Editorial
Seismografen für eine gerechtere Verteilung

von Karl Mueller

10/2016

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Eugen Dühring, Privatdozent an der Berliner Humboldt-Universität, wurde in den 1870er Jahren in weiten Teilen der SPD als Vertreter eines "antiautoritären freiheitlichen Sozialismus" gefeiert. Dies behagte dem marxistisch orientierten Vorstand um Wilhelm Liebknecht wenig. Liebknecht, der Dührings "Größenwahn" und "Neid auf Marx" Weihnachten 1874 in dessen Vorlesung erlebt hatte, schrieb,  im April 1875 an Friedrich Engels: "Du wirst Dich entschließen müssen, dem Dühring aufs Fell zu steigen." Da sich Dühring als Universalgenie verstand, der glaubte, zu allem und jedem grundlegende Wahrheiten verbreiten zu müssen, sah sich Engels genötigt, "ihm überallhin zu folgen und seinen Auffassungen" die eigenen entgegenzusetzen.

Daraus entstand ein Schlüsselwerk des Marxismus, das noch heute eine Grundlagenschrift für diejenigen ist, die es auf sich nehmen, systematisch in das theorische Werk von Marx und Engels einzusteigen. Dabei wird sich erstaunlicherweise feststellen lassen, dass Engels "Anti-Dühring" immer noch höchst aktuell ist. Mensch nehme beispielsweise das IV. Kapitel "Verteilung" im III. Abschnitt "Sozialismus". Dort  heißt es über die Dühringsche Position in der Verteilungsfrage:

"In der Tat zeigte sich, daß Herr Dühring an der Produktionsweise - als solcher - der kapitalistischen Gesellschaft fast gar nichts auszusetzen hat, daß er die alte Teilung der Arbeit in allen wesentlichen Beziehungen beibehalten will, und daher auch über die Produktion innerhalb seiner Wirtschaftskommune kaum ein Wort zu sagen weiß. Die Produktion ist allerdings ein Gebiet, auf dem es sich um handfeste Tatsachen handelt, auf dem daher die »rationelle Phantasie« dem Flügelschlag ihrer freien Seele nur wenig Raum geben darf, weil die Gefahr der Blamage zu nahe liegt. Dagegen die Verteilung, die nach der Ansicht des Herrn Dühring ja gar nicht mit der Produktion zusammenhängt, die nach ihm nicht durch die Produktion, sondern durch einen reinen Willensakt bestimmt wird - die Verteilung ist das prädestinierte Feld seiner »sozialen Alchimisterei«."

In der Berliner Zeitung vom 1.Oktober 2016 wurde der SPD-Fraktionsvorsitzende Raed Saleh zu den anstehenden Koalitionsverhandlungen mit den Grünen und den Sozialdemokrat*innen von der Linkspartei befragt und räumte im Hinblick auf die soziale Situation in der Stadt unumwunden ein: "Die Spaltung besteht zwischen Arm und Reich". Es folgten Überlegungen, wie diese ungleiche Verteilung zu mildern sei und kündigte an, dass die SPD mit entsprechenden Vorschlägen in die Koalitionsverhandlungen einsteigen werde.

Am 10. September 2016 fand in Berlin eine mietenpolitische Demo statt, an dem auch - initiiert von vier linken Kleingruppen - der "Block der Mietrebell*innen" mitmachte. In deren Demoauswertung, die wir in dieser Ausgabe veröffentlichen, nennen sie als ihr stadtpolitisches Ziel "eine wirkliche Teilhabe an einer konkreten gesellschaftlichen Praxis als Lösung dieser strukturellen Bedrohung", womit  "die Angriffe vom Senat, Polizei, Spekulant*innen, Investor*innen und der Lagerindustrie" auf den Widerstand "rebellischer Kieze" gemeint sind. Außerdem sehen sich die Mietrebell*innen in der Pflicht, "jenseits von Parlamenten eine solidarische und antikapitalistische Antwort auf die Frage: “Wem gehört die Stadt?” zu formulieren".

In dieser Gemengelage von "linken" Schlagwörtern, steckt inhaltlich nichts, was mit der Kritik und Aufhebung der gegenwärtigen Produktion des gesellschaftlichen Reichtums und seiner Verteilung zutun hat, sondern sie ist nur Ausdruck von "sozialer Alchimisterei" und wirkt lediglich als Treibstoff, um weiterhin - wenn auch in stetig abnehmender Teilnehmer*innenzahl - das Anliegen nach gerechteren Preisen für Wohnraum auf die Straße zu tragen. Wenn auch die Produktions- und Eigentumsverhältnisse so bleiben wie sie sind, so reicht diese Praxis immerhin dazu, dem herrschenden Personal Berlins dienstbar Signale zu senden, dass sie die Menschen aus der "Stadt von Unten" nicht ganz vergessen, wenn es z.B. ums Wohnen geht.

In München fand im September 2016 eine Demo gegen Leerstand statt. Dem wohlwollenden  Bericht, der DKP-nahen Website kommunisten.de ist zu entnehmen, siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe, dass auf dieser Demo ebenfalls kein Interesse geäußert wurde, den Kapitalismus aufzuheben. Allerdings besaßen unsere dortigen sozialen Alchmist*innen nicht nur Schlagwörter, sondern auch ein Konzept um die Verteilungsfrage auf dem Gebiet des Wohnens gerechter zugestalten: nämlich durch Ausnutzung des Kapitalismus. Konzeptentwickler: das Miethäusersyndikat mit der GLS-Bank als Hausbank.

Linke Wohnungspolitik, die eine wenn auch begrenzte Verteilungsmächtigkeit besitzt, ist in der Geschichte der BRD kaum auffindbar und spätestens seit den 1990er Jahren nicht mehr vorhanden. Durch die jahrzehntelangen Prekarisierungsprozesse und die ausbleibende Formierung des BRD-Proletariats als politische Klasse fehlen den von Mietwucher und Wohnungsnot betroffenen Massen nicht nur die organisatorischen sondern vor allem die programmatischen Voraussetzungen. Das ist leider der traurige Subtext der Gemeinsamen Erklärung der Bewohner_innen des Vorderhauses der Rigaer 94. Sie wissen, daß sie in einer "Profitgesellschaft" zu leben, sehen sich als Protagonist*innen eines Kiezes, "der sich selbst verwalten will" und glauben allen Ernstes: "Solange keine Bullen im Kiez sind, gibt es hier ein angenehmes Zusammenleben ohne Angst."

Wenn das Kapitalverhältnis aufgehoben ist, endet die "Profitgesellschaft". Erst dann sind die Voraussetzungen für ein "angenehmes Zusammenleben" Aller gegeben. Solange das politische Denken allerdings nur bis zur Kiezgrenze reicht, fehlen wesentliche Voraussetzungen für eine antikapitalistische Politik, die mehr sein will als nur die eigene "Kiezorganisierung".

Selbst die Forderung "Kein SamaRiga-Carrée" erweist sich nur als der  hilflose Versuch, gegen die Auswüchse des Profitemachens mit Immobilien anzustinken, während das normale kapitalistische Profitemachen mit der Miete, die Basis solcher Spekulationen, ungeschoren davon kommt. Sich der "Belagerung und Zermürbungstaktik" drei Wochen lang entgegen zustellen war schließlich erfolgreich, weil ein bürgerliches Gericht den "Rigaer*innen" Recht gab. Kurzum: Die Seismografen funktionierten.

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Unter solchen ideologischen Voraussetzungen, dass bereits eine Gegenwehr gegen soziale Verwerfungen heute als links gilt, muss die Auffassung, dass die Geschichte im Kreis geht, plausibel erscheinen. Da aber offensichtlich gesellschaftliche Teilveränderungen nicht ausbleiben, legt sich nun der ideologische Fokus auf die Befindlichkeiten des Individuums. Hier interessieren dann nur noch sozialer Auf- und Abstieg verbunden mit der Frage: "Wer bin ich eigentlich?". Aktuelles Beispiel: Didier Eribons "Rückkehr nach Reims". Karl-Heinz Schubert hat das von der Jungen Welt wertgeschätzte Buch gelesen und kommt zu dem Ergebnis:

"Würde mensch aus der Perspektive der BRD-Parteienlandschaft dem Eribon mit Bezugnahme auf sein Rückkehr-Buch ein politisches Etikett verpassen, dann wäre er irgendwo zwischen  SPD und Grünen anzusiedeln."

Übrigens erwähnt Eribon in seinem Buch - völlig unkritisch - Nietzsches "Die Welt als Wille und Vorstellung" als ein zentral wichtiges Prüfungsthema auf seinem akademischen Weg nach oben. Dazu passend, aber mehr aus Zufall hatte sich die Redaktion entschieden, die Lukácsche Nietzsche Kritik in Auszügen in diese Ausgabe aufzunehmen. Und wie eine Paraphrase auf Schuberts Eribon-Kritik heißt es dort: "Instinktiv wissen die Philosophen, was sie zu verteidigen haben, und wo der Feind steht. Instinktiv fühlen sie die "gefährlichen" Tendenzen ihrer Zeit und versuchen, diese philosophisch zu bekämpfen...."

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Einen Monat keine Updates haben dazu geführt, dass die Oktober-Ausgabe thematisch außergewöhnlich breit aufstellt ist. Insbesondere hat uns Bernard Schmid mit zahlreichen Artikeln unterstützt, von denen wir vor allem seine Gabun-Berichte hervorheben wollen.

In der Vorbereitung unserer NaO-Blianz-Veranstaltung fehlte uns noch ein entsprechender Text der Gruppe Arbeiter*innen Macht, die zu den entscheidenden trotzkistischen Protagonist*innen des NaO-Projekts gehörte. Er wurde im September 2016 im Internet von ihnen veröffentlicht. Wir spiegeln ihn, denn wir stehen in der Vorbereitung der Veranstaltung, die Anfang November stattfinden wird. Alles weitere in den nächsten Updates dieser Ausgabe.

Unabhängig von diesem Arbeitsschwerpunkt verfolgen wir die Entwicklung anderer linker Organisationenen. Die MLPD hat rechtzeitig mit der Vorbereitung einer "internationalen Liste" begonnen, die an diesem Wochenende ihren Gründungskongress in Berlin durchführen wird. Auch zukünftig werden wir unsere Leser*innen darüber auf dem Laufenden halten.

Die DKP hat im Hinblick auf die kommenden Bundestagswahlen zur Zeit einige Unpässlichkeiten zu überwinden. So weigern sich die bayrischen Genoss*innen an den Bundestagswahlen teilzunehmen. Hier bricht der Fraktionismus offen aus, der seit dem 20.Parteitag seit 3 1/2 Jahren als Fraktionskampf schwelte. Nun soll im November Schluß damit sein, kündigt der Parteivorsitzende Köbele den Fraktionist*innen an. Wir sind gespannt.

Mit Tap's Thesen über "Linke und Volk" legen wir ein Papier vor, von dem wir glauben, dass es diskutiert gehört. Wir hoffen auf Stellungnahmen.

Karl-Heinz Schubert wird am Montag, den 17.10.2019 wegen der entsprechenden Nachfrage seinen medial gestützten Vortrag über den Maoismus und wie dieser nach Westberlin kam in der LUNTE, Weisestr. 53, 12049 Berlin  um 19.30 Uhr wiederholen. Ihr seid dazu herzlich eingeladen.

2. Oktober 2016