"Grüß dich, alter Ozean!" (Lautréamont)
Der Schweizer "Weltwoche"-Korrespondent
Christoph Neidhardt legt in
seinem Buch "Ostsee" die Vorstellung nahe, daß es sich dabei um
ein Meer
der Gesänge handelt. So spricht er z.B. von der "singenden
Revolution
der Esten", die in ihrer Hauptstadt im übrigen das größte
"Gesangs-Stadion" der Welt errichteten. Aber auch im lettischen
Riga
wurde bei der Konstituierung der dortigen Volksfront "immer
wieder
gesungen". Zusammen hätten die beiden Völker "die Fronten der im
Kalten
Krieg erstarrten Ostseewelt" regelrecht "zersungen" - was dort
aber
quasi Tradition habe. Zu Zeiten der Hanse konnten "fahrende
Spielleute
und Ratsmusiker in jeder Stadt an der Ostsee arbeiten". Vor
allem die
baltischen Städte "zogen viele wandernde Musiker an". Gesungen
wurde an
der Ostsee bereits lange vor der Christianisierung: "Auf den
Dörfern
wurde mit Drehleiern, Strohfideln, Trummscheiten und Sackpfeifen
musiziert." Elias Lönnrot in Karelien und Friedrich Reinhold
Kreutzwald
im Baltikum sammelten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts
dörfliche
Liedtexte..."1990 rappten die jungen Rigaer für Lettland". Die
Esten
sagen rückblickend, sie seien während der Sowjetzeit in ihr
"Liedgut
emigriert". Heute touren "ihre Chöre um die ganze Welt".
Ich ergänze: In Litauen wurde
1991 der Komponist Vytautas Landsbergis
zum Staatspräsidenten gewählt und wenig später ein
Matrosen-Punksong zur
Quasi-Nationalhymne erkoren. Die Polen und Russen haben
bekanntlich
schon immer gerne gesungen, die Finnen sind geradezu
tangovernarrt, die
Schweden mischen spätestens seit Abba in der internationalen
Musikscene
mit und in Dänemark kennt man ebenfalls viele lustige Lieder. Im
ostelbischen Deutschland hatte zuletzt das sozialistische
Liedgut ein
Zuhause und die Wende wurde dort - mindestens in der Heldenstadt
Leipzig - von einem Dirigenten namens Kurt Masur angeführt.
Neben der Gesangskunst, die am
Mare Balticum gedeiht, arbeitet der Autor
Christoph Neidhardt aber auch noch heraus, daß die Ostsee a)
"ein
Milchsäuremeer" und b) "eine See der starken Überzeugungen" ist
-
gemeint sind vor allem Sozialdemokratismus und Bolschewismus,
ferner,
daß man dort überall gerne Kaffee trinkt. Und dann steigt auch
noch das
Land ringsum langsam aus dem Meer empor.
Genau umgekehrt ist es an der
Nordsee: hier handelt es sich bei den
Küstenstreifen durchweg um sinkendes Land. Statt Kaffee
bevorzugt man
Tee. Und von den Bewohnern des "Mare Frisicum" behauptete
bereits der
römische Geschichtsschreiber Tacitus kategorisch "Frisia non
cantat!"
Seitdem haben unzählige Volkskundler und Regionalforscher den
Beweis
erbracht, daß die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut
besitzen,
sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür
haben
sie anscheinend eine Begabung für die Mathematik: "Am
ausgesprochensten
ist der Sinn der Friesen für Rechnen", schreibt der
Friesenforscher
Rudolf Muus. Erklärt wird dies u.a. damit, dass das in drei
getrennten
Nordsee-Regionen - Hollands, Niedersachens und
Schleswig-Holsteins -
siedelnde Küsten- und Handelsvolk keine einheitliche Sprache
hat, so daß
die Verständigung immer über eine vierte - Hochsprache -
erfolgen muß.
Dennoch oder desungeachtet waren
die Friesen fast immer frei: Sie haben
mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und
erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird
ihnen
quasi offiziell bescheinigt: "omni jugo servitutis exuti" - Sie
haben
das Joch der Knechtschaft verlassen. "Seltsam nahm sich
Friesland unter
den deutschen Territorien aus," schreibt der Groninger
Historiker
I.H.Gosses: "Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter,
keine
Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern". In
dem die
"Amtsgewalt nicht von oben - von einem Grafen, der den König
vertritt,
sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde" hervorgeht, deren
Bemühungen
schließlich in das kodifizierte Stammesrecht "Lex Frisiorum"
münden.
Im politischen Kampf um den
Erhalt der "friesischen Identität" war
noch 1848 der Schriftsteller Theodor Storm in das ihm verhaßte
preußisch-deutsche Exil abgetrieben worden, nachdem das dänische
Heer
die "schleswig-holsteinische Freiheitsbewegung" zerschlagen
hatte. Auch
als dann einige Jahrzehnte später Preußen an der "Düppeler
Schanze" die
Dänen zurückschlug und Storm als Landvogt im Triumph nach Husum
heimkehrte, konnte er sich nicht recht über diese
Fremd-"Befreiung"
freuen. Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute
sauber zu
unterscheiden. So antwortete mir z.B. der Emder Bürgermeister,
auf die
Frage, was er früher gewesen sei: "Die bisherige ostfriesische
Evolution
verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter
zum
VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber
dann auch
in Deutschland: vier Jahre - in Köln, dann bin ich jedoch wieder
nach
Emden zurückgegangen".
Diese Behaarlichkeit der Friesen
erklärt die Forschung damit, daß sie in
den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln:
"Deus
mare, Frisio litora fecit" so sagen sie es selbst: Gott schuf
das Meer -
und die Friesen die Küste! Diese wenig christliche,
selbstbewußte
Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Partisanenkampf,
Piraterie und
Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen
versucht, sie hatte dort denn auch mancherorts schon
Schwierigkeiten,
den Zehnt einzutreiben, auf Sylt z.B., und ihr altes heinisches
Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie
Zone.
Wiewohl Bauern, Händler und
Seefahrer, besteht die eigentliche
Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung - durch den Bau
von
Deichen gegen die Flut und Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. Das
Husumer
Nissenmuseum - einst von einem friesischen Auswanderer, der in
Amerika
reich wurde, gestiftet - ist deswegen auch vor allem ihrer
Deichbau-Kunst gewidmet. Ein anderer Auswanderer - nach
Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die
Eindeichung
eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs (Polder in
Westfriesland
genannt), inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe.
Und der
Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem
mit seinem
Deich-Drama "Der Schimmelreiter" bekannt. Umgekehrt benannte man
einen
nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem
Novellen-Held,
den Deichprojektierer "Hauke Haien".
Mit einer seltsam sturen
Leidenschaft versucht dieses stets entlang der
Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk
allen
Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu
bieten.
Inzwischen hat ihr "Projekt" - über die Jahrhunderte hinweg -
"etwas
absolut Extravagantes" im Sinne einer "poetischen Erfindung",
eines
"Unternehmens von großer tragischer Thematik" bekommen, wie der
italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli im "Corriere
della Sera"
1985 schrieb.
Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten
einst die
Friesen ins Grübeln gebracht: dieses "armselige Volk", das auf
"hohen
Erdhügeln" in Schilfhütten lebt und mit "getrocknetem Kot" seine
kärglichen Speisen kocht, damit sich "ihre vom Nordwind
erstarrten
Eingeweide erwärmen". Bei Flut, "wenn die Gewässer die Umgebung
bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern,
Schiffbrüchigen
aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind". Dennoch wollten die
Friesen
sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern
unterwerfen:
"wahrlich," schloß Plinius, "viele verschont das Schicksal zu
ihrer
Strafe".
Indem sie dann jedoch - ausgehend
von den Flussläufen - anfingen, das
Land einzudeichen, die Moore und Sümpfe trocken zu legen und
neues,
künstliches Land zu schaffen, verzichteten sie erst auf die
Wohnhügel
(Wurten bzw. Warfen genannt) und dann auch auf Haufendörfer.
Gleichzeitig entstand durch die Notwendigkeit des andauernden
Deichbaus
und - erhalts ein enger - kein völkischer, sondern ein
eidgenössischer -
Zusammenhalt, der sich u.a. in einer Kollektivmoral
gegenseitiger Hilfe
äußerte: "Wer nicht will deichen - muß weichen!", gleichzeitig
aber auch
eigenwillige Konfliktlösungsstrategien hervorbrachte sowie
grüblerische
Charaktere.
Bei Sturm geht der Friese auf den
Deich und schaut schweigend über das
tosende Meer. Aber auch sonst, während man sich z.B. in
Süddeutschland,
vor allem in Wien, lärmend auf der Couch wälzt und an der Ostsee
anfängt
zu singen - heißt es in Friesland: Wo Blanker Hans war - soll
Ich werden!
Schon Sigmund Freud griff bei der
Beschreibung des Prozesses der
Ich-Bildung auf eine friesische Deichbau-Leistung zurück, als er
die
Notwendigkeit zur Sublimation, d.h. der Kulturarbeit, mit der
"Trockenlegung der Zuidersee" verglich. Wilhelm Reich hat
demgegenüber
dann, von Kopenhagen und Oslo aus, eher die Notwendigkeit der
genitalen
Befriedigung, d.h. das Sich Verströmen und Fließen Lassen, ein
"ozeanisches Gefühl", betont. Eine derartige Wunschpolitik müßte
laut
Klaus Theweleit in die antifaustische Formel münden: "Wo Dämme
waren,
soll (wieder) Fluß werden!"
Der Friese gönnt sich eine solche
Deterritorialisierung nur in Form
des Fernwehs, dem er dann als Seefahrer auch immer wieder
nachgibt.
Dieser Sturm und Drang rechtfertigt sich dadurch, daß das
friesische Ich
zu großen individuellen Leistungen vor allem im Ausland fähig
ist. Im
"Inneren" setzt dem die altehrwürdige Kollektiv-Ökonomie
Grenzen. Das
ist der Kern der berühmten Stormschen Novelle über das Scheitern
- "Der
Schimmelreiter": "Als Exponent der von Storm so hoch geschätzten
Selbstverwaltung ist der Deichgraf auf demokratisches
Miteinander
angewiesen; Hauke Haiens Verhältnis zu seinen Dorfgenossen aber
ist
gestört," schreibt der Stormbiograph K.E. Laage. Storm selbst
spricht
von "der Ehrsucht und dem Haß" in seinem Herzen. Gerade als er
eine neue
- flache - Deichkonstruktion, die heute nebenbeibemerkt überall
zu
finden ist, durchsetzen will, gerät er "in Gegensatz zu seinen
Freunden"
- und scheitert.
In der berühmten fast
dokumentarischen Verfilmung der Novelle - aus dem
Jahr 1933 - wird diese Handlung an einigen wenigen aber
entscheidenden
Stellen zugunsten des "Führergedankens" verändert. Dadurch
bekommt das
Stormsche Drama ein Happy-End - und aus dem
menschlich-fragwürdigen
Deichgrafen, der zuletzt bereut, wird ein rundum positiver Held
- der
Neuen Zeit, dem Nationalsozialismus, vorauseilend. Auf diese
reagierte
man in den drei friesischen Siedlungsräumen dann jedoch durchaus
unterschiedlich: Die militante, autonome Landvolkbewegung der
reichen
nordfriesischen Bauern (Gräser) Ende der Zwanzigerjahre
verschwand fast
sang- und klanglos im "Reichsnährstand", nachdem die
sozialdemokratische
Regierung ihre Aktivisten kriminalisiert hatte. Die eher
proletarisch
orientierten Ostfriesen verschanzten sich in Mikropolitik. Und
die
Westfriesen wagten den Widerstand, indem sie Teile ihres
eingedeichten
Landes unter Wasser setzten, Sabotage verübten und Juden
vesteckten. Von
den 120.000 holländischen Nazi-Kollaborateuren waren 5000
Friesen, aber
auch von diesen gingen nur wenige so weit, dass sie ihre
Nachbarn
verrieten - und deswegen nach dem Krieg hingerichtet wurden.
Wenn immer wieder betont wird,
dass die Friesen dem Singen abhold sind,
dann hängt dies mit ihrer gemeinschaftlichen Position in der
Ambivalenz
zusammen - zwischen Verlockung und Furcht gewissermaßen
eingeklemmt.
"Die ganze Küste ist äußerst labil", urteilt der Kölner
Historiker Otto
Jessen. Vom Land her droht Unterwerfung, verbunden jedoch mit
verheißenem Wohlstand. Während die Seeseite mit neuen
(Siedlungs-)Räumen lockt, im Sturm aber auch alles verschlingen
kann.
"Nordsee ist Mordsee", so hieß einmal ein Jugendfilm von Hark
Bohm. Es
gab eine lange Zeit, in der Friesland wegen der Sümpfe und Moore
leichter von der See als von Land her erobert werden konnte.
In dem berühmten "Freesenleed"
heißt es:
"wo de Möwen schrien, hell in't
Stormgebruus,
dor is miene Heimat, dor bün ick
to huus.
Well'n un Wogen sungen dor mien
Weegenleed,
un de hogen Dieken kenn't mien
Kinnerleed,
kenn'n ook all mien Sehnsucht, as
ick wussen weer,
in de Welt to fleegen, över Land un Meer."
Das "Friesenlied" schrieb eine
Frauenzeitungsredakteurin im Jahr 1907 -
die sinnigerweise aus dem Ostseebadeort Zingst am Darß stammte.
Ein in
München lebender Flensburger (!) brachte es dann nach Zürich
(!), wo ein
Arbeitergesangsverein es vertonte. Daneben gibt es noch mehrere
hochdeutsche "Ostfriesenlieder" sowie auch ein holländisches
Friesenlied, das in den Niederlanden als Wiegenlied bekannt
wurde. Aber
auch in jenem "Freesenleed", das gewissermaßen die Ostsee den
Friesen
andichtete, singen nur Möwen, der Sturm und das Meer - kein
Mensch. Und
an die Gesänge der Mutter kann dieser sich auch nur noch vage
erinnern:
angesichts des männlich-mächtigen Damms ringsum - lange nach
"Deichschluß", wie man den dramatischen Abschluß einer
Landgewinnungsmaßnahme nennt, der früher in ein Tieropfer
gipfelte. Im
Lied werden ihm nun die Jugendträume dargebracht.
"Sich (damit) abfinden und
gelegentlich auf Wasser sehen," riet
Dr.Gottfried Benn aus Landsberg/Gorzów. Laut Rudolf Muuß, einem
Pastor
aus Stedesand, redete ein friesischer Bauer in den
Zwanzigerjahren
seinem Sohn die Sehnsucht in die Ferne mit den Worten aus: "Mien
Söhn,
wat wullt du dor buten? Hier is de Masch und de ganze annere
Welt ist
bloots Geest". Noch im Jahr 2004 bestätigte der junge
Dithmarschener
Bauer und Filmregisseur Detlev Buck diese altfriesische Welt-
und
Weitsicht, als er - in der taz - schrieb: "Bin einmal um die
Welt
geflogen, hab gemerkt, das ist ja nicht viel, worum sich's
dreht, und -
Mann, da ist ja viel Wüste, mehr als alles andere. Und habe
beschlossen,
verdientes Geld aus der Filmunterhaltung in Land anzulegen."
Nicht nur die Friesen lockt das
Meer (das im Französischen gar mit dem
Wort Mutter ineins klingt) in Form verführerischer Frauen, die
man Nixen
oder auch Meerjungfrauen nennt. Die Dänen haben solch eine gar
zum
Wahrzeichen ihrer Ostsee-Hauptstadt gemacht - so als wäre diese
die
Frucht einer glücklichen Verbindung zwischen Land- und
Meeresbewohnern.
Als solche begreift sich im übrigen auch das kleine sibirische
Volk der
Niwchen, das am Ochotskischen Meer lebt und eine Meer-Frau als
Urahnin
verehrt. Neuerdings besitzt auch das Ostseebad Boltenhagen eine
bronzene
Nixe, die auf einem Findling im Meer sitzt, sie schaut
allerdings nicht
wie die Kopenhagenerin aufs Wasser, sondern "etwas unbestimmt in
Richtung Ufer", wie die FAZ schreibt.
Noch im 18. Jahrhundert hatte der
dänische Anatom Caspar Bartholin diese
Wassernixen zusammen mit den Menschen und Affen als "homo
marinus"
klassifiziert. Den Friesen locken jedoch selbst diese
notorischen
Sängerinnen nicht mit Liedern aufs Meer oder in die Tiefe - im
Gegensatz
zu den vielen Kulturträgern oben auf der Geest.
Angefangen mit den homerischen
"Sirenen" des Odysseus, der seiner
Schiffsmannschaft die Ohren verstopfte, um sie vor deren
"verderblichen
Gesang" zu retten. In Goethes Gedicht "Der Fischer" ist es dann
ein
"feuchtes Weib", das dieser vor sich im Wasser auftauchen sieht:
"Sie
sprach zu ihm, sie sang zu ihm;/ Da war's um ihn geschehn:/ Halb
zog sie
ihn, halb sank er hin/ Und ward nicht mehr gesehn." In Heinrich
Heines
berühmten Gedicht über "Die Heimkehr" wird aus den Sirenen eine
langhaarige Flußnixe: "...Ich glaube, die Wellen verschlingen/
am Ende
Schiffer und Kahn;/ Das hat mit ihrem Singen/ die Loreley
getan". Auch
in dem mehrfach als Oper und Ballett auf die Bühne gebrachten
romantischen Märchen von Friedrich de la Motte Fouqué "Undine"
umwirbt
eine kleine reizende Nixe aus dem "Mittelländischen Meer" einen
Mann mit
Gesang: um durch Vermählung mit ihm in den Genuß einer Seele zu
kommen.
Nachdem er sie als Hexe beschimpft hat, verschwindet sie jedoch
wieder
im Wasser, d.h. "verströmt sich" - um ihn zuletzt mit einem
zärtlichen
Kuß in den Tod zu befördern. Der Autor hat sich dabei von einer
Schrift
des Paracelsus aus dem Jahr 1590 inspirieren lassen: das "Liber
de
Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris
spiritibus",
das zunächst die allerchristlichsten Hexenverfolger auf die Idee
der
"Wasserprobe" gebracht hatte. De la Motte Fouqués "Undine" war
dann
Vorbild für Hans-Christian Andersens "kleine Meerjungfrau", und
zuletzt
für Ingeborg Bachmanns frühfeministische Erzählung aus dem Jahr
1961:
"Undine geht". Auch hier wendet sich die Frau, wieder "unter
Wasser",
noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die Männer -
"Ungeheuer"
und "Verräter" allesamt. Neuerdings hat eine feministische
amerikanische Anthropologin mit dieser Idee von der singenden
Undine als
homo marinus noch einmal Ernst gemacht. Laut Elaine Morgan waren
es die
Frauen, die nach Verlassen der Bäume erstmals Schutz vor ihren
Feinden
im Wasser suchten. Dort lernten sie den aufrechten Gang, die
Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte,
unbehaarte
Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden
intelligent
und verspielt. So wie im übrigen alle Säugetiere, die wieder ins
Wasser
zurück gingen: Delphine, Otter und Pinguine beispielsweise.
Während die
Männer dagegen quasi auf dem Trockenen (auf der Geest?) hocken
blieben -
und dabei jede Menge Jäger-Idiotismen ausbildeten. Elaine
Morgans Studie
endet versöhnlich: "Wir brauchen weiter nichts zu tun, als
liebevoll die
Arme auszubreiten und ihnen zu sagen" (oder zu singen): "Kommt
nur
herein! Das Wasser ist herrlich!" Der russische Dichter
Majakowski
dagegen herrschte die Männer an: "Solange in dieser Newa-Tiefe/Die
rettende Liebe Dir nicht begegnet/Irre weiter durch die
Kanäle/Rudere!/Und ertrinke zwischen den Häuser-Steinen".
Während der
Petersburger Dichter und Lehrer von Puschkin, Wassili Shukowski,
umgekehrt in seinem Poem "An Undine" das "feuchte Weib" geradezu
herbeisang.
Als der Jäger und
Offiziersschriftsteller Ernst Jünger 1944 einmal mit
seiner Kompanie im friedlichen Hinterland - auf dem
norddeutschen
Geestrücken bei Hannover - stationiert war, notierte er: daß
solch
"trockene Böden zur Hervorbringung musischer Existenzen nicht
geeignet"
seien, deswegen gelte auch für sie jetzt: "Frisia non cantat".
Diese
etwas unbedachte Äußerung - Friesland war von Jüngers Standort
Kirchhorst immerhin rund 150 Kilometer entfernt und die im
Durchschnitt
50 Zentimeter unter dem Meeresspiegel liegenden friesischen
Marschböden
kann man kaum als "trocken" bezeichnen - korrespondiert jedoch
auf der
anderen Seite mit all jenen, die heute in Friesland Konzerte und
dergleichen veranstalten bzw. touristisch vermarkten - und dabei
noch
jedesmal behauptet haben: Das Event war ein voller Erfolg, die
Gäste
vergnügten sich und sangen bis in die frühen Morgenstunden -
womit nun
eindeutig bewiesen sei, dass Tacitus sich irrte. Auch der
staatliche
Norddeutsche Rundfunk verkündet frech: "Die Friesen singen fast
immer
und überall". So etwas würde der eigenständige westfriesische
Sender nie
über den Äther lassen.
Obwohl es stimmt, daß immer mehr
Leute von der Geest herunterkommen, um
sich in Friesland nieder zu lassen. Sie müssen sich nicht mehr
an
Deicharbeiten beteiligen. Stattdessen gibt es an der Waterkant
nun etwa
50.000 Grundeigentümer, die jährlich Deichsteuer zahlen. Der
friesische
Deichschutz wurde zum staatlichen Küstenschutz erklärt und
Flutkatastrophen zu Bundeswehrübungsaufgaben. Neue Eindeichungen
wird es
nicht mehr geben - eher sogar eine EU-geförderte Reduzierung der
landwirtschaftlichen Flächen - u.a. mittels Milch- und
Mistquoten sowie
Flächenstillegungsprämien. In Westfriesland wurde darüberhinaus
sogar
auf manchen Grundstücken "der fruchtbare Ackerboden entfernt, um
das
Terrain wieder künstlich karg zu machen," wie der friesische
Dorfforscher Geert Mak 1999 berichtete. In Nordfriesland, wo man
aus dem
einen oder anderen Koog ein "Biosphärenreservat" macht, ferner
die
Salzwiesen im Deich-Vorland nicht mehr beweiden lassen will und
gar
einen "Miesmuschel-Management-Plan" verabschiedete, meint so
mancher
Bauer inzwischen: "Die Grünen sind schlimmer als die Grafen
einst!" Kein
Wunder, daß gerade die Zugezogenen, die sich in keine
Kollektivökonomie
und -kultur mehr einpassen müssen, immer mal wieder auf die Idee
kommen,
in Friesland einen Gesangsverein zu gründen - um wenigstens den
Hauch
einer Gemeinschaftsaufgabe noch zu spüren. Eine Handvoll solcher
e.V.s
hat sich inzwischen fest etabliert. Und Husum richtet neuerdings
sogar
ein "internationales Musikfestival" aus. Dort hatte der
Halbfriese
Theodor Storm bereits 1859 den ersten Gesangsverein ins Leben
gerufen.
Wie man sagt: aus Langeweile. Er ließ es denn auch bald wieder
sein.
Der These, dass Freie eben nicht
singen - nur Sklaven! hätte er wohl
trotzdem nicht zugestimmt. Dabei stammt noch ein Großteil
unserer
heutigen Musik aus den Gesängen der amerikanischen Schwarzen,
der
europäischen Zigeuner und der jüdischen Stetl. Der Rigaer
"Eastbam"-Konzertmanager Indulis Bilzenz meinte 1989 überdies -
angesichts der vielhundertjährigen Fremdherrschaft in Lettland
und
Estland könne man sagen: "Wir sind die letzten Indianer
Europas!" Dies
legte bereits 1927 ein Vorwort zur Autobiographie des baltischen
Hochstaplers Harry Domela nahe, in der es hieß: "Die deutschen
Balten,
auch die nicht adligen...blickten auf die Letten so
geringschätzig herab
wie die weißen Amerikaner auf die Neger". Man kann ohne
Übertreibung
sagen, dass rund um die Ostsee jahrhundertelang die übelste
Bedrückung
und Kolonialisierung herrschte - so daß es dort allen Grund gab,
seinen
Sehnsüchten wenigstens immer wieder in Liedern Ausdruck zu
geben.
Bertold Brecht behauptete jedoch, im Grunde sei den
"altägyptischen
Sklavenliedern" nichts mehr hinzuzufügen - sie würden bereits
alles
enthalten. Demnach wäre vielleicht sogar jedes Singen
Sklavenmusik!
Viktor Schklowski erinnerte 1916 daran, dass das Singen (der
Wolgaschlepper z.B.) die Arbeitskommandos ersetze und auch das
militärische Marschieren erleichtere. Ein heute beliebter Spruch
lautet:
"Vögel in Käfigen singen - freie Vögel fliegen!" Er stimmt aber
nicht,
weil die Vögel auch und gerade in Freiheit singen.
"Es ist das Volk, das die Musik
schafft, wir Musiker arrangieren sie
nur," meinte zu Anfang des 19. Jahrhunderts der russische
Komponist M.I.
Glinka. An der Nordsee loteten zuletzt die
originalostfriesischen
Musiker Otto und Trio mit ihren "Hits" ironisch die Grenzen zur
Nichtmusikalität aus - erwähnt seien ihr "Honecker-Lied" und
"Da-Da-Da". Die Friesen werden anscheinend noch immer vom
Schweigen
versucht. Es haben aber, schrieb Franz Kafka, "die Sirenen eine
noch
schrecklichere Waffe - das ist ihr Schweigen. Ihm kann kann sich
keiner
entziehen". In einem hochdeutschen Spruch heißt es dagegen
hübsch
hässlich: "Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen
haben
keine Lieder!" Das verstehen wir jetzt so: Das Böse, das sind
immer die
anderen - unbotmäßigen, die sich nicht unterwerfen wollen:
Terroristen
wohlmöglich, deren blutrünstiges Credo da lautet: "Lever dod as
Slaav".
Die Scheidelinie zwischen Singen und Schweigen verläuft in
diesem Fall
exakt entlang des "Sietlandes" - dem Sumpfstreifen zwischen
Geest und
Marsch.
Unabhängig davon, ob sie singen
oder nicht, entstand in Berlin vor
einiger Zeit eine kleine Nixenforschung, die zunächst darin
bestand,
dass der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler eine
Schiffexpedition in die Gewässer um Capri, der Insel der
Sirenen,
organisierte, wo Odysseus sich einst ihrem Gesang ausgesetzt
hatte. Nach
einer der drei Sirenen, Parthenope, wurde später eine Stadt
benannt, das
heutige Neapel. Schon Goethe hatte sich dort in Sirenenforschung
versucht: "Und nun nach allem diesem und hundertfältigem Genuß
locken
mich die Sirenen jenseits des Meeres, und wenn der Wind gut ist,
gehe
ich mit diesem Brief zugleich ab - südwärts," schrieb er
"leichtlebig"
aus Neapel, kam dann jedoch nie wieder auf seine Forschungfahrt
zu
sprechen. Kittler brachte nun von seiner Kreuzfahrt zwischen
Messina
und Neapel jede Menge audiovisuelles Material mit, das er auch
bereits
vorführte, aber seine Sirenenforschung ist noch unbefriedigend.
Ich
erhoffte mir dagegen Aufklärung aus der einst vom Biologen Anton
Dohrn
gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel. Aber die einzige
dort
jemals in einem Aquarium gehaltene "Sirenide" gibt es nicht
mehr: Wie
der faschistische Theoretiker Curzio Malaparte in seinem Buch
"Haut"
berichtet, wurde dieser "Fisch", wie alle anderen in Dohrns
Aquarien
auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die
Neapel
eingenommen hatten, getötet - um anschließend von ihnen
verspeist zu
werden. Malaparte will selbst dabei gewesen sein. Weil aber
dieses "zur
Gattung der Sirenoiden" gehörende Meerestier ("dessen Flanken in
einem
Fischschwanz endeten - genau wie von Ovid beschrieben") einem
kleinen
toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe eine der
anwesenden
weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den "Fisch"
stattdessen
ordnungsgemäß im Garten zu bestatten. Es geht das Gerücht, dass
er
später wieder ausgegraben wurde und dass das Skelett sich heute
im
"Museo di Biologia Marina e Paleontologia" von Reggio Calabria
befindet
(man kann es sich im Internet ansehen). Für die Amerikaner sind
die
Sirenen das, was wir "Seekühe" nennen: pflanzenfressende
Meeressäugetiere, die es nur noch in tropischen Gewässern gibt
(neuerdings aber auch im Berliner Tierpark Friedrichsfelde). Es
gab auch
noch welche in den sibirischen Gewässern: Sie wurden aber - nur
27 Jahre
nach ihrer Entdeckung - ihres Trans und schmackhaften Fleisches
wegen,
ausgerottet (siehe dazu "Sirenews"). Die einen wie die anderen
Seekühe
sehen jedoch weder wie die auf antiken Vasen dargestellten
Sirenen aus,
noch singen sie wie von Homer geschildert. Das gilt auch für die
bis zu
ein Meter langen Arten der Gattung "Siren", die man auf Deutsch
treffend "große Armmolche" nennt, weil sie nur Vorderbeine
haben, dazu
Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der "Sirenidae",
leben an der
Küste Floridas, ernähren sich von Kleingetier und Pflanzen und
halten
Sommerschlaf. Bei dem von Malaparte beschriebenen "Speisefisch"
aus der
"Zoologischen Station" von Neapel könnte es sich eventuell um
eine
solche "Schwanzlurche" gehandelt haben, dann ist sie allerdings
nicht
mit dem Skelett im Museum von Reggio Calabria identisch. Ich
wollte es
schon bei diesem (unbefriedigenden) Stand der Dinge bewenden
lassen,
aber dann bekam ich eine Einladung zur "Langen Nacht der
Berliner
Wissenschaft" - vom "Kulturverlag Kadmos", der während dieser
"Nacht"
einen Buchverkaufsstand im Medizinhistorischen Museum auf dem
Charité-Gelände aufgebaut hatte und zwar "neben den Sirenen und
Zyklopen", wie er schrieb. Das mußte ich mir ansehen! Es
handelte sich
dabei um tote Kinder, d.h. um in Spiritus eingelegte
"menschliche
Fehlbildungen": Bei der einen - "Sirenoiden" - fehlten "die
Beinanlagen, der Harntrackt und die Geschlechtsorgane" - der
Körper ging
stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen -
"Sirenomelie" - fehlten "Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase
und
Enddarm". Beide waren also nicht lebensfähig, man ließ sie wohl
gleich
nach der Geburt sterben. Wenn ich nicht irre, befanden sich die
Exponate
früher in der Anomaliensammlung auf dem Gelände des
Veterinärmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität - und
wurden
erst kürzlich in das neue Medizinhistorische Museum überführt,
bei
dessen minimalistisch-modernistischem Aufbau jetzt das
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte federführend
ist, aus
dessen Reihen jetzt auch eine Recherche veröffentlicht wurde,
bei der
der Autor den Namen der Mutter von einem der Sirenoiden
ausfindig
gemacht hatte. Für die zwei ausgestellten "sirenoiden
Fehlbildungen"
machen die Kuratoren "übermässigen Alkoholgenuß der Mütter"
verantwortlich, d.h. wir werden es mit zunehmendem Abbau des
Sozialstaats also bald auch mit immer mehr nicht-lebensfähigen
kleinen
"Sirenen" zu tun bekommen, aber das hilft weder mir - bei der
Klärung,
um was es sich bei dem Malapartschen "Speisefisch" in Neapel nun
wirklich gehandelt hat, noch dem Professor Kittler - bei seiner
multimedial angelegten Sirenenforschung um Capri herum. Da diese
Nixenforschung sich jedoch völlig vom friesischen Meer entfernt
und sich
dabei auch nirgendwo die Aussicht eröffnet hat, wieder darauf
zurück zu
kommen, breche ich diesen letzten "Exkurs" hier ab.
Editorische Anmerkungen
Den Text schickte uns Helmut
Höge
am 28.09.2005.
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