
einem "Radikalismus des Gemüts". Es wäre jedoch vermessen, aus
diesen wenigen Bestimmungen gleich alle Formen des Psycho- und
Körperbooms deduzieren zu wollen, zumal der Prozeß der
Individualisierung durchaus auch als Befreiung von herkömmlichen
Zwängen (Elternhaus, 'Viertel", Berufswahl etc.) erlebt wird (96).
Die Erklärung des Individuums aus sich selbst statt aus der
gesellschaftlichen Totalität ist eine Folge der Mystifikation und
potenziert diese widerum. Auf der einen Seite produziert der
Kapitalismus das an Bedürfnissen. Gefühlen und Emotionen reiche
Individuum, das vor allem außerhalb der Lohnarbeit
"kreativ" ist, "Hobbys" hat, sich Kultur aneignet,
"Körperertüchtigung" betreibt, nach selbstgesetzten Vorstellungen
Liebes- und andere Beziehungen eingeht, usw. Das Angebot und die
Möglichkeiten sind derart vielfältig, daß die Auswahl nicht nur
ein Problem des Geldmangels ist, sondern oft noch mehr eines des
Zeitmangels. Ein Teil des Gefühls der Unbehaglichkeit resultiert
ja tatsächlich aus dem Streß, der bei den Entscheidungen zwischen
unzähligen neuen Platten, Filmen, Büchern, Zeitschriften,
Sportveranstaltungen und Verabredungen entsteht. Der so zwischen
Möglichkeit und Wirklichkeit eingeklemmte Mensch ist aber nicht
nur deshalb "frustriert". Er ist es auch, weil seine
Genußfähigkeit - Essen, Trinken, Lieben, Denken, Hören, Riechen
etc. durch seine Lohnarbeit (körperliche und nervliche
Abnutzung, viele Genüße daher als Kompensation, auch Verlängerung
des Konkurrenzverhaltens in die privaten Beziehungen usw.) wie
durch sein insgesamt unbegriffenes Dasein (Zerissen-heit, "Rollenhaftigkeit",
Mißtrauen gegen den eigenen Verstand etc.) nachhaltig
beeinträchtigt wird. Mißverständnisse und Irritationen,
Nichzurechtkommen mit den wechselnden Bedeutungsinhalten von
Gestik, Mimik, Wortwahl und anderen Zeichen, werden noch gefördert
durch die sukzessive Auflösung klassenstrukturierter Kulturen
(97). Bourdieu beschreibt in seinen Büchern, wie vor diesem
Hintergrund eine z.T. willkürliche Individualität, der Zwang zur
Abgrenzung und daher zur Schaffung symbolischer "feiner
Unterschiede" entsteht. Beziehung und Trennung, Kinder und
Wohnung, Musik und Theater, Alkohol und Drogen, Urlaub und
Gesundheit, Hobby und Weltanschauung, Emanzipation und Tradition,
Charakter und Optimismus, - alles wird in immer erneuerter und
veränderter Mischung zum Material des "Lebensstils" eines
scheinbar völlig aus sich selbst heraus lebenden Individuums. Ob
jemand Tierfreund ist oder Lokalpatriot, ob er (sie) mutig ist
oder eher zurückhaltend, ob er (sie) die Wohnung altenglisch,
postmodern oder bayrisch einrichtet, ob er (sie) sich lässig,
elegant oder herkömmlich anzieht, ob Jazz, Techno, Rap oder
Klassik bevorzugt werden usw., -all dies unterliegt im Prinzip
keinen Klassen- oder Lokalschranken.
Anmerkungen
75) Marx, Zur Kritik der Hegeischen
Rechtsphilosophie, S.366ff und ökonomisch-philosophische
Manuskripte, S.539 zur "ursprünglichen Selbständigkeit"
76) vgl. Imhof, Die verlorenen Welten
und Heinrich, K., Vernunft und Mythos
77) Die Ideologie der Ganzheitlichkeit
geht auf das Buch "Die holistische Welt" von J.C Smith, von
1939-1948 Außenminister von Südafrika (!) zurück. Ähnlich auch der
allgegenwärtige Capra "Das Tao der Physik".
78 )vgl. Amery, Natur als Politik
79) Marx, Grundrisse, S.80
80) Marx, Kapital III, S.825 und 838
81) Marx, Grundrisse, S.75
82) Marx/Engels, Deutsche Ideologie,
S.370
83) siehe hierzu die Polemiken von Marx
und Engels gegen Parteilichkeit in der
Forschung: MEW 36, S. 198, MEW 13, S.471, MtW 3, S.35, MEW 20,
S.117 und 124.
84)vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft und Giddens,
Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, S.86
85)vgl.MEW13,S.615
86)siehe Strubar, L, Konstruktion sozialer Lebenswelten bei
Marx, S. 190
87) Marx, Grundrisse, S.176
88)siehe Schiwy, G., Der französische Strukturalismus
89) Marx,Grundrisse,S.111
90) Schmidt, A., Der strukturalistische
Angriff auf die Geschichte
91) Marx, Ök.-phil. Manusk., S.539
92) Heller, Theorie der Gefühle, S.40
auch Strubar, S.181
93) vgl. Adorno/Horkheimer, Dialektik
der Aufklärung, dort speziell das Kapitel zu "Interesse am
Körper".
94) vgl. Kothe,H., Friedfertigkeit als
Therapie, S. 184
95 )siehe Marx, Grundrisse, S.77 und 635
und MEW33,S.332
96) Der Prozeß der Indiv. wird mit gutem
Grund auch als Befreiung von Zwängen erlebt.
97) siehe Willis,P., Spaß am Widerstand
und Pasolini, Freibeuterschriften
Editorische
Anmerkungen
Die Unterstreichungen
sind im Erstdruck so vorgegeben.
Der vorliegende Text erschien
in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL links & radikal, Nr. 94,
1993, S. 27ff, OCR-Scan by red. trend
Die SPEZIAl-Säzzer schreiben in dieser Ausgabe als Anmerkung: Diese Anmerkungen enthalten lediglich vergleichende Quellenhinweise. Die
Liste mit den
vollständigen Anmerkungen des Autors schicken
wir auf Wunsch gerne zu.
Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter
Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und
Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt.
Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches
Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem
Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag)
nachgedruckt wurde.
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