Friesengeschichten
Die Ostsee singt - die Nordsee schweigt

von Helmut Höge
10/05 trend onlinezeitung

"Grüß dich, alter Ozean!" (Lautréamont)  

Der Schweizer "Weltwoche"-Korrespondent Christoph Neidhardt legt in seinem Buch "Ostsee" die Vorstellung nahe, daß es sich dabei um ein Meer der Gesänge handelt. So spricht er z.B. von der "singenden Revolution der Esten", die in ihrer Hauptstadt im übrigen das größte "Gesangs-Stadion" der Welt errichteten. Aber auch im lettischen Riga wurde bei der Konstituierung der dortigen Volksfront "immer wieder gesungen". Zusammen hätten die beiden Völker "die Fronten der im Kalten Krieg erstarrten Ostseewelt" regelrecht "zersungen" - was dort aber quasi Tradition habe. Zu Zeiten der Hanse konnten "fahrende Spielleute und Ratsmusiker in jeder Stadt an der Ostsee arbeiten". Vor allem die baltischen Städte "zogen viele wandernde Musiker an". Gesungen wurde an der Ostsee bereits lange vor der Christianisierung: "Auf den Dörfern wurde mit Drehleiern, Strohfideln, Trummscheiten und Sackpfeifen musiziert." Elias Lönnrot in Karelien und Friedrich Reinhold Kreutzwald im Baltikum sammelten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts dörfliche Liedtexte..."1990 rappten die jungen Rigaer für Lettland". Die Esten sagen rückblickend, sie seien während der Sowjetzeit in ihr "Liedgut emigriert". Heute touren "ihre Chöre um die ganze Welt".  

Ich ergänze: In Litauen wurde 1991 der Komponist Vytautas Landsbergis zum Staatspräsidenten gewählt und wenig später ein Matrosen-Punksong zur Quasi-Nationalhymne erkoren. Die Polen und Russen haben bekanntlich schon immer gerne gesungen, die Finnen sind geradezu tangovernarrt, die Schweden mischen spätestens seit Abba in der internationalen Musikscene mit und in Dänemark kennt man ebenfalls viele lustige Lieder. Im ostelbischen Deutschland hatte zuletzt das sozialistische Liedgut ein Zuhause und die Wende wurde dort - mindestens in der Heldenstadt Leipzig - von einem Dirigenten namens Kurt Masur angeführt.  

Neben der Gesangskunst, die am Mare Balticum gedeiht, arbeitet der Autor Christoph Neidhardt aber auch noch heraus, daß die Ostsee a) "ein Milchsäuremeer" und b) "eine See der starken Überzeugungen" ist - gemeint sind vor allem Sozialdemokratismus und Bolschewismus, ferner, daß man dort überall gerne Kaffee trinkt. Und dann steigt auch noch das Land ringsum langsam aus dem Meer empor.  

Genau umgekehrt ist es an der Nordsee: hier handelt es sich bei den Küstenstreifen durchweg um sinkendes Land. Statt Kaffee bevorzugt man Tee. Und von den Bewohnern des "Mare Frisicum" behauptete bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus kategorisch "Frisia non cantat!" Seitdem haben unzählige Volkskundler und Regionalforscher den Beweis erbracht, daß die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut besitzen, sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür haben sie anscheinend eine Begabung für die Mathematik: "Am ausgesprochensten ist der Sinn der Friesen für Rechnen", schreibt der Friesenforscher Rudolf Muus. Erklärt wird dies u.a. damit, dass das in drei getrennten Nordsee-Regionen - Hollands, Niedersachens und Schleswig-Holsteins - siedelnde Küsten- und Handelsvolk keine einheitliche Sprache hat, so daß die Verständigung immer über eine vierte - Hochsprache - erfolgen muß.  

Dennoch oder desungeachtet waren die Friesen fast immer frei: Sie haben mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird ihnen quasi offiziell bescheinigt: "omni jugo servitutis exuti" - Sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen. "Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus," schreibt der Groninger Historiker I.H.Gosses: "Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern". In dem die "Amtsgewalt nicht von oben - von einem Grafen, der den König vertritt, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde" hervorgeht, deren Bemühungen schließlich in das kodifizierte Stammesrecht "Lex Frisiorum" münden.  

Im politischen Kampf um den Erhalt der "friesischen Identität" war noch 1848 der Schriftsteller Theodor Storm in das ihm verhaßte preußisch-deutsche Exil abgetrieben worden, nachdem das dänische Heer die "schleswig-holsteinische Freiheitsbewegung" zerschlagen hatte. Auch als dann einige Jahrzehnte später Preußen an der "Düppeler Schanze" die Dänen zurückschlug und Storm als Landvogt im Triumph nach Husum heimkehrte, konnte er sich nicht recht über diese Fremd-"Befreiung" freuen. Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute sauber zu unterscheiden. So antwortete mir z.B. der Emder Bürgermeister, auf die Frage, was er früher gewesen sei: "Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber dann auch in Deutschland: vier Jahre - in Köln, dann bin ich jedoch wieder nach Emden zurückgegangen".  

Diese Behaarlichkeit der Friesen erklärt die Forschung damit, daß sie in den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln: "Deus mare, Frisio litora fecit" so sagen sie es selbst: Gott schuf das Meer - und die Friesen die Küste! Diese wenig christliche, selbstbewußte Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Partisanenkampf, Piraterie und Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen versucht, sie hatte dort denn auch mancherorts schon Schwierigkeiten, den Zehnt einzutreiben, auf Sylt z.B., und ihr altes heinisches Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie Zone.  

Wiewohl Bauern, Händler und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung - durch den Bau von Deichen gegen die Flut und Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. Das Husumer Nissenmuseum - einst von einem friesischen Auswanderer, der in Amerika reich wurde, gestiftet - ist deswegen auch vor allem ihrer Deichbau-Kunst gewidmet. Ein anderer Auswanderer - nach Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die Eindeichung eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs (Polder in Westfriesland genannt), inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe. Und der Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem mit seinem Deich-Drama "Der Schimmelreiter" bekannt. Umgekehrt benannte man einen nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem Novellen-Held, den Deichprojektierer "Hauke Haien".  

Mit einer seltsam sturen Leidenschaft versucht dieses stets entlang der Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk allen Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu bieten. Inzwischen hat ihr "Projekt" - über die Jahrhunderte hinweg - "etwas absolut Extravagantes" im Sinne einer "poetischen Erfindung", eines "Unternehmens von großer tragischer Thematik" bekommen, wie der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli im "Corriere della Sera" 1985 schrieb. Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses "armselige Volk", das auf "hohen Erdhügeln" in Schilfhütten lebt und mit "getrocknetem Kot" seine kärglichen Speisen kocht, damit sich "ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen". Bei Flut, "wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern, Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind". Dennoch wollten die Friesen sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern unterwerfen: "wahrlich," schloß Plinius, "viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe".  

Indem sie dann jedoch - ausgehend von den Flussläufen - anfingen, das Land einzudeichen, die Moore und Sümpfe trocken zu legen und neues, künstliches Land zu schaffen, verzichteten sie erst auf die Wohnhügel (Wurten bzw. Warfen genannt) und dann auch auf Haufendörfer. Gleichzeitig entstand durch die Notwendigkeit des andauernden Deichbaus und - erhalts ein enger - kein völkischer, sondern ein eidgenössischer - Zusammenhalt, der sich u.a. in einer Kollektivmoral gegenseitiger Hilfe äußerte: "Wer nicht will deichen - muß weichen!", gleichzeitig aber auch eigenwillige Konfliktlösungsstrategien hervorbrachte sowie grüblerische Charaktere.  

Bei Sturm geht der Friese auf den Deich und schaut schweigend über das tosende Meer. Aber auch sonst, während man sich z.B. in Süddeutschland, vor allem in Wien, lärmend auf der Couch wälzt und an der Ostsee anfängt zu singen - heißt es in Friesland: Wo Blanker Hans war - soll Ich werden!  

Schon Sigmund Freud griff bei der Beschreibung des Prozesses der Ich-Bildung auf eine friesische Deichbau-Leistung zurück, als er die Notwendigkeit zur Sublimation, d.h. der Kulturarbeit, mit der "Trockenlegung der Zuidersee" verglich. Wilhelm Reich hat demgegenüber dann, von Kopenhagen und Oslo aus, eher die Notwendigkeit der genitalen Befriedigung, d.h. das Sich Verströmen und Fließen Lassen, ein "ozeanisches Gefühl", betont. Eine derartige Wunschpolitik müßte laut Klaus Theweleit in die antifaustische Formel münden: "Wo Dämme waren, soll (wieder) Fluß werden!"  

Der Friese gönnt sich eine solche Deterritorialisierung nur in Form des Fernwehs, dem er dann als Seefahrer auch immer wieder nachgibt. Dieser Sturm und Drang rechtfertigt sich dadurch, daß das friesische Ich zu großen individuellen Leistungen vor allem im Ausland fähig ist. Im "Inneren" setzt dem die altehrwürdige Kollektiv-Ökonomie Grenzen. Das ist der Kern der berühmten Stormschen Novelle über das Scheitern - "Der Schimmelreiter": "Als Exponent der von Storm so hoch geschätzten Selbstverwaltung ist der Deichgraf auf demokratisches Miteinander angewiesen; Hauke Haiens Verhältnis zu seinen Dorfgenossen aber ist gestört," schreibt der Stormbiograph K.E. Laage. Storm selbst spricht von "der Ehrsucht und dem Haß" in seinem Herzen. Gerade als er eine neue - flache - Deichkonstruktion, die heute nebenbeibemerkt überall zu finden ist, durchsetzen will, gerät er "in Gegensatz zu seinen Freunden" - und scheitert.  

In der berühmten fast dokumentarischen Verfilmung der Novelle - aus dem Jahr 1933 - wird diese Handlung an einigen wenigen aber entscheidenden Stellen zugunsten des "Führergedankens" verändert. Dadurch bekommt das Stormsche Drama ein Happy-End - und aus dem menschlich-fragwürdigen Deichgrafen, der zuletzt bereut, wird ein rundum positiver Held - der Neuen Zeit, dem Nationalsozialismus, vorauseilend. Auf diese reagierte man in den drei friesischen Siedlungsräumen dann jedoch durchaus unterschiedlich: Die militante, autonome Landvolkbewegung der reichen nordfriesischen Bauern (Gräser) Ende der Zwanzigerjahre verschwand fast sang- und klanglos im "Reichsnährstand", nachdem die sozialdemokratische Regierung ihre Aktivisten kriminalisiert hatte. Die eher proletarisch orientierten Ostfriesen verschanzten sich in Mikropolitik. Und die Westfriesen wagten den Widerstand, indem sie Teile ihres eingedeichten Landes unter Wasser setzten, Sabotage verübten und Juden vesteckten. Von den 120.000 holländischen Nazi-Kollaborateuren waren 5000 Friesen, aber auch von diesen gingen nur wenige so weit, dass sie ihre Nachbarn verrieten - und deswegen nach dem Krieg hingerichtet wurden.  

Wenn immer wieder betont wird, dass die Friesen dem Singen abhold sind, dann hängt dies mit ihrer gemeinschaftlichen Position in der Ambivalenz zusammen - zwischen Verlockung und Furcht gewissermaßen eingeklemmt. "Die ganze Küste ist äußerst labil", urteilt der Kölner Historiker Otto Jessen. Vom Land her droht Unterwerfung, verbunden jedoch mit verheißenem Wohlstand. Während die Seeseite mit neuen (Siedlungs-)Räumen lockt, im Sturm aber auch alles verschlingen kann. "Nordsee ist Mordsee", so hieß einmal ein Jugendfilm von Hark Bohm. Es gab eine lange Zeit, in der Friesland wegen der Sümpfe und Moore leichter von der See als von Land her erobert werden konnte.  

In dem berühmten "Freesenleed" heißt es:  

"wo de Möwen schrien, hell in't Stormgebruus,  
dor is miene Heimat, dor bün ick to huus.  
Well'n un Wogen sungen dor mien Weegenleed,  
un de hogen Dieken kenn't mien Kinnerleed,  
kenn'n ook all mien Sehnsucht, as ick wussen weer,  
in de Welt to fleegen, över Land un Meer."  

Das "Friesenlied" schrieb eine Frauenzeitungsredakteurin im Jahr 1907 - die sinnigerweise aus dem Ostseebadeort Zingst am Darß stammte. Ein in München lebender Flensburger (!) brachte es dann nach Zürich (!), wo ein Arbeitergesangsverein es vertonte. Daneben gibt es noch mehrere hochdeutsche "Ostfriesenlieder" sowie auch ein holländisches Friesenlied, das in den Niederlanden als Wiegenlied bekannt wurde. Aber auch in jenem "Freesenleed", das gewissermaßen die Ostsee den Friesen andichtete, singen nur Möwen, der Sturm und das Meer - kein Mensch. Und an die Gesänge der Mutter kann dieser sich auch nur noch vage erinnern: angesichts des männlich-mächtigen Damms ringsum - lange nach "Deichschluß", wie man den dramatischen Abschluß einer Landgewinnungsmaßnahme nennt, der früher in ein Tieropfer gipfelte. Im Lied werden ihm nun die Jugendträume dargebracht.  

"Sich (damit) abfinden und gelegentlich auf Wasser sehen," riet Dr.Gottfried Benn aus Landsberg/Gorzów. Laut Rudolf Muuß, einem Pastor aus Stedesand, redete ein friesischer Bauer in den Zwanzigerjahren seinem Sohn die Sehnsucht in die Ferne mit den Worten aus: "Mien Söhn, wat wullt du dor buten? Hier is de Masch und de ganze annere Welt ist bloots Geest". Noch im Jahr 2004 bestätigte der junge Dithmarschener Bauer und Filmregisseur Detlev Buck diese altfriesische Welt- und Weitsicht, als er - in der taz - schrieb: "Bin einmal um die Welt geflogen, hab gemerkt, das ist ja nicht viel, worum sich's dreht, und - Mann, da ist ja viel Wüste, mehr als alles andere. Und habe beschlossen, verdientes Geld aus der Filmunterhaltung in Land anzulegen."  

Nicht nur die Friesen lockt das Meer (das im Französischen gar mit dem Wort Mutter ineins klingt) in Form verführerischer Frauen, die man Nixen oder auch Meerjungfrauen nennt. Die Dänen haben solch eine gar zum Wahrzeichen ihrer Ostsee-Hauptstadt gemacht - so als wäre diese die Frucht einer glücklichen Verbindung zwischen Land- und Meeresbewohnern. Als solche begreift sich im übrigen auch das kleine sibirische Volk der Niwchen, das am Ochotskischen Meer lebt und eine Meer-Frau als Urahnin verehrt. Neuerdings besitzt auch das Ostseebad Boltenhagen eine bronzene Nixe, die auf einem Findling im Meer sitzt, sie schaut allerdings nicht wie die Kopenhagenerin aufs Wasser, sondern "etwas unbestimmt in Richtung Ufer", wie die FAZ schreibt.  

Noch im 18. Jahrhundert hatte der dänische Anatom Caspar Bartholin diese Wassernixen zusammen mit den Menschen und Affen als "homo marinus" klassifiziert. Den Friesen locken jedoch selbst diese notorischen Sängerinnen nicht mit Liedern aufs Meer oder in die Tiefe - im Gegensatz zu den vielen Kulturträgern oben auf der Geest.  

Angefangen mit den homerischen "Sirenen" des Odysseus, der seiner Schiffsmannschaft die Ohren verstopfte, um sie vor deren "verderblichen Gesang" zu retten. In Goethes Gedicht "Der Fischer" ist es dann ein "feuchtes Weib", das dieser vor sich im Wasser auftauchen sieht: "Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;/ Da war's um ihn geschehn:/ Halb zog sie ihn, halb sank er hin/ Und ward nicht mehr gesehn." In Heinrich Heines berühmten Gedicht über "Die Heimkehr" wird aus den Sirenen eine langhaarige Flußnixe: "...Ich glaube, die Wellen verschlingen/ am Ende Schiffer und Kahn;/ Das hat mit ihrem Singen/ die Loreley getan". Auch in dem mehrfach als Oper und Ballett auf die Bühne gebrachten romantischen Märchen von Friedrich de la Motte Fouqué "Undine" umwirbt eine kleine reizende Nixe aus dem "Mittelländischen Meer" einen Mann mit Gesang: um durch Vermählung mit ihm in den Genuß einer Seele zu kommen. Nachdem er sie als Hexe beschimpft hat, verschwindet sie jedoch wieder im Wasser, d.h. "verströmt sich" - um ihn zuletzt mit einem zärtlichen Kuß in den Tod zu befördern. Der Autor hat sich dabei von einer Schrift des Paracelsus aus dem Jahr 1590 inspirieren lassen: das "Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus", das zunächst die allerchristlichsten Hexenverfolger auf die Idee der "Wasserprobe" gebracht hatte. De la Motte Fouqués "Undine" war dann Vorbild für Hans-Christian Andersens "kleine Meerjungfrau", und zuletzt für Ingeborg Bachmanns frühfeministische Erzählung aus dem Jahr 1961: "Undine geht". Auch hier wendet sich die Frau, wieder "unter Wasser", noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die Männer - "Ungeheuer" und "Verräter" allesamt. Neuerdings hat eine feministische amerikanische Anthropologin mit dieser Idee von der singenden Undine als homo marinus noch einmal Ernst gemacht. Laut Elaine Morgan waren es die Frauen, die nach Verlassen der Bäume erstmals Schutz vor ihren Feinden im Wasser suchten. Dort lernten sie den aufrechten Gang, die Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte, unbehaarte Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden intelligent und verspielt. So wie im übrigen alle Säugetiere, die wieder ins Wasser zurück gingen: Delphine, Otter und Pinguine beispielsweise. Während die Männer dagegen quasi auf dem Trockenen (auf der Geest?) hocken blieben - und dabei jede Menge Jäger-Idiotismen ausbildeten. Elaine Morgans Studie endet versöhnlich: "Wir brauchen weiter nichts zu tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und ihnen zu sagen" (oder zu singen): "Kommt nur herein! Das Wasser ist herrlich!" Der russische Dichter Majakowski dagegen herrschte die Männer an: "Solange in dieser Newa-Tiefe/Die rettende Liebe Dir nicht begegnet/Irre weiter durch die Kanäle/Rudere!/Und ertrinke zwischen den Häuser-Steinen". Während der Petersburger Dichter und Lehrer von Puschkin, Wassili Shukowski, umgekehrt in seinem Poem "An Undine" das "feuchte Weib" geradezu herbeisang.  

Als der Jäger und Offiziersschriftsteller Ernst Jünger 1944 einmal mit seiner Kompanie im friedlichen Hinterland - auf dem norddeutschen Geestrücken bei Hannover - stationiert war, notierte er: daß solch "trockene Böden zur Hervorbringung musischer Existenzen nicht geeignet" seien, deswegen gelte auch für sie jetzt: "Frisia non cantat". Diese etwas unbedachte Äußerung - Friesland war von Jüngers Standort Kirchhorst immerhin rund 150 Kilometer entfernt und die im Durchschnitt 50 Zentimeter unter dem Meeresspiegel liegenden friesischen Marschböden kann man kaum als "trocken" bezeichnen - korrespondiert jedoch auf der anderen Seite mit all jenen, die heute in Friesland Konzerte und dergleichen veranstalten bzw. touristisch vermarkten - und dabei noch jedesmal behauptet haben: Das Event war ein voller Erfolg, die Gäste vergnügten sich und sangen bis in die frühen Morgenstunden - womit nun eindeutig bewiesen sei, dass Tacitus sich irrte. Auch der staatliche Norddeutsche Rundfunk verkündet frech: "Die Friesen singen fast immer und überall". So etwas würde der eigenständige westfriesische Sender nie über den Äther lassen.  

Obwohl es stimmt, daß immer mehr Leute von der Geest herunterkommen, um sich in Friesland nieder zu lassen. Sie müssen sich nicht mehr an Deicharbeiten beteiligen. Stattdessen gibt es an der Waterkant nun etwa 50.000 Grundeigentümer, die jährlich Deichsteuer zahlen. Der friesische Deichschutz wurde zum staatlichen Küstenschutz erklärt und Flutkatastrophen zu Bundeswehrübungsaufgaben. Neue Eindeichungen wird es nicht mehr geben - eher sogar eine EU-geförderte Reduzierung der landwirtschaftlichen Flächen - u.a. mittels Milch- und Mistquoten sowie Flächenstillegungsprämien. In Westfriesland wurde darüberhinaus sogar auf manchen Grundstücken "der fruchtbare Ackerboden entfernt, um das Terrain wieder künstlich karg zu machen," wie der friesische Dorfforscher Geert Mak 1999 berichtete. In Nordfriesland, wo man aus dem einen oder anderen Koog ein "Biosphärenreservat" macht, ferner die Salzwiesen im Deich-Vorland nicht mehr beweiden lassen will und gar einen "Miesmuschel-Management-Plan" verabschiedete, meint so mancher Bauer inzwischen: "Die Grünen sind schlimmer als die Grafen einst!" Kein Wunder, daß gerade die Zugezogenen, die sich in keine Kollektivökonomie und -kultur mehr einpassen müssen, immer mal wieder auf die Idee kommen, in Friesland einen Gesangsverein zu gründen - um wenigstens den Hauch einer Gemeinschaftsaufgabe noch zu spüren. Eine Handvoll solcher e.V.s hat sich inzwischen fest etabliert. Und Husum richtet neuerdings sogar ein "internationales Musikfestival" aus. Dort hatte der Halbfriese Theodor Storm bereits 1859 den ersten Gesangsverein ins Leben gerufen. Wie man sagt: aus Langeweile. Er ließ es denn auch bald wieder sein.  

Der These, dass Freie eben nicht singen - nur Sklaven! hätte er wohl trotzdem nicht zugestimmt. Dabei stammt noch ein Großteil unserer heutigen Musik aus den Gesängen der amerikanischen Schwarzen, der europäischen Zigeuner und der jüdischen Stetl. Der Rigaer "Eastbam"-Konzertmanager Indulis Bilzenz meinte 1989 überdies - angesichts der vielhundertjährigen Fremdherrschaft in Lettland und Estland könne man sagen: "Wir sind die letzten Indianer Europas!" Dies legte bereits 1927 ein Vorwort zur Autobiographie des baltischen Hochstaplers Harry Domela nahe, in der es hieß: "Die deutschen Balten, auch die nicht adligen...blickten auf die Letten so geringschätzig herab wie die weißen Amerikaner auf die Neger". Man kann ohne Übertreibung sagen, dass rund um die Ostsee jahrhundertelang die übelste Bedrückung und Kolonialisierung herrschte - so daß es dort allen Grund gab, seinen Sehnsüchten wenigstens immer wieder in Liedern Ausdruck zu geben. Bertold Brecht behauptete jedoch, im Grunde sei den "altägyptischen Sklavenliedern" nichts mehr hinzuzufügen - sie würden bereits alles enthalten. Demnach wäre vielleicht sogar jedes Singen Sklavenmusik! Viktor Schklowski erinnerte 1916 daran, dass das Singen (der Wolgaschlepper z.B.) die Arbeitskommandos ersetze und auch das militärische Marschieren erleichtere. Ein heute beliebter Spruch lautet: "Vögel in Käfigen singen - freie Vögel fliegen!" Er stimmt aber nicht, weil die Vögel auch und gerade in Freiheit singen.  

"Es ist das Volk, das die Musik schafft, wir Musiker arrangieren sie nur," meinte zu Anfang des 19. Jahrhunderts der russische Komponist M.I. Glinka. An der Nordsee loteten zuletzt die originalostfriesischen Musiker Otto und Trio mit ihren "Hits" ironisch die Grenzen zur Nichtmusikalität aus - erwähnt seien ihr "Honecker-Lied" und "Da-Da-Da". Die Friesen werden anscheinend noch immer vom Schweigen versucht. Es haben aber, schrieb Franz Kafka, "die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe - das ist ihr Schweigen. Ihm kann kann sich keiner entziehen". In einem hochdeutschen Spruch heißt es dagegen hübsch hässlich: "Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder!" Das verstehen wir jetzt so: Das Böse, das sind immer die anderen - unbotmäßigen, die sich nicht unterwerfen wollen: Terroristen wohlmöglich, deren blutrünstiges Credo da lautet: "Lever dod as Slaav". Die Scheidelinie zwischen Singen und Schweigen verläuft in diesem Fall exakt entlang des "Sietlandes" - dem Sumpfstreifen zwischen Geest und Marsch.  

Unabhängig davon, ob sie singen oder nicht, entstand in Berlin vor einiger Zeit eine kleine Nixenforschung, die zunächst darin bestand, dass der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler eine Schiffexpedition in die Gewässer um Capri, der Insel der Sirenen, organisierte, wo Odysseus sich einst ihrem Gesang ausgesetzt hatte. Nach einer der drei Sirenen, Parthenope, wurde später eine Stadt benannt, das heutige Neapel. Schon Goethe hatte sich dort in Sirenenforschung versucht: "Und nun nach allem diesem und hundertfältigem Genuß locken mich die Sirenen jenseits des Meeres, und wenn der Wind gut ist, gehe ich mit diesem Brief zugleich ab - südwärts," schrieb er "leichtlebig" aus Neapel, kam dann jedoch nie wieder auf seine Forschungfahrt zu sprechen. Kittler brachte nun von seiner Kreuzfahrt zwischen Messina und Neapel jede Menge audiovisuelles Material mit, das er auch bereits vorführte, aber seine Sirenenforschung ist noch unbefriedigend. Ich erhoffte mir dagegen Aufklärung aus der einst vom Biologen Anton Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel. Aber die einzige dort jemals in einem Aquarium gehaltene "Sirenide" gibt es nicht mehr: Wie der faschistische Theoretiker Curzio Malaparte in seinem Buch "Haut" berichtet, wurde dieser "Fisch", wie alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die Neapel eingenommen hatten, getötet - um anschließend von ihnen verspeist zu werden. Malaparte will selbst dabei gewesen sein. Weil aber dieses "zur Gattung der Sirenoiden" gehörende Meerestier ("dessen Flanken in einem Fischschwanz endeten - genau wie von Ovid beschrieben") einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe eine der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den "Fisch" stattdessen ordnungsgemäß im Garten zu bestatten. Es geht das Gerücht, dass er später wieder ausgegraben wurde und dass das Skelett sich heute im "Museo di Biologia Marina e Paleontologia" von Reggio Calabria befindet (man kann es sich im Internet ansehen). Für die Amerikaner sind die Sirenen das, was wir "Seekühe" nennen: pflanzenfressende Meeressäugetiere, die es nur noch in tropischen Gewässern gibt (neuerdings aber auch im Berliner Tierpark Friedrichsfelde). Es gab auch noch welche in den sibirischen Gewässern: Sie wurden aber - nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung - ihres Trans und schmackhaften Fleisches wegen, ausgerottet (siehe dazu "Sirenews"). Die einen wie die anderen Seekühe sehen jedoch weder wie die auf antiken Vasen dargestellten Sirenen aus, noch singen sie wie von Homer geschildert. Das gilt auch für die bis zu ein Meter langen Arten der Gattung "Siren", die man auf Deutsch treffend "große Armmolche" nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der "Sirenidae", leben an der Küste Floridas, ernähren sich von Kleingetier und Pflanzen und halten Sommerschlaf. Bei dem von Malaparte beschriebenen "Speisefisch" aus der "Zoologischen Station" von Neapel könnte es sich eventuell um eine solche "Schwanzlurche" gehandelt haben, dann ist sie allerdings nicht mit dem Skelett im Museum von Reggio Calabria identisch. Ich wollte es schon bei diesem (unbefriedigenden) Stand der Dinge bewenden lassen, aber dann bekam ich eine Einladung zur "Langen Nacht der Berliner Wissenschaft" - vom "Kulturverlag Kadmos", der während dieser "Nacht" einen Buchverkaufsstand im Medizinhistorischen Museum auf dem Charité-Gelände aufgebaut hatte und zwar "neben den Sirenen und Zyklopen", wie er schrieb. Das mußte ich mir ansehen! Es handelte sich dabei um tote Kinder, d.h. um in Spiritus eingelegte "menschliche Fehlbildungen": Bei der einen - "Sirenoiden" - fehlten "die Beinanlagen, der Harntrackt und die Geschlechtsorgane" - der Körper ging stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen - "Sirenomelie" - fehlten "Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase und Enddarm". Beide waren also nicht lebensfähig, man ließ sie wohl gleich nach der Geburt sterben. Wenn ich nicht irre, befanden sich die Exponate früher in der Anomaliensammlung auf dem Gelände des Veterinärmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität - und wurden erst kürzlich in das neue Medizinhistorische Museum überführt, bei dessen minimalistisch-modernistischem Aufbau jetzt das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte federführend ist, aus dessen Reihen jetzt auch eine Recherche veröffentlicht wurde, bei der der Autor den Namen der Mutter von einem der Sirenoiden ausfindig gemacht hatte. Für die zwei ausgestellten "sirenoiden Fehlbildungen" machen die Kuratoren "übermässigen Alkoholgenuß der Mütter" verantwortlich, d.h. wir werden es mit zunehmendem Abbau des Sozialstaats also bald auch mit immer mehr nicht-lebensfähigen kleinen "Sirenen" zu tun bekommen, aber das hilft weder mir - bei der Klärung, um was es sich bei dem Malapartschen "Speisefisch" in Neapel nun wirklich gehandelt hat, noch dem Professor Kittler - bei seiner multimedial angelegten Sirenenforschung um Capri herum. Da diese Nixenforschung sich jedoch völlig vom friesischen Meer entfernt und sich dabei auch nirgendwo die Aussicht eröffnet hat, wieder darauf zurück zu kommen, breche ich diesen letzten "Exkurs" hier ab.

Editorische Anmerkungen

Den Text schickte uns Helmut Höge am 28.09.2005.

Weitere Friesengeschichten von Helmut Höge bei TREND