Betrieb & Gewerkschaft
Die Potentiale alternder Menschen nutzen statt plündern!

von Antonín Dick

09/11

trend
onlinezeitung

Die Vorgänge um die Exsikkose meiner Mutter Dora Dick mit fast tödlichem Ausgang sind inzwischen aufgeklärt worden. Beschwerden sind dem Berliner Pflegedienst vita: bless, der Barmer Krankenkasse, der Abteilung Soziales und Sport des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen sowie der pflegepolitischen Sprecherin der Fraktion der LINKEN im Berliner Abgeordnetenhaus zugeleitet worden: eine ausführliche Stellungnahme zu den lebensgefährlichen Vernachlässigungen des Pflegedienstes vom 07. 04. 2011, eine ausführliche Evaluierung der Pflegedokumentation vom 12. 04. 2011 sowie eine Dreizehn-Punkte-Analyse des eklatanten Fehlverhaltens des Pflegedienstleiters vom 21. 04. 2011.

Die genannten wissenschaftlich-medizinischen Arbeiten förderten dabei eine unheilvolle Mischung aus pflegerischem Dilettantismus, Unterversorgung, schwerer Vernachlässigung, Leistungsbetrug via Arbeitsminutendiebstahl, psychischer Misshandlung, Fehlern in der Pflegeplanung, Mängeln an Kontrolle der erforderlichen Nahrungsaufnahme, schludriger medizinischer Versorgung, sozialer Isolierung, Einschüchterung der Pflegekräfte, Unterdrückung von Pflegekritik und Tendenzen zur Ausgrenzung des Angehörigen zutage. Die Gesellschaft stellt für diese Pflege großzügig einen Betrag von 6.000 EURO zur Verfügung, weil meine Mutter eine Überlebende des Holocaust ist.


Geduckt und ausgerupft
Radierung von Francisco Goya (1746 – 1828)
aus seinem Zyklus „Caprichos

Die Untersuchungen und Fachdebatten sind noch im Gange, doch jetzt schon ist eines zweifelsfrei deutlich geworden: Der entscheidende Antrieb zur Tätigkeit dieses Pflegedienstes ist, wie mehrfach nachgewiesen werden konnte, nicht etwa die optimale Gestaltung des Lebens eines schwerstpflegebedürftigen Menschen der Pflegestufe III, sondern die Gewinnmaximierung. So ziemlich alle gesellschaftlichen Normen und Rechtsvorschriften, die für die Pflege und Versorgung eines alternden Menschen in der Bundesrepublik Deutschland relevant sind, sind durch diesen Pflegedienst verletzt bzw. durchbrochen worden:

  • Artikel 1, Artikel 2 und Artikel 6 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 11 Abs. 1 Pflege-Versicherungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 3 Altenpflegegesetz der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 2 Abs. 2 Krankenpflegegesetz der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 2a Fünftes Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 15 Abs. 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 2 Abs. 5 und 6 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 1 Abs. 3 Gesundheitsdienstreformgesetz des Landes Berlin,

  • § 4 Abs. 4 des Seniorenmitwirkungsgesetzes des Landes Berlin,

  • Artikel 23 (Das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz) der Revidierten Europäischen Sozialcharta, Artikel 22 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,

  • § 10 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges der Bundesrepublik Deutschland,

  • § 10 Abschnitt 3 des Gesetzes über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus und der Abschnitt „The Welfare of Holocaust (Shoah) Survivors and other Victims of Nazi Persecution“ der Theresienstädter Deklaration vom 30. 06. 2009.

Nicht unwichtig zu erwähnen, dass der zu einem Großunternehmen sich allmählich auswachsende Pflegedienst vita: bless bereits in den Medien auffällig geworden war kraft Fernsehbeitrag des Radios Berlin-Brandenburg vom 05. 08. 2010 über menschenrechtswidrige Praktiken in der Altenpflege.

Der Höhepunkt des pflege- und rechtswidrigen Verhaltens von Geschäfts- und Pflegedienstleitung dieses Pflegedienstes wurde erreicht, als Geschäfts- und Pflegedienstleitung nach der lebensbedrohlichen Gefährdung meiner Mutter durch ihre Fehlpflege die Flucht aus der Verantwortung antraten. Sie kündigten unmittelbar nach der Klinikeinweisung meiner Mutter gegen ihren Willen und gegen den Willen der Belegschaft kurzerhand den Pflegevertrag und warfen sie zurück auf den Pflegemarkt. Diese Ungeheuerlichkeit war möglich, weil ein Pflegevertrag für ambulant zu Pflegende bundesweit so ausgestattet ist, dass ihm jeder Autoreparaturvertrag haushoch überlegen ist: Die Kündigung muss nicht begründet werden, es gibt kein Widerspruchsrecht, keine Klagemöglichkeit, keinerlei rechtlichen oder sonstigen Schutz.
Meine Mutter, die inzwischen das gesegnete Alter von einhundert Jahren erreicht hat, konnte jedoch in einer konzertierten Aktion verschiedener gesellschaftlicher Partner gerettet werden. Dazu gehören vor allem der Berliner Vorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der für meine Mutter zuständige Sozialreferent der Abteilung Soziales und Sport des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin.

Wir, meine Mutter Dora Dick und ich, sind allen Partnern unendlich dankbar. Nicht zuletzt danken wir ausdrücklich der Redaktion der online-Zeitung TREND. Sie war es, die die Öffentlichkeit bezüglich dieser menschenverachtenden Praxis eines Pflegedienstes alarmierte (TREND, 04 / 2011).

Engagierte Leser wurden telefonisch oder brieflich bei dem verantwortungslosen Pflegedienst vorstellig. Zuständige Behörden des Senats von Berlin konnten so umfassend und in fachlich aufbereiteter Form informiert werden.

Der an einem Menschen schuldig gewordene Berliner Pflegedienst vita: bless ist kein Einzelfall. Meine Mutter wurde bereits im Jahre 2007 wegen extremer Unterversorgung eines Pflegedienstes mit der Diagnose Exsikkose (Austrocknung des gesamten Körpers) in ein Krankenhaus eingeliefert. Exsikkose scheint in Berlin die Standardvernachlässigung von alten Menschen durch ambulante Pflegedienste zu sein, wie etliche Gespräche mit Pflegekräften anderer Pflegedienste und Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen ergeben haben. Im Jahresbericht der Berliner Feuerwehr für 2010 gibt es massive Beschwerden über das Zuschanzen von Verantwortung für schwere pflegerische Versäumnisse, für die eigentlich die Pflegeeinrichtungen haftbar zu machen sind. Der Berliner Landesbranddirektor Wilfried Gräfling dazu: „Natürlich sind wir da, um Menschen zu helfen, aber hier findet eindeutig eine Verschiebung der Lasten statt.“

Natürlich ist diese Entwicklung im Land Berlin alles andere als akzeptabel. Aber worin könnte der Ausweg bestehen? Wir sind dazu verurteilt, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner von Veränderungsmöglichkeiten zu suchen – bei Strafe des Eingeständnisses, versagt zu haben, indem wir die Überzeugungen von Humanität und Solidarität, die Ideen der Aufklärung, die die geistigen Fundamente unseres Gemeinwesens bilden, selber nicht mehr ernst nehmen.
Gespräche mit kritischen Pflegekräften, mit Angehörigen, mit hilfebedürftigen Menschen im hohen Alter, mit Verantwortungsträgern verschiedenster Ebenen und Tätigkeitsfelder unseres Gemeinwesens lassen die folgenden vier Minimalforderungen als sinnvoll erscheinen. Als Anfang, dem weitere Schritte behutsam folgen müssten. Als Umkehr in einer verfahrenen Situation der Hilfe für alternde Menschen in Zeiten radikaler Privatisierung gesellschaftlicher Lebenstätigkeit. Als Einstieg in eine Modernisierung unseres Umgangs mit den existentiellen Problemen des Überlebens von alternden, pflegebedürftigen Menschen.

Diese vier minimalen Schritte echter gesellschaftlicher Verantwortung für eine menschenwürdige Gestaltung der Lebensbedingungen hilfebedürftiger, alternder Menschen, die in dieser Stadt durch ambulante Pflegedienste zu Hause versorgt werden, lauten:

1. Einrichtung einer senatsgestützten, unabhängigen Beobachtungsstelle für ambulante Pflegetätigkeit zwecks Kontrolle der Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte im Rahmen der ambulanten Pflege und Versorgung für Tausende von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen

Dieser Vorschlag ist bereits im Sommer 2010 im Abschnitt 3 der pflegepolitischen Skizze „Perspektivüberlegungen zur Humanisierung der ambulanten Altenpflege im Bundesland Berlin“ entwickelt und bei TREND ( 06 /2010) veröffentlicht worden. Den pflegepolitischen Sprechern aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien ist im Sommer 2010 diese Expertise zugeleitet worden. Jetzt stellt einer der politischen Verantwortlichen dieser Stadt, der Sozialstadtrat im Stadtbezirk Berlin-Neukölln Michael Büge (CDU), erstmals öffentlich dieselbe Forderung auf. Um Abrechnungsbetrug in Millionenhöhe allein in diesem Stadtbezirk und mafiöse Strukturen im Pflegesektor wirksam bekämpfen zu können, „fordert Büge einen zentralen Kontrolldienst für den ambulanten Pflegesektor. Außerdem müsse das Land Berlin unverzüglich die Verträge mit den jeweiligen Pflegediensten kündigen, sobald derartige Missstände festgestellt würden. Er halte es zudem für sinnvoll, eine zentrale Anlaufstelle einzurichten, an die sich Betroffene anonym wenden könnten.“ (rbbonline, Nachrichten vom 07. 09. 2011) Auch der Pflege-Experte von Ver.di Michael Musall fordert eine solche Kontrollinstanz: „Für diesen unkontrollierten Markt brauchen wir eine Landesbehörde“, sagte er. „Ähnlich der Heimaufsicht.“ (Tagesspiegel vom 09. 09. 2011, zitiert nach Hannes Heines Artikel im Berlin-Teil „Zentrale Kontrollen für Pflegedienste gefordert“)


2. Demokratisierung des Pflegevertrages, der zwischen einem pflegebedürftigen Menschen und einem ambulanten Pflegedienst abgeschlossen wird


Dieser Vorschlag ist bereits in der Nachbemerkung zum Kongress zur Pflege-Charta „Der Pflegevertrag des pflegebedürftigen Menschen, die Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers und die Charta der Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen“ entwickelt und bei TREND (07 – 08 / 2010) veröffentlicht worden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist im Musterpflegevertrag des Verbandes der ambulanten Pflegeeinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland der pflegebedürftige Bürger aller Rechte beraubt und der Willkür der Geschäftsführungen der Pflegedienste ausgeliefert, was unter anderem zur Folge hat, dass dringend benötigte kollektive Lernprozesse von Pflegekräften, pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen von vornherein unterbunden werden.


3. Einrichtung eines öffentlichen Forums über die Qualität und fachliche Kompetenz von ambulanten Pflegediensten

Nach dem Vorbild der öffentlichen Lebensmittelkontrolle, wie sie kürzlich das Verbraucherministerium der Bundesrepublik Deutschland eingeführt hat, sollte ein öffentliches Forum zur Diskussion und Evaluierung der Tätigkeit der ambulanten Pflegedienste Berlins eingerichtet werden (siehe dazu auch den Kurzbeitrag „Pflegevertrag und Menschenrechte“ von Antonín Dick in der „jungen Welt“ vom 22. 07. 2011).

4. Entwicklung der sozialen Kontrolle in den Wohngebieten, getragen von den Bürgern selbst

Grundlage der sozialen Kontrolle ist nach diesem Vorschlag die freiwillige Nachbarschaftshilfe in den Wohngebieten der pflegebedürftigen Menschen. Überlegungen zu diesem Gedanken der natürlichen Solidarität der Menschen sind bereits im Sommer 2010 im Abschnitt 3 der pflegepolitischen Skizze „Perspektivüberlegungen zur Humanisierung der ambulanten Altenpflege im Bundesland Berlin“ entwickelt und bei TREND ( 06 /2010) veröffentlicht worden.


Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Was hier „Modernisierung unseres Umgangs mit den existentiellen Problemen des Überlebens von alternden, pflegebedürftigen Menschen“ genannt wird, ist streng genommen nichts weiter als eine Umkehr. Statt den alternden Menschen, der plötzlich Hilfe braucht, zum Gegenstand von Kalkulationen über die beste Möglichkeit zu seiner Ausplünderung herabzuwürdigen, wie dies nicht wenige Pflegeeinrichtungen praktizieren oder wenigstens zu praktizieren versuchen, sollte der Weg zurückgegangen werden zu einer vollen Anerkennung der Würde des alternden Menschen, zu einer Anerkennung des geistigen Potentials, das der alternde Mensch verkörpert, zu seinen ontologischen Energien, zu seinen schöpferischen Möglichkeiten, zu seiner Sprache, zu seinem historischen Gedächtnis, das zum Archiv einer Gesellschaft gehört, auch wenn es unbequem ist, ohne das eine Gesellschaft auf Dauer keinen Bestand haben wird. Schon die Langsamkeit, die der alternde Mensch entwickelt, um überleben zu können, ist eine der tiefsten Kritiken, die an der gängigen Lebensweise des raschen „Nimm, was du abfassen kannst!“ geübt wird. Aber der alternde Mensch mit seiner typischen Langsamkeit ist wehrlos, und die Kritik kommt nicht an. Ein Zustand muss her, der unsere fundamentale Abhängigkeit von der Weisheit des alternden Menschen für immer manifest macht. Ein solcher Zustand würde den gegenwärtigen Zustand von Altenpflege mit ihren sattsam bekannten, die Gesellschaft tagtäglich ins geistige Tierreich zurückbombardierenden Geldmechanismen revolutionieren.

„Alles Wertvolle ist wehrlos“, sagte einmal der niederländische Dichter Lucebert. Heute steht sein Vers in großen Neonbuchstaben auf dem Gebäude einer Versicherungsanstalt in Rotterdam. Rotterdam war von der Deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden. Lucebert wurde als junger Mann von der Gestapo verhaftet und ins „Reich“, nach Wittenberg an der Elbe, zur Zwangsarbeit deportiert.
 

Editorische Hinweise

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